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Archiv - Art Box
Sonntag, 12. November 2006
ImageFranz Blauensteiner, Rezka Kanzian

Zen oder die Kunst Goethen gerecht zu werden: Ein Schauspieler-Paar lebt seit einem Jahrzehnt das Experiment vom eigenen Theater – und wagt sich jetzt mit Respekt und Frische an einen Stoff der Weltliteratur, um den große Häuser ängstlich einen Bogen schlagen.

„Am Schnittpunkt zwischen Tradition und Avantgarde" agiere das Werkraumtheater, sagt Rezka Kanzian. Schon als Jugendliche hat sie in Kärnten in einer renommierten slowenischen Theatergruppe gespielt, dann während ihres Volkskundestudiums in Graz eine freie slowenische Laien-Theatergruppe gegründet. „Dann wollte ich mich professionalisieren." Private Schauspielausbildungen bei Dunja Tot, ihrem jetzigen Partner Franz Blauensteiner und im Ausbildungszentrum für artistisches Theater folgten. Orientierung gaben ihr das Wiener Serapionstheater (das jetzige Odeon-Theater) und Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil, das sie während ihrer Arbeit als Au-pair in Paris erlebte.

1995 folgte die Gründung des Werkraumtheaters – „wir wollten einen theatralischen Freiraum schaffen", erzählt Franz Blauensteiner. „Ich hatte es satt, vom schwarzen Brett zu erfahren, was ich zu spielen habe." Zu diesem Zeitpunkt hatte er nicht nur eine Ausbildung als Elektromechaniker, eine Graduierung in Shotokan, ein Gesangstudium am Konservatorium inklusive Prüfungen für Operngesang, eine Schauspielausbildung und die Ordination zum Zenmönch hinter sich, sondern auch bereits 20 Jahre Berufserfahrung als Schauspieler. Blauensteiner hatte Nebenrollen am Burgtheater gespielt, war am Akademietheater engagiert gewesen, hatte am Wiener Schauspielhaus den Arthur in Genets „Balkon" und den König Ubu am Münchner TiK gespielt – und in „Kottan ermittelt"; er hatte vier Semester lang körperliche Gestaltung an der Grazer Hochschule für Musik und darstellende Kunst unterrichtet und war am Münchner Theater der Jugend und am Residenztheater aufgetreten, hatte gespielt, produziert und gecoacht.

Image Probenfoto zu Faust II, 1. Akt: Faust (Franz Blauensteiner). Mephista (Rezka Kanzian)

Abseits von Lobbyismus, Networking und „kreativwirtschaftlichem" Dumbing down. „Das Werkraumtheater war unser beider Versuch, nicht länger entfremdet arbeiten zu müssen", sagt Blauensteiner. „Seine Gründung war gleichzeitig auch ein politischer Akt", ergänzt Kanzian: „Wir wollten uns damit auch gesellschaftspolitisch wichtigen Themen stellen." Ganzheitliche, nicht entfremdete Arbeit am Theater heißt natürlich auch, bis zum Kostüm alles selbst zu machen – „aber davon bewegen wir uns gerade wieder ein bisschen weg und gehen wieder in Richtung mehr Spezialisierung".
Politisch sind die Stücke des Werkraumtheaters immer – aber deswegen um nichts weniger eine sinnliche Erfahrung; so etwa eine der jüngsten Produktionen, die moderne Orestie „Die Götter sind tot – es leben die Götter" (Uraufführung April 2005), eine Auseinandersetzung über das Thema „Macht und Gerechtigkeit" in einem Land, wo die Gerichte nicht mehr funktionieren und das Einzige, was zählt, die Lobby ist … Hier bestehen durchaus Verbindungen zum zeitgenössischen Kulturbetrieb und der freien Theaterszene: Wer erfolgreich sein will, tut gut daran permanent Kontakt zu potenten Fürsprechern zu halten. Das ist nicht unbedingt Sache der Werkraumtheater-Crew: „Ich hasse Lobbyismus", gesteht Kanzian freimütig, „ganz abgesehen davon, dass es nicht möglich ist, ernsthaft Theaterarbeit zu leisten und gleichzeitig Networking zu betreiben."
Das mag einer der Gründe dafür sein, wieso Stadt und Land dem Werkraumtheater trotz höchster Professionalität und gut besuchter Aufführungen Unterstützungen an der Wahrnehmbarkeitsgrenze gewähren. Der zweite Grund dafür liegt sicher in der unbeugsamen Haltung von Kanzian & Blauensteiner gegenüber den „kreativwirtschaftlichen Trends": „Weder das Wühlen in der Depression noch die zeitgenössische Spaßkultur werden den realen Verhältnissen gerecht – ohne sich dem Markt zu entziehen gibt es keine Entwicklung." Das stößt nicht immer auf Verständnis: Bei der von der Stadt Graz verordneten Evaluierung der freien Theaterszene fragte eine Mitarbeiterin des Evaluierungsteams bei der Durchsicht der Finanzen des Werkraumtheaters fassungslos: „Warum hören Sie nicht einfach auf, wenn Sie so wenig Geld bekommen?"

Image „Die Götter sind tot – es leben die Götter" (2005)

Von Harlekinen und Anarchisten. Dabei ist die Verbindung aus traditionellem Theater und avantgardistischen Elementen keineswegs unzugänglich – im Gegenteil: Die auf Figuren und Bauprinzipien der Commedia dell’Arte beruhenden Stücke wie „Arlecchino und Co" (2001) und „Das Schlamass‘l" (2006) demaskieren gesellschaftliche Verhältnisse auf anschauliche – manchmal durchaus grobe – Weise und zeigen auch Möglichkeiten des Widerstands. Einen herausragenden Platz nimmt das Dokumentarstück „Fall eines Anarchisten – Dr. Otto Gross" ein, das Blauensteiner für das Rahmenprogramm der Otto-Gross-Ausstellung des Grazer Stadtmuseums im Kulturhauptstadtjahr 2003 schrieb. Die Geschichte des die Fesseln bürgerlicher Sexualmoral sprengenden Originalgenies, das aufgrund seiner psychiatrischen und psychoanalytischen Ausbildung auch das theoretische Rüstzeug für die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen besaß und sich ohne Rücksicht auf Verluste gegen die totalitäre Ökonomisierung des menschlichen Wesens stemmte, war einer der ganz großen Erfolge des Werkraumtheaters.
Der heuer folgenden „Faust II"-Produktion, die ihre Uraufführung am 17. März im Grazer „Kristallwerk" erleben wird, darf zumindest ähnliche Resonanz vorausgesagt werden.

Die Antithese zur Impro-Show. Seit zwei Jahren beschäftigt sich Blauensteiner mit einem der spannendsten Stoffe der Weltliteratur, mit dem zweiten Teil des Dr. Faustus, ohne den der erste nichts anderes wäre als ein gut gemachtes bürgerliches Trauerspiel mit ein paar magischen Elementen. Sekundärliteratur wurde durchgeackert, die Gespräche Goethes mit Eckermann, um eine authentische Interpretation zu gewinnen – „am Anfang muss immer die Recherche stehen, die Annäherung an die Aussageabsicht des Autors durch die verschiedenen historischen und literaturwissenschaftlichen Quellen", sagt Blauensteiner. Impro-Show ist das keine, so viel ist klar – sondern eine Ernsthaftigkeit in der Auseinandersetzung mit dem Stoff, die großen Bühnen gut anstehen würde. Und die Proben zeigen: Hier wird großes Theater mit den beschränkten Mitteln der freien Szene auf eine kleine Bühne gebracht, ohne dass ein Quäntchen der Wirkungsabsicht verloren geht. Das ist zum einen zweifellos der klugen Entscheidung geschuldet, den Originaltext zwar zu kürzen und vorsichtig sprachliche Anachronismen zu entfernen, sich aber sonst keine Freiheiten damit zu erlauben. Zum Zweiten liegt es wohl auch an der schauspielerischen Brillanz der Mitwirkenden – an erster Stelle von

Mephista Rezka Kanzian und Faust Franz Blauensteiner, aber auch des restlichen Ensembles (Christine Scherzer, Thomas Bergner, Michael Spiess). Zum Dritten macht die Regie von Blauensteiner/Kanzian, die sich auf zurückhaltende Weise, aber eben doch aktueller technischer Hilfen bedient, einige Beschränkungen der kleinen Bühne wett. An allererster Stelle ist die Qualität der Produktion aber – und hier schließt sich der Kreis – auf das tiefe Verständnis für das Werk zurückzuführen, das sich das Ensemble erarbeitet hat.

Zenmeister Goethe. Nach den zwei Jahren Beschäftigung mit dem Stoff habe er, sagt Blauensteiner, keinen Hinweis für die Richtigkeit einer freimaurerisch-esoterischen, christlich-mystischen oder anderweitig transzendenten Interpretation des Faust gefunden – wie sie noch immer kursieren. „Wie später Sartre sagt Goethe eigentlich nichts anderes, als dass man kein erlösendes Wissen vermitteln kann: Weder durch Philosophie noch – wie der Helena-Handlungsstrang zeigt – durch Liebe oder Kunst." Und dass der aufgeklärte Goethe die Erlösung durch in den Himmel auffahrende Putten, die sich hinter dem Rücken des Unaussprechlichen handstreichartig der verkauften Seele bemächtigen, ernst gemeint haben könnte, ist schon allein deswegen unwahrscheinlich, weil die einschlägige Szene mehrfach ironisch gebrochen ist.
„Nein, was bleibt, ist: ,Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.‘ Das ist eine Aussage aus dem tiefsten Geist der Humanität – die auch von einem alten Zen-Meister stammen könnte", lächelt Blauensteiner. Und so
 dürfen wir uns auf eine Inszenierung freuen, die Faust II vom Kopf auf die Füße stellt.
Christian Stenner
Alle Fotos © Johannes Gellner

Produktionen des Werkraum-Theaters (Auswahl)
1995 Der Froschkönig - ein modernes Psychodrama für Kinder
1996 Kuge, Blumen der Leerheit – ein Solo zu dritt
Woman I – modernes No
1997 Woman II – modernes No
1998 Schubert – Report eines unvollendeten Lebens- eine dramatische Sinfonie
1999 Mediasokles – eine moderne Orestie
2000 Kinder des Olymp – Theaterstück
2001 Arlecchino & Co – Komödie
K’nampf – Komödie
2002 Arlecchino in Love – Burleske im Stil der Commedia dell’arte
Blanche & Noir – Clownerie´
2003 Fall eines Anarchisten – Dr. Otto Gross – Dokumentarstück
2004 Kinder des Olymp – Neubearbeitung
2005 Die Götter sind tot – Es leben die Götter – eine moderne Orestie
2006 Das Schlamass’l –eine Hausgemeinheit in 3 Aufzügen
2007 Faust II



  
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