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"Ausgesetzt"
Archiv - Kultur
Donnerstag, 7. September 2006
ImageChristian Teissl, Jahrgang 1979, notorischer Schreiber und Leser, Fußgänger, Südsteirer, Teilzeitgrazer, hat bislang vier Bücher zu verantworten.

Wieder und wieder höre und lese ich in letzter Zeit, es sei dringend geboten, in Graz etwas gegen die vielen Bettler zu unternehmen; ihre Gegenwart beeinträchtige das „Stadtgefühl“ vieler Menschen, man möge daher zumindest für den Bereich der Inneren Stadt ein Bettlerverbot erlassen (nach dem „Fürstenfelder Modell“, das allen voran Bürgermeister Nagl als vorbildlich empfindet).

Die zahlenden Touristen  – so lautet zwar nicht wörtlich, aber doch sinngemäß eines der Hauptargumente für den Erlass eines solchen Verbots – kommen schließlich und endlich nicht hierher, um auf Schritt und Tritt von zerlumptem Gesindel bedrängt und belästigt zu werden, und sie werden in zunehmendem Maß ausbleiben, wenn da nicht endlich „aufgeräumt“ werde.
Wirft man einen Blick auf die Homepage von „Tourismus Graz“ und sieht dort das Gästebuch durch, so stößt man auf den folgenden Eintrag:
„Reinhard, 17.05.2006: Diese Bettler in Graz sind lästig, frech und aggresiv! Graz soll eine Kulturstadt sein, daß ich nicht lache!! Punks und Bettler ein schönes Bild für Graz!! Diese Leute hat in Graz keiner im Griff!! Komme daher nie wieder nach Graz!!!“
Hiesige, die mit einer blühenden Phantasie begabt sind, suchen diese Tirade eines beleidigten Touristen noch zu steigern und zu überbieten und behaupten gar, die meisten derer, die tagein tagaus in den Gassen der Inneren Stadt sitzen und um Mitleid heischen, seien gar keine Bettler, sondern Mitglieder irgendeiner ominösen slowakischen Organisation, die im Verborgenen bleibt, die sie aussendet Morgen für Morgen, um sie dann abends, an einem vereinbarten Ort, wieder einzusammeln und ihnen die tagsüber erbettelten Gelder abzuknöpfen.
Fieberhaft sucht man nach Gründen und Rechtfertigungen, die Bettler „abzuschaffen“; erstaunlich rasch wird man fündig und ruft nach gesetzlichen Maßnahmen. Und im Nu findet sich der eine und andere Politiker rechts von der Mitte, der das Gerücht von den „organisierten Zigeunerbettlern“ dankbar aufgreift, um damit „Stimmung“ zu machen und Stimmen zu keilen. Wie sehr das schon gelungen ist und wie sehr aggressives Ressentiment – wieder einmal – Platz gegriffen hat, beweist ein Blick in das Online-„Gästebuch“ der Stadt Graz. „Einer der letzten Innenstadtbewohner“ (der sich selbst mit drei Rufzeichen schmückt) hat dort am 10. August 2006 seinem Zorn folgendermaßen Luft gemacht:
„Ich fordere ein sofortiges und umgehendes Verbot aller Strassenmusik in der Grazer Innenstadt (insbesondere Färberplatz, Mehlplatz, Glockenspielplatz). Dieses ewige Getrommel, Getöse und Geduddel ist unerträglich. Ein friedliches Zusammenleben in dicht besiedelten Gebieten ist nur möglich wenn die Freiheitsrechte der anderen respektiert werden. Genau dieser Sachverhalt ist aber in die Schädel der Zigeuner nicht reinzukriegen. Deswegen meine lapidare Forderung: Ungarn, Zigeuner und Jugos raus!!! - Tags darauf hat ein Anonymus diesen Appell aufgegriffen und dazu lapidar vermerkt: „Rauswerfen nicht, aber die Musik und das Betteln gehören ein für alle mal VERBOTEN.“

Die unverhüllte Armut darf – so der Tenor – in einer ansichtskartengerechten Stadt nicht geduldet werden; sie wirkt sich störend auf den Geschäftsgang der einen und die Freizeitbeschäftigung der anderen  aus; sie wird als eine offene Wunde empfunden, und wenn sie sich schon nicht und nicht schließen, wenn sie schon nicht und nicht zuheilen will, dann muss sie eben kaschiert, muss sie ausgeblendet werden, mit allen zu Gebote stehenden, mehr oder weniger legalen Mitteln. –
Viele Tabus sind gebrochen worden in den letzten Jahren und Jahrzehnten; gleichzeitig sind, nach und nach und oft lange Zeit unbemerkt, etliche neue entstanden. Zu einem der größten und widerstandsfähigsten Tabus scheint inzwischen die Armut geworden zu sein.  Wenn man von ihr betroffen ist – und immer mehr Menschen sind es –, so ist man gut beraten, sie nach Möglichkeit für sich zu behalten. Man scheint, so oder so, als ein bestimmter Wert in einer Statistik auf, doch Statistiken empören kaum jemanden, lassen jede erdenkliche Distanzierung zu und werden außerdem gedreht und gewendet, manipuliert und beschönigt je nach Bedarf. Zahlen, aneinander gereiht oder gegeneinander gestellt, bleiben immer gesichtslos; sie verderben niemandem sein „Stadtgefühl“ oder seine sonstigen Anwandlungen und Stimmungen. Die Gesichter sind es, die gezeichneten, verlebten, zerstörten Gesichter, die vielen so empörend, so unzumutbar erscheinen.   
Wer sich auf die Straße setzt, wer sich buchstäblich aussetzt, den Blicken und Launen der vielen verschiedenen Menschen aussetzt, die an ihm vorübergehen und ihn keinesfalls als ein souveränes Subjekt wahrzunehmen imstande sind, als ein Ich, das handelt und plant und sich artikuliert, sondern nur mehr als einen Gegen-Stand, einen Wider-Stand auf dem Weg,  der hat nichts mehr, hinter dem er seine Armut verstecken könnte. Folglich gilt er als vollkommen „schamlos“, als im Wortsinn „unverschämt“. Die einen schämen sich für ihn und werfen aus Scham ein paar Münzen in die aufgehaltene Hand (nicht aus Mitgefühl, nicht aus Empathie oder gar Sympathie, sondern schlichtweg aus Scham); die anderen strafen ihn für seine Schamlosigkeit mit ihrer Ignoranz – und diese zählt zweifellos zu den brutalsten Formen von Aggression. Ist es aber nicht Scham und nicht Ignoranz, dann ist es Hass, womit der immer eilige, gehetzte Stadtbewohner die bettelnde Geste quittiert. Dabei schwadroniert man vom „beeinträchtigten Stadtgefühl“ und von Kriminalität und davon, dass die Bettlerpose in zwei von drei Fällen eben nur Pose sei; erfindet hunderterlei Ausreden und Pseudo-Rechtfertigungen, nur um nicht zugeben zu müssen, dass es in letzter Konsequenz blanker Hass ist, den man jenen gegenüber empfindet, die auf der Straße sitzen (statt ein paar Schritte weiter in einem der schönen Gastgärten).
Die wesentliche Aufgabe müsste daher wohl weniger darin bestehen, die Passanten vor der Zudringlichkeit der Bettler, sondern vielmehr darin, die Bettler vor Übergriffen durch Passanten zu schützen. Das mag wie ein leichtfertig hingeworfener Sarkasmus klingen, und doch sind es alltägliche Wahrnehmungen, eigene und die von anderen, die mich zu einem solchen Befund gelangen lassen; Wahrnehmungen etwa wie die folgende:
Eine Gruppe von Jugendlichen geht durch die Innere Stadt. Sie kommt an einem Bettler vorbei, der, an eine Hauswand gelehnt, am Straßenrand sitzt, in abgerissener Kleidung. Seinen Hut hat er neben sich hingesetzt; einer der Jugendlichen kickt ihn ganz beiläufig mit seinem rechten Fuß weg, und die wenigen Münzen, die sich in ihm angesammelt haben, kollern auf das Pflaster. - Dann gehen sie, ohne ein Wort zu sagen, als wäre etwas Selbstverständliches geschehen, seelenruhig ihres Weges.

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