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Geschafft, Imre! - Der ungarische Aufstand vor 50 Jahren – Imre Horváths Flucht und Leben
Archiv - Kultur
Donnerstag, 7. September 2006
ImageAls Imre Horváth im Juni dieses Jahres wenige Monate nach seinem 80. Geburtstag am Grazer Zentralfriedhof zur Einäscherung verabschiedet wurde, standen zwar mehr Menschen an seinem Sarg, als er es selbst wahrscheinlich vermutet hätte.
Aber die so genannte Öffentlichkeit nahm davon keine Notiz. Kein Medienvertreter war anwesend. Kein Zeitungsreporter, kein Fernsehen, kein Funktionär. Das war 50 Jahre zuvor ganz anders. Das damalige Massenblatt „Der Obersteirer“ berichtete mit Foto  in großer Aufmachung über den eben aus Ungarn Geflüchteten. Ähnlich die Grazer „Kleine Zeitung“. Die noch in den Anfängen steckende größte deutsche Illustrierte „Stern“ brachte ein riesiges Foto Imre Horváths aus dem Lager für Ungarnflüchtlinge in Kapfenberg, wo er für kurze Zeit untergekommen war. Und in New York belagerten US-Journalisten vor der UNO den ungarischen Außenminister mit der Frage nach eben diesem in der Steiermark gestrandeten ungarischen Flüchtling.

ImageDer 13-jährige Imre Horváth 1939 in Russland (rechts), 3 Jahre später verteidigte er Moskau gegen die Hitlerarmee


Flucht. Es war ein kalter Novembertag des Jahres 1956. Zusammen mit tausenden Ungarinnen und Ungarn war Imre Horváth aufgebrochen und irrte an der Westgrenze Ungarns durch die Nacht. Seinen vierjährigen Sohn am Arm, manchmal auf den Schultern tragend. Irgendwann sahen sie eine beleuchtete Kirchturmuhr, die noch dazu funktionierte. Da wussten sie, dass sie es nach Österreich geschafft hatten. „Das hat es in Ungarn nicht gegeben.“ Im Unterschied zu den meisten damaligen Ungarn hatte Imre kein zwiespältiges Verhältnis zu Österreich. Die Ungarn sahen in den Österreichern noch immer vor allem Ungarns „Erbfeind“, für den sie allenfalls die zweite Geige spielen durften, aber nicht gleichberechtigt waren. Nun flüchteten Tausende und Abertausende zu den „lábanc“ – ein Ausdruck, der mit unserem „Piefke“ vergleichbar ist. Dieses Ressentiment war Imre fremd. Er wollte nur weg. Aus Budapest, aus Ungarn, aus den familiären und persönlichen Verstrickungen. Die keine Zukunft für einen aufrechten Gang durchs Leben boten. Den er nicht zuletzt seinem Sohn ermöglichen wollte. Von dessen Mutter er damals schon getrennt gelebt hatte. Und mit ihm kamen bis Ende des Jahres 1956 allein in die Steiermark 16.000 ungarische Flüchtlinge.
Ein Jahr zuvor hatte sich Österreich nach dem Abzug der Besatzungstruppen als neutrales Land erklärt, das keinem der beiden Militärblöcke, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg gebildet hatten, angehören wollte. Das war Imre sympathisch. Und genau das war Ungarn gerade verwehrt worden. Durch die Niederschlagung des Aufstands und den Sturz der Regierung von Imre Nagy. Der war zwar schon seit 1953 kommunistischer Ministerpräsident gewesen, aber 1955 durch den Konkurrenten Rákosi abgesetzt worden. Nun wurde Nagy am 24. Oktober 1956 mit Zustimmung der sowjetischen Führung wieder installiert. Tags zuvor hatten die Budapester Studenten den Startschuss zum Volksaufstand gegeben. Zu einer ersten Massendemonstration war es bereits am 6. Oktober beim nachträglichen Staatsbegräbnis für den 1949 hingerichteten Außenminister László Rajk und andere rehabilitierte Opfer des Stalinismus gekommen. Allerdings war die Staatsführung ebenso gespalten und gelähmt wie die Führung der Kommunistischen Partei. In den Betrieben konstituierten sich unabhängige Arbeiterräte, die auch die Betriebsführung in die Hand nahmen. In den Gemeinden und Bezirken bildeten sich Revolutionsausschüsse. Die Regierung Nagy übernahm die Forderung der Aufständischen nach Abzug der sowjetischen Truppen und Reformen. Und über eine Woche schwankte der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow zwischen Unterdrückung und Rückzug, dreimal änderte er seine Meinung, wie 1996 veröffentlichte Dokumente der KPdSU belegen. Als dann Briten, Franzosen (und teilweise auch Israelis) beginnend am 29. Oktober gemeinsam Ägypten angriffen und am 31. Oktober Kairo bombardierten, um den von Präsident Gamal Abd el-Nasser verstaatlichten Suezkanal zu besetzen, entschied sich Chruschtschow für die Intervention. Nicht nur Kalter Krieg also auch hier. Der ursprünglich auf Seiten von Imre Nagy gegen die Stalinisten inthronisierte Parteichef Kadar lavierte sich mit „Verständnis“ für den Aufstand auf die Seite der Sowjetunion, wobei er sich gravierende Fälle von Lynchjustiz der Aufständischen zu Nutze machen konnte. Faschistische Ausläufer der Pfeilkreuzler und antisemitische Hetzer hatten versucht, ihre eigene Suppe zu kochen. Aber, wie der Schriftsteller István Eörsi in den 90er-Jahren schrieb: „Wäre jemand zu den Arbeitern gekommen und hätte sich als Kommunist vorgestellt, dann wäre er höflich, aber bestimmt hinauskomplimentiert worden. Wäre aber jemand gekommen, der gesagt hätte, das ist meine Fabrik und ich möchte sie zurückhaben, er wäre direkt durch das Fenster hinausgeworfen worden.“

ImageSeptember 1957: Imre mit seinem 5-jährigen Sohn Sándor in Kapfenberg beim Spielen

Moskau. Nach sieben Tagen war der Aufstand niedergeschlagen. Die Bilanz: 2700 Tote, die in den Kämpfen fielen, danach noch rund 300 Opfer von Hinrichtungen. Während Imre Horváth an den Versammlungen und Demonstrationen teilnahm, wurde sein Sohn Sándor von seiner Großmutter behütet. Dort holte ihn Imre dann unter einem Vorwand ab und verschwand. Erst nach Wochen erfuhr die Mutter Imres über das Schicksal ihres Sohnes und ihres Enkels. Und war wütend. Ihr so was anzutun! Den Enkel zu entführen! Und zu kapitulieren. Imre hätte sich ein Beispiel nehmen sollen! Und durchhalten! Wie sie selbst von Anbeginn. 1920 war sie nach der Niederlage der ungarischen Räterepublik Bela Kuns in die Sowjetunion geflüchtet. Gemeinsam mit ihrem Mann, Imres Vater gleichen Namens. Ebenfalls geflüchteter ungarischer Revolutionär. Aber es war weniger Ehe als Zweckgemeinschaft. Und der 1926 geborene Sohn sollte den Sozialismus in Russland aufbauen helfen. Sein Vater diente einstweilen der Revolution. Oder den revolutionären Plänen der Kommunistischen Internationale. Und meldete sich Anfang der 30er-Jahre freiwillig zur Widerstandsarbeit im faschistischen Ungarn des Admirals Horty. („Komisch, oder?“, pflegte Imre junior später manchmal zu sagen: „Ein Land ohne Meer mit einem Admiral als Führer!“) 1934 wurde er verhaftet und verschwand für 10 Jahre im berüchtigten Gefängnis von Szeged. Und über die Mutter berichtete ein ungarischer Freund Imres: „Mitte der 30er-Jahre, nachdem die Hetzjagd auch auf ungarische Kommunisten in der UdSSR begonnen hatte, fragte sie in einem Brief an den Moskauer Parteisekretär nach Verschwundenen. Keine Antwort. Eine zweiter Brief. Dann kam die ‚Antwort‘: Sie verlor ihre Arbeit in einem Moskauer Waisenheim. Bittere Armut trieb sie zur Müllkippe. Ihren zehnjährigen Sohn brachte sie in ein staatliches Waisenhaus, wo er zumindest nicht vor Hunger sterben würde. Dort lernte er seinen Beruf: Maschinenschlosser.“ So gehörte er dann zu jenen, die Moskau gegen die Belagerung durch die Hitlerarmee verteidigen halfen. Als knapp Sechzehnjähriger. Und schon in den ersten Wochen, als die Lage fast aussichtslos schien. Einem Freund aus Ungarn, der seit 50 Jahren in Österreich lebt, erzählte er später mit einer Geste des Fingerabschleckens und mit Zungenschmatzen von einem Festschmaus im von den Deutschen belagerten Moskau. Dieser Festschmaus bestand aus von einem Eisenbahnwaggonlager geklauten Schmierfett und Kartoffelschalen. Oder: Es wurde Tee gekocht und sie schlürften den heißen Tee an einem Tisch, über dem in der Mitte ein Stück Zucker aufgehängt war, zum Anschauen, was beim Teetrinken den nichtvorhandenen Süßstoff ersetzen musste. Und er behauptete, dass ihm der Tee tatsächlich süß vorkam.
Bei einem Bombenangriff wurde Imre verletzt und bekam Sprachschwierigkeiten. Um diese zu beheben, wurde er in eine Sonderschule geschickt, mit nur etwa zehn Schülern in der Klasse. Alle stotterten schwer. Und mit einer für Imre typischen Mischung aus Witz und Sarkasmus erzählte er später, dass sie anfangs mehr als zwei Stunden brauchten, bis jeder sich jedem vorgestellt hatte. Wer jemals später das Glück hatte, Imre Horváth kennen zu lernen, der wusste, dass diese Jahre in Russland ihn grundlegend geprägt haben. Seinen Humor auch in aussichtsloser Lage nicht zu verlieren, seine Hochachtung vor einfachen Menschen, seine Liebe zur russischen Kultur und seine Offenheit und Neugier anderen Menschen und vor allem Kindern gegenüber – jeder seiner Bekannten oder Freunde wusste Geschichten darüber zu erzählen. „Ich verdanke nur Imre, dass ich die Russen nicht hasse“, bemerkte einer seiner engsten ungarischen Freunde nach der Trauerfeier am Zentralfriedhof.

ImageAls Werkzeugtechnik-Gruppenleiter 1970 bei Anker (3.v.l.): Der Betrieb in der Moserhofgasse war von Ende der 60er- bis Ende der 70er-Jahre Imre Horváths Arbeitgeber in Graz

Budapest. Nach dem Sieg über Deutschland ging es mit der Mutter zurück nach Ungarn. Nach Budapest. Aber das war nicht selbstverständlich. Vor allem für Imre. Denn der konnte kaum Ungarisch. Und über das Schicksal des Vaters war zunächst nichts bekannt. Also Ungarisch lernen. Und so kam es, dass er am Ende seines Lebens drei Sprachen sprach, aber alle mit Akzent. Russisch mit ungarischem, Ungarisch mit russischem und Deutsch mit ungarischem Akzent. In Budapest nützte ihm die Parteivergangenheit seiner Eltern nichts. Seine Mutter hatte die ihr von der Partei angebotene Dreizimmerwohnung abgelehnt und auf „bedürftigere Leute“ verwiesen. Und ihre Bescheidenheit hatte sich auf Imre übertragen. Immer war er materiell mit wenigem, meist mit dem Notwendigsten zufrieden. Unzählige Geschichten mit typischer Imre-Komik wurden erzählt. Zum Beispiel von einem Freund, der ihn in den 50er-Jahren in Budapest auf der Straße traf: „Glücklich spazierte er mit einem großen Radio daher. Er teilte mir mit, dass seine Schwiegermutter im Nebenzimmer wohne und ‚alles‘ hören könne. Deswegen brauchte er das Radio. Er drehe es jetzt laut auf, damit sie ‚nichts‘ hören kann. Bald danach wurde Imres größte Freude Sándor geboren.“
Imres Vater hingegen interessierte sich für seinen Sohn kaum. Und finanziell gab es keine Unterstützung, um etwa statt der selbstfinanzierten Abendkurse ein Studium beginnen zu können. „Ein echter proletarischer Revolutionär hat sich auf sich selbst gestellt zu bewähren.“ Oder so ähnlich. So schlug er sich, zwischen alle Stühle geraten, bis zum Oktoberaufstand durchs Leben. Und sein Sohn Sándor wurde mehr und mehr zum Mittelpunkt. Welche Sensation damals, als er als Flüchtling in der Steiermark ankam, als alleinerziehender Vater. Und es fehlte nicht an gutgemeinten Ratschlägen und Empfehlungen, die ihm sofort die eine oder andere Ehefrau „und Mutter“ schmackhaft machen wollte. Aber Imre ging seinen eigenen Weg. Nachdem er zunächst im Flüchtlingslager gelandet war, konnte er seinen Sohn bald im St. Josefs-Kloster der Franziskanerinnen im Schloss Stubenberg unterbringen. (1979 wurde dieses Kloster geschlossen, das Schloss ist heute ein Privathotel und dient als Zentrum für allerlei Veranstaltungen.)

Image1981 im Messraum der Firma Puch (rechts): Nach dem Konkurs von Anker-Datentechnik kam Imre Ende der 70er wieder bei Steyr-Daimler-Puch unter, wo er bereits bis 1967 gearbeitet hatte

Plötzliche Berühmtheit. Aber woher kam die plötzliche Berühmtheit dieses Imre Horváth? Nicht er selbst hat es ausgeplaudert, sondern die Personalienprüfer im Lager flüsterten es den Medien: Er war der Sohn des gleichnamigen Außenministers der am 4. November 1956 proklamierten Kadar-Regierung. (Am selben Tag hatte sich Imre Nagy in die jugoslawische Botschaft geflüchtet.) Was für ein Fressen für die hiesigen Medien! Aber lassen wir Imres Freund Miska erzählen:
„Die ‚ungarische Situation‘ stand auf der Tagesordnung der Vereinten Nationen. Ungarn war repräsentiert nicht von irgendjemand, sondern von einem professionellen Diplomaten, dem Außenminister Horváth Imre. Penetrante Reporter umgaben ihn nach einer ermüdenden Sitzung:
-    Herr Horváth, haben Sie einen Sohn?
-    Ja.
-    Wo ist er im Augenblick?
-    In Budapest.
-    Haben Sie einen Enkel?
-    Und wo ist er?
-    In Budapest.
-    Falsch, Herr Horváth. Ihr Sohn und Ihr Enkel sind in Österreich.

Und sie spielten ihm ein Interview seines Sohnes mit dem Österreichischen Rundfunk vor.“
Aber Imre empfand nicht nur Verachtung für seinen Vater. Lassen wir wieder seinen Freund Miska sprechen: „Sein Vater war auch ein Held in Imres Augen. 1944 verschleppten ihn die Deutschen direkt aus dem Horthy-Gefängnis nach Dachau. Als die US-Armee näher rückte, mussten tausende Gefangene ihr eigenes Grab schaufeln. Ein Kugelhagel prasselte auf die in der Reihe Stehenden. Und hastig floh die SS. Horváth senior überlebte mit einer zerschmetterten linken Schulter.“ – So scheint glaubwürdig, was Imres Freund Sándor Szokodi aus Budapest vor zehn Jahren erzählte, wonach „einige amerikanische Journalisten den Flüchtling im Kapfenberger Flüchtlingslager überreden wollten, nach New York zu reisen und seinem Vater ins Gesicht zu sagen, dass er lüge. Und sie boten ihm viel Geld an. Imre aber ging darauf nicht ein. ‚Ich verstehe mich mit meinem Vater überhaupt nicht, ich werde ihn aber nicht öffentlich beschämen und in Verlegenheit bringen.‘ Das war ein für Imre typischer menschlicher Akt.“

ImageIm Februar 1996 mit Sohn Sandor

Heimisch werden in Graz. In mancher Hinsicht hatten es Flüchtlinge in Österreich vor fünfzig Jahren leichter als heute: Sie durften arbeiten. „Schwarz“ zwar. Aber nicht begleitet von dämlicher Propaganda über angeblichen Steuerbetrug. Und kein Finanzamt schickte Spione aus. Aber es war natürlich schlecht bezahlte Schwerarbeit. Und mangels Technisierung vielleicht auch häufiger verfügbar als heute. „Eine dieser Arbeiten war das Holzverladen in Eisenbahnwaggons“, erzählt ein Schicksalsgenosse von damals. „Egal, ob ein saukalter Wintertag war oder ein Sommertag mit sengender Hitze, Imre war dabei und arbeitete unermüdlich, manchmal für zwei. Wir, Imre und ich, haben gemeinsam mit Sicherheit mehr als 100 Waggons beladen.“ Und auch beim Be- und Entladen von Kohle war Imre zur Stelle.
Und noch etwas: Im Unterschied zu heute gab es Stipendien für begabte Flüchtlinge. Zusammen mit mehreren anderen erhielt Imre bald eines der „Rockefeller Foundation“ und begann ein Maschinenbaustudium an der Grazer Technik. Und wurde ein noch leidenschaftlicherer Kinogeher, als er es ohnehin schon war. Sein Freund Fábián László erzählte anlässlich Imres 70. Geburtstags: „An einem Herbstabend im Jahre 1958 waren wir mit unseren alten Drahteseln ins Unionkino in der Keplerstraße unterwegs. Die Wochenschau lief bereits, als wir unsere Plätze einnahmen. Dann der Hauptfilm: ‚Sissi. Schicksalsjahre einer Kaiserin.‘ Mit Romy Schneider. Als etwa in der Mitte des Films der Leibgardist der Kaiserin (Josef Meinrad) mit einem hübschen ungarischen Mädchen tanzte, sprang Imre auf, als hätte man ihn gezwickt, und schrie: ‚Das ist meine Ex-Frau! Da tanzt sie mit diesem Taugenichts!‘ Er war sehr aufgebracht und nur sehr schwer zu beruhigen. ‚Diese Ica, die Mutter von Sándor!‘, schimpfte er noch nach dem Film.“ Sie war es wirklich.

ImageMit Autor Karl Wimmler beim 80. Geburtstag im Februar 2006 (Foto: Elke Domej)

Puch – Anker – Puch. Obwohl Imre mit dem Studium schon ziemlich fortgeschritten war, wurde ihm die Dreifachbelastung Studium, Nebenjob, Sohn zum Verhängnis. Und er entschied sich für den Sohn, gab das Studium auf und begann 1960 bei Puch am Fließband zu arbeiten. Fahrradproduktion. Nach einiger Zeit wurde er zum Werkzeugmacher befördert und zahlte eine Eigentumswohnung an. Beziehungsweise das, was er noch knapp vor seinem Tod mit Verweis auf seine Jugend als „großzügige Wohnung“ bezeichnete: Ein Zimmer mit Miniküche und ohne Heizung in einem Steyr-Daimler-Puch-Siedlungshaus in Liebenau. Und er brachte seinen Sohn nach Absolvierung der Volksschule im Gymnasium mit angeschlossener Heimbetreuung in Liebenau unter. 1967, beim ersten gröberen Konjunktureinbruch nach dem Krieg, gehörte er zu den ersten Gekündigten. Einige Monate Arbeitslosigkeit, die ihn zwar trafen, die er aber zu nützen wusste. Für seinen Sohn und für sein Hobby: Die Suche nach Erkenntnissen, hauptsächlich technischer und naturwissenschaftlicher, aber auch philosophischer Natur. Schon seit jeher war er aufmerksamer und kritischer Radiohörer. Jetzt konnte er Wichtiges festhalten. Auf seinem neuen, sauteuren Tonband. Vielleicht umschreibt es seinen wachen Geist am besten, wenn einige Themen seiner letzten Lebenstage im Frühsommer des heurigen Jahres genannt werden: Stephen Hawking: Das Universum in der Nussschale./ Die Welt des Kapitalismus./ Ungarn 1956./ Was Einstein noch nicht wusste.
Bei Anker in der Moserhofgasse fand Imre schließlich wieder Arbeit als Werkzeugtechnik-Gruppenleiter. Anker-Datentechnik, damals ein Großbetrieb, der in den 70er-Jahren groß in Wetzelsdorf ausbaute und dorthin übersiedelte, wovon heute noch die Ankerstraße zeugt. Und heute Leykam beherbergt. Denn das Unternehmen hatte den Sprung von der mechanischen zur elektronischen Datentechnik verschlafen und musste Konkurs anmelden. Bis heute verblieb unter demselben Namen ein Mittelbetrieb, nun wieder in der Moserhofgasse, mit einem gänzlich anderen Geschäftsfeld. Und Imre Horváth war wieder arbeitslos. Dafür expandierte damals gerade Steyr-Daimler-Puch. Und mithilfe von Arbeitskollegen aus beiden Firmen kam er Ende der 70er dort wieder unter.
Aber nicht mehr für lange. 1983, Herzinfarkt, drei Bypässe. Und sein Hausarzt bestand darauf: Pension. Das war damals noch möglich. Heute hätte Imre damit keine Chance mehr. Die „Frühpension wegen verminderter Arbeitsfähigkeit“ ist abgeschafft, und bei den üblichen Kriterien für eine Invaliditätspension wäre ein „medizinisch geheilter“ Herzinfarkt kein Pensionierungsgrund. Für einen 58-Jährigen noch dazu. Kein Problem, damit bis 65 zu arbeiten, diagnostizieren die begutachtenden Sachverständigen heutzutage. Damals konnte Imre nach der Pensionierung mehr auf seine Gesundheit achten und seinen Interessen nachgehen. Neben allerlei nützlichen und präzisen Basteleien (nicht nur für sich selbst) war es vor allem das Sammeln und Festhalten von Erkenntnissen, Wahrheiten und Einsichten. Allein an von ihm aufgenommenen Audiokassetten hinterließ er eine Gesamtspieldauer von zwei Monaten. Und eine Ummenge von Videos, die in den letzten beiden Jahrzehnten dazukamen. An alle Wände seines Zimmers geschlichtet und akribisch geordnet. Und an diesen ist auch ablesbar: So sehr er sich in Österreich und Graz auch zuhause fühlte (1968 erhielt er auch auf dem Papier die österreichische Staatsbürgerschaft), so fand er sich bis zuletzt allen seinen drei Ländern zugehörig: Russland, Ungarn und Österreich. „Aber manchmal auch keinem“, wie sein Sohn Sándor nicht vergisst hinzuzufügen. Denn er behielt bis zuletzt die Fähigkeit, nicht eindimensional zu denken, sondern in Widersprüchen. Deswegen war für ihn die Politik zwar bedeutsam, interessant und zu beachten, aber zugleich „alles Kabarett“. Und deshalb plante er zwar anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums des Ungarn-Aufstands eine historisch-politische Retrospektive, aber viele freuten sich darauf auch, weil er den traurigsten und schlimmsten Geschehnissen der Weltgeschichte auch die komischsten und absurdesten Seiten abgewinnen konnte. „Ja, schon komisch, oder?“ bekannte er mit ernster Miene bei der letzten Grazer Gemeinderatswahl zum Beispiel. „Dass grad ich einmal im Ernst überlege, die Kommunisten zu wählen, wer hätte das vor fünfzig Jahren gedacht! Aber was soll ich machen bei dieser Auswahl?!“
Imre Horváth war ein völlig unpathetischer Mensch. Was er am wenigsten wollte, war seinetwegen Aufhebens zu machen oder zu verursachen. Wahrscheinlich hätte er nach seinem schnellen Tod nur noch sagen mögen: „Noja, geschafft, Imre! Auch das.“ Aber vielleicht ist nicht zuletzt auch deshalb gerade seinetwegen Pathos angebracht. Man frage seine ehemaligen Kollegen, Nachbarn, Freunde, Bekannten: Ein großer Mensch, ein bedeutender Grazer ist nicht mehr!

Karl Wimmler


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