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Sozialstaat reloaded
Archiv - KORSO Sozial FORUM - Schwerpunkt: Sozialstaat
Donnerstag, 1. Juni 2006
ImageDie herrschende neoliberale Politik steckt europaweit in einer Legitimationskrise: Einseitige Orientierung auf Währungsstabilität, Inflationsbekämpfung und den Export, Senkung der Sozialausgaben und der Staatsquote im Allgemeinen, Privatisierung, Senkung der Unternehmenssteuern bei gleichzeitigem Lohnverzicht … all das hat weder das versprochene Wachstum noch einen Rückgang der Arbeitslosigkeit gebracht. Kein Wunder, sagen die Verfechter einer nachfrageorientierten, sozial abgefederten Wirtschaftspolitik: Nur ein funktionierender, finanziell gut ausgestatteter Sozialstaat kann durch Umverteilung den Konsum stimulieren und gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft durch entsprechende Investitionen in Bildung und Forschung aufrechterhalten.

ImageWirtschaftsforscher Mag. Alois Guger: „Umverteilung führt gesamtgesellschaftlich gesehen zu höherer Kaufkraft, damit zu höherer Kapazitätsauslastung und zu mehr Investitionen."

Manchmal lohnt es sich, in älteren Zeitungen zu blättern. In der Neuen Zürcher Zeitung vom 14. April 2004 findet sich zum Beispiel ein Interview mit dem Finanzminister eines kleinen europäischen Staates. Karl-Heinz Grasser gibt da neben anderen Ungereimtheiten auf die Frage, ob er mit seinem Modell der Steuersenkungen für Unternehmen nicht die Last auf die Massensteuern verlagere, Folgendes von sich: „Ausgabenseitig das Sozialprodukt um 4 bis 5% zu senken heißt den Wohlfahrtsstaat zu reformieren." Und auf die Nachfrage der Interviewer: „War so viel Speck im System drin?" erklärt der österreichische Säckelwart: „Österreich war in Richtung der skandinavischen Staaten unterwegs. Nun zeigen Finnland, Schweden oder Dänemark, dass man gute ökonomische Eckdatenhaben kann und trotzdem eine hohe Staatsquote. Aber ich bin überzeugt, dass diese Modelle in einer schnelllebigen Weltwirtschaft scheitern." (Wofür heute, nach zwei Jahren, der Beweis noch aussteht). Auf die impertinente Gegenfrage der NZZ-Journalisten: „Laut PISA-Studie sind die finnischen Schüler aber klüger, und Nokia wird auch nicht in Österreich hergestellt" verfängt sich Grasser endgültig in seinen eigenen schwächlichen Argumenten: „Einverstanden. Das zeigt ja, dass es sinnvoll ist, den Schwerpunkt staatlicher Förderungen in der Bildung, der Forschung und Entwicklung zu setzen. Die Frage ist, wo Finnland stünde, wenn es eine viel niedrigere Abgabenquote und ein liberaleres Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell hätte."

Erfolgsrezept Sozialstaat. Wir dürfen vermuten: Dort, wo alle Länder stehen, die sich dem neoliberalen Modell des Kaputtsparens sozialstaatlicher Leistungen verschrieben haben – bei niedrigen Wachstums- und hohen Arbeitslosenraten und zunehmender gesellschaftlicher Ungleichheit. Aber zitieren wir diesbezüglich eine unverdächtige Quelle, das österreichische Wirtschaftsmagazin „Gewinn" vom Mai 2006: „Wenig Korruption, ein starker privater Konsum und eine gleichmäßige Einkommensverteilung infolge der hohen Staats- und Steuerquote sind das langjährige Erfolgsrezept der nordischen Staaten. […] Bezieht man die Sozialversicherung mit ein, liegt die Staatsquote von Schweden und Dänemark bei 50 Prozent (verglichen mit 36,2 Prozent in Deutschland). Dies stellt jedoch kein Hindernis für das Wirtschaftswachstum dar – im Gegenteil, die staatliche Förderung von Innovationen und ein starker Inlandsabsatzmarkt machen die skandinavischen Länder zu lukrativen Standorten, aus denen Unternehmensgiganten wie Nokia und Ericsson hervorgingen. So haben die skandinavischen Länder im nach Bevölkerung gewichteten Mittel allein in den fünf Jahren seit 2000 ein kumuliertes Wachstumsplus der Binnennachfrage von zwölf Prozent gegenüber Deutschland erzielt und auch in den Jahren 2005 und 2006 wächst die Wirtschaft der nordischen Staaten laut Schätzungen der Wirtschaftsforscher um das Zweifache Ausmaß der Euro-Zone." Stehen wir nach den bleiernen Jahrzehnten von Reagonomics, Thatcherism, Blairism, Schröder-Hartz’scher Arbeitslosenhatz und schwarz-blau-oranger Privatisierungswellen, Einsparung von Sozialleistungen, reiner Exportorientierung bei sträflicher Missachtung des Inlandskonsums vor einer Wiederentdeckung nachfrageorientierter, keynesianisch inspirierter Wirtschaftspolitik und der Segnungen des Wohlfahrtsstaates?

Umverteilung nützt auch der Wirtschaft. Der Wiener Wirtschaftsforscher Mag. Alois Guger klagt an: „Erst seit im Namen der Globalisierung Lohnzurückhaltung und der Rückbau des Sozialstaats auf der wirtschaftspolitischen Agenda steht, stockt der Wachstumsmotor, sinkt die Lohnquote und steigt die Arbeitslosigkeit." Denn die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen sichern durch Umverteilung nicht nur Einkommen und Teilhabe an der Gesellschaft für all jene, die von Arbeitslosigkeit oder Krankheit betroffen sind oder wegen ihres Alters aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen. Sie erhalten auch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, weil sie Kaufkraft umverteilen: Weg von Haushalten mit hohem Einkommen, deren Konsumwünsche bereits gesättigt sind und die darüber hinausgehende Mittel ansparen, aber nicht ausgeben, hin zu Haushalten, die ihr geringes Einkommen zur Gänze in den Konsum fließen lassen (müssen). Darüber hinaus ist ein funktionierender Sozialstaat aber auch unerlässlicher Erhalter und Motor gesellschaftlicher Produktivität – zum Beispiel durch ein funktionierendes Bildungs- und Gesundheitswesen. Guger: „Umverteilung führt gesamtgesellschaftlich gesehen zu höherer Kaufkraft, damit zu höherer Kapazitätsauslastung und zu mehr Investitionen – das allein ist aber nicht entscheidend: Der Wohlfahrtsstaat garantiert durch ein funktionierendes Bildungswesen und Chancengleichheit ein gleichmäßig hohes Bildungsniveau und damit entsprechende technische Innovationen, die wiederum entscheidend für die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit sind." So gibt etwa Finnland zwar nur unwesentlich mehr von seinem Bruttoinlandsprodukt (6%) für Bildung aus als Österreich (5,8%) – aber 38% der 25-34-Jährigen FinnInnen haben einen Hochschulabschluss – und nur 14% der gleichaltrigen ÖsterreicherInnen. Die F&E-Ausgaben Finnlands sind nahezu doppelt so hoch wie die Österreichs.
Auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit – Fetisch der neoliberalen Wirtschaftspolitik, dem gegenüber sie die Inlandsnachfrage völlig vernachlässigt – scheint durch einen starken Sozialstaat eher stimuliert denn behindert zu werden: Europa erwirtschaftet Außenhandelsüberschüsse, und innerhalb Europas trifft dies im Besonderen auf die skandinavischen Länder zu. Dem gegenüber haben die USA – alles andere als ein Sozialstaat – ein gewaltiges Außenhandelsdefizit.

Steuer- statt Beitragsfinanzierung, vom Transferleistungsstaat zum Dienstleistungsstaat. Wie soll der Wohlfahrtsstaat an die Bedingungen des 21. Jahrhunderts angepasst werden? Guger: „An erster Stelle steht die Reform der Finanzierung: Das alte Bismarcksche System der Finanzierung durch Sozialversicherungsbeiträge, das den Faktor Arbeit so teuer macht, muss auf eine Finanzierung durch Steuern umgestellt werden. Damit würde die von der Wirtschaft geforderte Senkung der Lohnnebenkosten möglich – aber natürlich um den Preis einer Erhöhung der Vermögenssteuern" – wo Österreich inzwischen ohnehin absolutes EU-Schlusslicht ist.
Aber auch die Leistungserbringung müsse umgebaut werden, fordert Guger: „Im Bildungswesen und in der Kinderbetreuung zeigt sich am deutlichsten, dass Transferleistungen nur ungenügende Erfolge zeitigen; wir benötigen stattdessen passende pädagogische Angebote wie ausreichende frühkindliche Förderung in hochwertigen Betreuungseinrichtungen". Nur so könne die „soziale Vererbung" – die ungleiche Chancenverteilung in Bezug auf Bildung und Einkommen, die vom Status des jeweiligen Elternhauses und nicht von der eigenen Leistung bestimmt ist – überwunden werden. Die Überwindung dieser archaischen Reproduktion von Sozialchancen – die in den nordischen Ländern schon weit vorangeschritten sei – ist, so der Wirtschaftsforscher, eine zentrale Voraussetzung für die Heranbildung leistungsfähiger, innovativer Arbeitskräfte.
Wie schätzt Guger die Chancen ein, dass Europa auf den bewährten sozialstaatlichen Weg zurückkehrt? „Die EU hat am Lissaboner Gipfel den Sozialstaat als produktiven Faktor erkannt und fordert, die Best-Practice-Modelle europäischer Sozialpolitik in einer ,Methode der offenen Koordination‘ in den Mitgliedsländern umzusetzen – aber natürlich legen sich noch Länder wie Großbritannien und einige der neuen Mitglieder quer."
Christian Stenner

ImageWenn zu wenig umverteilt wird und die Gewinne in den Himmel wachsen, sinken die Investitionen, weil die Konsumnachfrage zurückbleibt.

















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