Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
0. Münzen, siebenundfünfzig
Sonntag, 14. November 2010
von Christoph Dolgan

1. BAHNHOFSGEBÄUDE (AUSSEN), ABENDS, SPÄTER: NACHTS: 1.1 Die beiden Frauen, Sechsundfünfzig und Fünfundfünfzig, stehen vor einem Gestell aus Metall. (Abfalleimer und Aschenbecher.) Früher, ihre Zeit kennt nur noch früher und jetzt, haben sie auf einer der Bänke in der beheizten Wartehalle gesessen. Früher hat ein Plastikteller zwischen ihren Beinen am Boden gestanden. Eigentlich ohne Grund, aber manchmal sind hastende Füße darüber gestolpert. OFFSTIMME: Was, wenn zwei Beine in der Masse ins Stottern geraten? Was, wenn der Tod inmitten der Lebenden ins Stottern gerät? Jetzt dürfen sich dort, in der Wärme und im Geruch trocknender Kleidung, nur noch diejenigen aufhalten, die ‚im Besitz eines gültigen Fahrscheins‘ sind. Und selbst die nur bis zur nächsten Zugverbindung. Bleiben sie länger, heißt ihr Sitzen ‚Lungern‘, und ein Mann vom Wachdienst jagt sie davon. OFFSTIMME: In der Taschenlampe des Wachmanns versteckt sich die Sehnsucht nach dem tachykarden Leuchten der Gewehrmündung. 1.2 Darum stehen Vierundfünfzig und Dreiundfünfzig jetzt vor der Wartehalle: Vor einer verglasten Front. Auf einem vergitterten Lichtschacht. (In einem Lichtschacht, denkt Zweiundfünfzig, bliebe ihr keine Wahl. In einem Lichtschacht bliebe niemandem eine Wahl.) In ihrem Rücken der Vorplatz. Busse kommen an und fahren ab. Und Taxis, wenn man die nötigen Münzen dafür aufbringen kann. Die Wand hinter der Glasfront ist zu hell, als dass sich der Vorplatz oder ihre Gesichter darin spiegeln könnten. OFFSTIMME: Nach Dienstschluss wirft der Wachmann einige Münzen in den Schlitz der Peepshowkabine, aber hinter dem Vorhang erwartet ihn nur ein Spiegel, in dem er sich beim Wichsen zusehen kann. 1.3 Der Behälter für die Asche und die Kippen ist in Hüfthöhe angebracht. In den Deckel sind Löcher eingestanzt, die die Größe von Fünfzigcentmünzen haben. (‚Wir danken für Ihr Verständnis.‘) Er ist grau von Zigarettenasche. Einundfünfzig hat ihre Bierdose darauf abgestellt, Fünfzig hält ihre in der Hand. OFFSTIMME: Wenn nur noch ein Bierrest: ‚Sag nicht Hansel!‘: in der Dose enthalten ist, fängt Neunundvierzig ihn mit einer Pipette auf und tropft ihn in ihre Augen. Achtundvierzig ist zu alt für eigene Tränen. Neben ihnen, gegen die Glasfront gelehnt, stehen Plastiksäcke. Bis obenhin angefüllt. Ausgebeult und Siebenundvierzig nennt sie gerne ihre ‚Jugokoffer‘. (Weil ihr Vater, früher. Der Name ‚Dubrovnik‘ fällt ihr ein, Bundesarmee, Lieder werden gesungen, die schön sein könnten und Angst bereiten. Usw.) In der einzigen Reisetasche, die sie besitzen, ein braunes Ding aus Leder und Rissen, bewahren sie ihre Biervorräte auf. Die Tasche steht ihnen am nächsten: Die Tasche ragt über das Fensterschachtgitter hinaus auf den asphaltierten Gehsteig, der von platt getretenen Kaugummis gesprenkelt ist. OFFSTIMME: Spucken ist die letzte uns verbliebene Sprache. 1.4 Sechsundvierzig und Fünfundvierzig unterhalten sich den ganzen Tag über. Miteinander oder auch mit sich selbst. Vierundvierzig wird manchmal laut. Ihr Mund stößt Schimpfworte aus, ‚Widerworte‘, die Blicke auf sich ziehen, Kopfschütteln und immer öfter Drohungen. Darum (und weil das Wort so leicht von der Zunge geht) gibt man Dreiundvierzig den Namen ‚Tourette‘. Zweiundvierzig weiß, dass sich der Name ‚Tourette‘ im Privatbesitz eines französischen Arztes befindet, dem eine seiner Patientinnen eine Kugel in den Kopf geschossen hat. OFFSTIMME: Georges Albert Édouard Brutus Gilles de la Tourette müsste es richtig und vollständig heißen. Der Ort der Handlung müsste Salpêtrière heißen. Tourette müsste das ‚Attentat‘ überleben. Tourette müsste (Jahre danach) an den Folgen der Syphilis sterben. Im idealen Paris müsste die Rue Broca in die Rue Morgue münden. Und Einundvierzig weiß, dass der Name nichts mit ihr zu tun hat. Die Worte, die sie ausstößt, ohne sie zu hören, kommen nicht aus ihr. Sie kommen von den Taxifahrern, den Wachmännern, den Bedrohern und all den andern, die sie nur im Augenwinkel sehen kann. Sie stellt nur ihren Mund zur Verfügung. (Über den sie keine ‚Verfügungsgewalt‘ hat.) Sie stellt nur ihren Mund wieder her. 1.5 Vierzig kümmert sich nicht um die ausgestoßenen Schimpfworte von Neununddreißig. Sie ist zuckerkrank, hat offene Beine und ‚riecht‘. (‚Riecht‘: Auch so ein Wort, das man nur unter Anführungszeichen aussprechen kann: Auch so ein Wort, das man gar nicht aussprechen kann.) Sie weiß nicht, was die Schimpfworte von Achtunddreißig sie angehen sollten, und außerdem hat jemand ‚Flüstern = Konterrevolution‘ auf einen ausrangierten Güterzug gesprayt. Siebenunddreißig hat lange genug gelebt. OFFSTIMME: Das Telefon läutet Tod, aber niemand hebt ab. Um zu erkennen, dass das, was jemand sagt, mit demjenigen, der es sagt, in keinerlei Zusammenhang steht. Sechsunddreißig hat auch lange genug gelebt, um nicht mehr auf die Augenwinkelgeschehnisse zu achten. (Nur manchmal sieht Fünfunddreißig in ihren Augenwinkeln, abgesondert vom Früher und vom Jetzt, ein Stück Zukunft. Die Gleise, denkt sie dann bei sich, lautlos, damit niemand ihre Gedanken hören kann, auf die ich mich legen werde, werden direkt nach O. führen.) 1.6 Vierunddreißig und Dreiunddreißig unterhalten sich den ganzen Tag über. So lange ihnen das Bier nicht ausgeht, gehen ihnen auch die Gespräche nicht aus. OFFSTIMME: Zweiunddreißig und Einunddreißig fragen nicht, ob ein Glas halb voll oder halb leer ist. Wichtig ist allein, dass es jemanden gibt, der nachschenkt. Und selbst wenn eine von ihnen die letzte Bierdose aus der Tasche holt. Die Hälfte des Inhalts in die leere Dose der anderen schüttet. Selbst dann verstummen sie nicht. Dann beratschlagen sie, wie sie an neues Bier kommen können. 1.7 Oder an Zigaretten: Dreißig kramt in ihren Jacken- und Hosentaschen, hält ihre Hand mit der Innenfläche nach oben. OFFSTIMME: Stigmata in der Form zerbeulter Kupfermünzen könnten nur eine hängende Metapher sein. Neunundzwanzig und Achtundzwanzig senken ihre Köpfe über die Handfläche. Sie zählen die Münzen. Wenn es zu wenige Münzen sind, zählen sie sie ein zweites Mal. Es sind noch immer zu wenige. Jetzt kramt Siebenundzwanzig in ihren Taschen und legt die Münzen, die sie findet, auf die Hand von Sechsundzwanzig. Ist es genug, geht Fünfundzwanzig in die Trafik in der Wartehalle und kauft ein Päckchen Zigaretten. Beide nehmen eine Zigarette, stecken sie sich an und ziehen daran. OFFSTIMME: Sie sind zufrieden. Eigene Zigaretten schmecken anders. Nach Abfahrt. So, als führen all die Züge nur ihretwegen ab. 1.9 OFFSTIMME: Eine Bierdose, die zwischen zwei Gleiskörpern liegt, wird vom Wind der durchfahrenden Züge einmal in die eine, dann in die andere Richtung geschleudert. Es findet sich niemand, der sich ihrer annehmen würde. Oft bleiben Vierundzwanzig und Dreiundzwanzig bis spät in die Nacht vor dem Bahnhof stehen und warten, bis der Mond zu sehen ist. „Der Mond“, sagt Zweiundzwanzig dann, „schaut heut’ wieder aus, wie ein hing’spiebenes Grießkoch.“ Einundzwanzig hat gewusst, dass Zwanzig das sagen wird. Trotzdem lachen sie. Und ihr Lachen hat kein Echo.
2. KIRCHE (AUSSEN), MORGENS, SPÄTER MITTAGS: 2.1 Neunzehn ist alt. OFFSTIMME: Siehst du aus? Ihr Haar ist grau und verfilzt. Ihr Haar riecht nach Winter und Haarlotion. Aus den groben Maschen ihrer Wollmütze lösen sich einzelne Haarsträhnen. Fallen ihr ins Gesicht. Sie sitzt auf der Treppe zum Haupttor einer Kirche. Auf der dritten Stufe von unten. Am äußeren Rand, die Schulter gegen das Steingeländer gelehnt. Ihre Beine, dick vom Wasser, ‚aufgedunsen‘, sind ausgestreckt. Die Füße schweben. Die Füße stecken in Holzpantoffeln. OFFSTIMME: Abends wird Achtzehn die ergangenen Blasen aufstechen. Sie wird die Blasenflüssigkeit: die Klebrigkeit nach der Ernsthaftigkeit ihres Gehens befragen. 2.2 Auf der Stufe, auf der Siebzehn sitzt, der dritten Stufe von unten, steht ein Plastikbecher. Eine Verpackung für Haselnusseis. Münzen und: mehr Münzen, an guten Tagen, liegen darin. Sechzehn bettelt nicht. Fünfzehn will keine Almosen. Sie bietet eine Dienstleistung an. Wird dafür bezahlt. Wie jeder andere Dienstleistende auch. Ihre Dienstleistung heißt Murmeln. Für jeden, der eine Münze in die Verpackung für Haselnusseis wirft, murmelt sie. OFFSTIMME: Das Mädchen, das ohne Schuhe im Schnee steht, hält das Eineurostück in ihrer Hand als handelte es sich dabei um eine Tatsache. Vierzehn kennt die Namen der Menschen nicht, kennt auch die Namen derer, die in die Münzen geprägt sind, nicht. Im Murmeln von Dreizehn hat niemand einen Namen. 2.3 Gicht verknotet ihre Hände. (Harnsäure, sagt ein Arzt, und Zwölf wird kindisch und kichert.) Gicht macht ihr das Halten des Rosenkranzes zur Qual. OFFSTIMME: Abends wird Elf ihre Hände in heißes Wasser tauchen. Gegen die Schmerzen wird es nicht helfen. Nur. Der Rosenkranz ist eine Gedächtnisstütze. Das Kruzifix am Ende fehlt. Abgebrochen, früher, verloren gegangen. Jetzt hängt dort ein Büschel Büroklammern. Auch Perlen sind verloren gegangen. Wo sie waren, ist nur noch Schnur. Zehn überspringt die Stellen nicht. Statt einer Perle halten Daumen und Zeigefinger die bloße Schnur. Die dünner wird mit jedem Griff. OFFSTIMME: Wie dünn müsste ein Faden werden, um in ihm nicht länger die Erhängten zu sehen? An einer Stelle ist die Schnur gerissen. Ein Knoten hat die Perle ersetzt. 2.4 Mit jeder Münze beginnt der Mund zu murmeln. Mit jedem Murmeln rücken Daumen und Zeigefinger weiter. Oft vergehen Stunden, ehe die Finger weitergreifen. OFFSTIMME: Abends wird Neun den Rosenkranz zur Seite legen. Dann werden die Hände ins Leere greifen. Vor und nach den Messen hasten die Finger von Perle zu Perle. Und die Lippen verlaufen sich in ihren Bewegungen. Die Hände, die die Münzen in den Plastikbecher fallen lassen, ändern sich nicht. Es sind immer die gleichen. Vertraut wie die eigenen. Vertraut wie die immer gleichen Bewegungen, die sie ausführen. (Selbst Routine wäre bereits Abwechslung.) Acht sieht nicht auf zu den Gesichtern. Sie ertastet sie aus den Perlen. 2.5 Die Perlen werden weniger. Die Münzen werden weniger. Sie verlieren sich in einem gemeinsamen Niemandsland. OFFSTIMME: Die Entdecker von Morgen werden Leerstellen bilden. Sie werden das Bekannte auslöschen, weiße Flecken schaffen, Spuren beseitigen. Sie werden ‚Heimat‘ im Unheimlichen auflösen. Das Vertrauen in die Kerzen, die man kaufen und vor einem Seitenaltar entzünden kann, ist größer als das Vertrauen in das Murmeln von Sieben. Sie weiß es und findet sich damit ab: Das Licht einer Kerze ist sichtbarer als das Licht ihrer Stimme. 2.6 Nach der Messe um zehn. Nachdem sie alle Münzen in Murmeln umgewandelt hat, geht sie in den Garten der Propstei. Der Rasen ist vermoost. Ihr Gehen ist weich. Die Bank unter dem Kastanienbaum war noch nie besetzt. Sie setzt sich. Atmet. Tief und mit geschlossenen Augen. ‚Sechs wird nicht jünger.‘ (Das sagt sie selbst.) ‚Die Wege werden nicht kürzer‘. (Das sagt man so.) 2.7 Fünf holt ein hart gekochtes Ei aus ihrer Jackentasche. Sie schlägt die Spitze des Eis gegen einen der Schraubenköpfe, die sich von der Sitzfläche abheben. Drei Schläge. Sie pellt das Ei aus der Schale. Sie legt die Schalen neben sich auf die Bank. Sie beißt die Spitze des Eis ab und kaut sie sorgfältig. Gerne würde sie eine Prise Salz über das Ei streuen, aber sie hat das Salz zuhause vergessen. Mit dem zweiten Biss teilt sie das Ei der Länge nach. Die Trockenheit des Dotters lässt Vier schaudern. Ihre Mundhöhle bekommt eine Gänsehaut. OFFSTIMME: Abends wird Drei verwaiste Kindermünder füttern. Im Kindermund wird der Dotter zum Erstickungstod aufblühen. Sie nimmt einen Schluck Wasser aus der Plastikflasche, ehe sie den Rest des Eis in den Mund steckt und zerkaut. 2.8 Zwei bleibt noch eine Weile sitzen. Wischt die Eierschalen in ihre Hand. Sie wird sie in den Mülleimer vor der Kirche werfen. Sie wird sich auf die dritte Stufe der Kirchenstiege setzen. Vielleicht wird es noch Münzen geben. Murmeln. Und das suchende Tasten zweier Finger. OFFSTIMME: Abends wird Eins sich die Beine waschen. Dann wird sie. Für sich. Den Rosenkranz murmeln, den die Krampfadern über ihre Waden gelegt haben. Sie wird keine Blutperle auslassen.

Christioph Dolgan,
geboren 1979 in Graz. Germanist und literarischer Dilettant. Studium der Germanistik und Volkskunde/Kulturanthropologie in Graz. Promotion über Leopold von Sacher-Masoch. Wissenschaftliche Beschäftigung mit verschiedenen Autoren (u. a. Franz Nabl, Werner Schwab).
 

» Keine Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.
» Kommentar schreiben
Nur registrierte Benutzer können Kommentare schreiben.
Bitte melden Sie sich an oder registrieren Sie sich.
 
weiter >