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Don Giovanni: Eine psychoanlaytische Interpretation
Sonntag, 14. November 2010
Fußfrei – Theatertrips und -tipps von Willi Hengstler Ein Witz besagt, dass das Leben ein Gefängnis ist, aus dem keiner lebend rauskommt. In Johannes Eraths „Don Giovanni“ ist nicht einmal sicher, ob einen im nächsten Leben nicht das ewig gleiche Gefängnis erwartet. Jedenfalls setzt er seine Inszenierung um den Wüstling, Betrüger und Mörder Don Giovanni in ein riesiges, an Piranesis „Carceri“ erinnerndes Gefängnis. Er inszeniert die Oper als plastisches Modell von Trieben und Projektionen, als einen Kerker aus sexuellen Begehrlichkeiten und Ängsten, dem die Protagonisten mit ihren Obsessionen und Wiederholungszwängen niemals entkommen. Dieser psychoanalytische Zugang Eraths ist schon beinah unheimlich – aber auch unheimlich gut.
Es treten nicht nur die bedrängte Donna Anna und ihr Verlobter Don Ottavio, die vom Wüstling mit Lustangst erfüllte ländliche Braut Zerlina und ihr Bräutigam Masetto oder Donna Elvira auf, die ihre Verlassenheit geradezu masochistisch genießt. Durch den Dämmer dieses Kerkers bewegen sich wie in Zeitlupe immer auch ihre stummen Doppelgänger. Der interpretatorische Parforceritt Eraths lässt sich weiter und weiter treiben. Dann wird das Riesengefängnis des Bühnenbildners Stefan Heinrichs zum architektonischen „stream of consciousness“, zur Phantasmagorie seelischer Zustände, der keiner bestimmten Person mehr zugeordnet ist. Dann kann auf all die Masken des Spiels verzichtet werden, ohne dass die Irreführungen und Selbsttäuschungen sinnlos werden. Ohne unterscheidbare Identitäten kann sich der Komtur auch selbst erschießen und als Don Giovanni trotzdem sein Mörder bleiben; oder Don Ottavio (Antonio Poli mit einem hervorragenden Tenor) wenig textkonform den Wüstling am Ende erschießen. Dann ist es nur logisch, dass sich die Gestalten vervielfachen, manchmal in den Vordergrund und wieder zurücktreten, ohne jemals ganz zu verschwinden: wie eben die amorphen Schemen des Bewusstseins.
Der Opernbesucher kann auch auf den intellektuellen Interpretationsfuror des jungen Opernmachers verzichten und öfter die Augen schließen, um dem von Hendrik Vestmann schnell und kraftvoll geführten Grazer Philharmonischen Orchester zu lauschen. Margareta Klobučars „Donna Elvira“ überzeugt nicht nur stimmlich, sondern auch schauspielerisch. Ansprechend die Leistungen von Wilfried Zelinka (Masetto) und Sieglinde Feldhofer (Zerlina). Boaz Daniels „Don Giovanni“ zeigt im zweiten Akt kleine Schwächen, Alik Abdukayumow als sein Diener Leporello überzeugt dagegen mit spielerischem Bass. Der Showdown zwischen Komtur (Konstantin Sfiris mit einem durchdringenden Bass), Don Giovanni und Leporello zieht das Publikum jedenfalls völlig in seinen Bann. Mit dieser handwerklich makellosen Produktion – allein die Choreografie des Chors und der Statisterie hat eine halluzinatorische, beunruhigende Kraft – und einer hervorragenden Sängergarde positioniert sich die Grazer Oper wieder einmal als Haus gleichzeitig für musikalische Topqualität und konzeptuell Hochriskantes.
Hingehen, sich der Operntherapie selber unterziehen: noch am 10.11., 12.11., 14.11. (18.00 Uhr), 17.11., 20.11., 27.11., 5.12. (15.00 Uhr), 16.12., weitere Vorstellungen bis März 2011.

Jeder Zeit ihren Hamlet.
Bormans Inszenierung zeigt ganz aktuell eine Küsschen-Küsschen-Gesellschaft herzloser Hedonisten mit viel Security im Hintergrund. Und Titelheld Claudius Körber ist noch fast ein Jugendlicher, ein narzisstischer, unsicherer, vom Leben noch nicht beschmutzter Hamlet zwischen Tat und Zaudern. Alles beginnt auf der leeren, sehr lichten Bühne von Bernhard Hammer, die mit transparenter Folie abgedichtet ist. Aber dann schweben Schleier, Kleidungsstücke, Stoffbahnen vom Himmel … zu jeder Gelegenheit. Je mehr Stoff auf dem Boden liegt, desto mühsamer werden die Gänge für die Schauspieler. Zum verdienten Schlussapplaus schaffen die Armen es dann kaum mehr nach vor an die Rampe.  
Birgit Stögers fällt als Mutter Hamlets glücklich aus der langen Reihe langweiliger, blonder Matronen. Wie sie sich als figurbewusste Gertrud an erotische Restintensitäten klammert, in einer Mischung aus Geilheit und Verzweiflung den mörderischen Sohn inzestiös umarmt oder sich mit der Whiskeyflasche ihres Mannes tröstet, ist beklemmend. Andererseits … selbst für Theaterbesucher gilt das Menschenrecht, an einem Abend nicht mehr als drei Schreiausbrüchen lauschen zu müssen.
Stefan Suske spielt seinen Claudius als coolen, mörderisch konzilianten Entscheidungsträger, der beim geringsten Widerstand augenblicklich delegiert – am liebsten an die widerspruchslos übernehmende Gertrud. Noch im Augenblick des Todes, vergiftet und erstochen, wahrt der Stürzende unerschütterlich die Form. Suske ist der feste Turm dieser Inszenierung, das Epizentrum der Tragödie. Aber sollte das nicht Hamlet sein? Leider lässt Claudius Körber, dieser sympathische Schauspieler, der in „Radetzkymarsch“ so großartig war, diesmal keinen Spannungsraum um sich herum entstehen. Dafür zappelt er oft in der Umarmung Horatios (sehr präsent Leon Ullrich), der ihn immer nur scheinbar zurückhalten darf. Und der idiotische Kampfanzug, in dem er zeitweilig über die Bühnenfetzen stolpert, passt wenig zu einem labilen, verwöhnten Königssöhnchen. Erst das Fechtduell mit Laertes (Rahul Chakraborty) lässt ahnen, wieviel von den Möglichkeiten dieses Schauspielers diesmal durch ihn selbst oder den Regisseur verschenkt wurden. Überhaupt scheint Boermans Interesse weniger den „jungen“ Rollen zu gelten. Auch Claire Vivianne Sobottke kommt (um es höflich zu sagen)  dem Vorurteil, das man so von Ophelia hegt, wenig entgegen. Und: Gegen die verwendete Bürokratenübersetzung von Marius von Mayenburg wirkt die von Schlegel/Tieck noch wie ein loderndes Sprachfeuerwerk.
Nicht der ganz große Wurf, aber eine seltene Gelegenheit. Der Rest ist Schweigen. Vorstelllungen noch am 13. , 16. und 18.November und am 18. und 19. Dezember.

Singing in the Rain: Das beste Musical aller Zeiten in der Oper.
Man fragt sich, wie die legendären Tanznummern von Gene Kelly (Don Lockwood) und Donald  O’Connor (Cosmo Brown) in Stanley Donens Film live, ohne Wiederholung und Schnitt wohl funktionieren mögen. Aber die Aufführung hält sich ziemlich streng an die ursprüngliche Choreografie, und wenn die Steppschritte für die Grazer zu kompliziert werden, lassen sie Regisseur Josef Ernst Köpplinger und die Choreografin Ricarda Regina Ludigkeit unauffällig durch Tanzschritte ersetzen. Leichtfüßig erzählt sie unverwüstliche Story den historischen Wechsel  vom Stumm- zum Tonfilm als „Making Of“. Das Stummfilmdrama (ein Vergnügen auch die Filmausschnitte) „König der Duelle“ soll akustisch marktgerecht aufgerüstet werden. Aber leider hat die Diva Lina Lamont eine grauenhafte Stimme und muss von der unbekannten Kathy nachsynchronisiert werden. Die Idee hat dafür Lockwoods Freund Cosmo Brown (sympathisch Benjamin Rufin, der wie sein Vorbild im Film auch in der Grazer Oper die besten Einlagen und -fälle hat). Bettina Mönch als intrigante Stummfilmheroine Lina Lamont ist der hinreißend böse Star des Abends. Heute noch aktuell ist die (ironisierte) Differenz zwischen Hoch- und Massenkultur, repräsentiert durch die (natürlich) arbeitslose „ernsthafte“ Schauspielerin Kathy Selden (erfrischend Nadine Zeintl) und dem Stummfilmstar Don Lockwood (Peter Lesiak, auch als Tänzer sehr firm). Oder der durch Klatschpresse angeheizte Kult um leere Celebrities. Am Ende ist alles gut, Kathy stiehlt Lina nicht nur die Show, sondern auch den Partner Lockwood. Und das Publikum in Graz rast beinah vor Begeisterung.  Mitrasen empfohlen, heuer noch am 13.11., 21.11. (18.00 Uhr), 26.11., 28.11. , 3.12., 15.12., 18.12., 26.12. , 30.12., 31.12. (und weitere Vorstellungen bis April 2011). Beginn jeweils 19.30 Uhr, sofern nicht anders angegeben.

Grazer Meister.
In den Achtzigerjahren veröffentlichte Ernst Marianne Binder unter dem Namen „El Dezento & das Rendezvousorchester“ die LP „Casablanca Boulevard“. Schon damals ließ der gleichzeitig sehnsuchtsvolle und souveräne Ton der Texte erst die exotischen Orte entstehen, die heute vom Billigtourismus ausgelöscht werden. 30 Jahre später jagen Olivia und Adam, das inzestuöse Liebespaar aus Binders letzter Theaterarbeit „Die Flucht der Wolken vor der Archivierung“ unentwegt auf der Flucht vom bescheidenen Lignano über Graz, Wien, Amsterdam, Paris, Masada, Ulan Bator, Odessa (und noch ein paar Destinationen mehr) bis nach Durango und Las Vegas.
Auch auf die Liebe lässt sich Schillers Vers anwenden: „Wohltuend ist des Feuers Macht, wenn es gezähmt, wenn es bewacht…“. Umso mehr, wenn die Liebenden Geschwister sind. Die Liebe ist eine in ihrem Kern gegen die Gesellschaft gerichtete anarchische Kraft, für die, wenn sie zu groß wird, unweigerlich das Verbot kommt. Und am stärksten gilt dieses Verbot für die Utopie der inzestuösen Liebe. Scheitert nicht schon Musil mit seinem „Mann ohne Eigenschaften“ auch an der Utopie einer Liebe zwischen den Zwillingsgeschwistern Ulrich und Agathe?
Mag sein, dass das Publikum die großen Gefühle nur mehr erträgt, wenn sie mit Ironie und postmodernem „Als Ob“ garniert sind, und das mag auch das Schmerzhafte an diesem Abend sein. Aber Binder wendet seine beträchtliche Klugheit als Autor und seine enorme Erfahrung als Regisseur auf, um das große Thema auf seine kleine Bühne zu bringen.
Seine kurzen, häufig das Verb aussparenden Sätze erzeugen so viel Stille für das Wichtigere, Ungesagte, wie die praktisch leere Bühne erst den Raum für das Unsichtbare bietet. Und so nebenbei demonstriert er in seinem Stationendrama bzw. „Roadmovie“, wie man im Theater mit der Leitkultur „Film“ umgehen muss. Dazu genügt ihm ein kleiner Fernseher am Boden, dessen Bilder nichts als Wolken, Ortsangaben und gelegentlich auch einen Filmtitel, wie „Himmel über Berlin“ oder „Zabriskie Point“ zeigt. Der Rest entsteht im Kinogedächtnis der Zuseher.
In dem winzigen „Drama Graz“ scheint Binder das ideale Instrument gefunden zu haben. Seine minimalistischen Möglichkeiten erlauben ihm, scheinbar einfache Geschichten zu komplexen Strukturen zusammen zu fügen. Ganz klar wird einem der Titel des Stückes „Die Flucht der Wolken vor der Archivierung“ nicht, und seine Sprache ist nicht leicht zu bewältigen. Aber was den Schauspielern Ninja Reichert und Werner Halbedl vielleicht an gestischem Repertoire fehlt, machen sie durch schöne Unmittelbarkeit wett.
In einer zweiten Schicht, ausgehend von Andre Gorz’ Buch „Brief an D.“, dem spirituellen Reiseführer des Liebespaares, entwickelt Binder leitmotivisch eine gelebte Utopie als Praxis der Liebe. Der 1923 in Wien als Gerhard Hirsch geborene Gorz nahm sich

 2002 gemeinsam mit seiner schwerkranken, 83-jährigen Frau Dorine nach 57-jähriger Ehe das Leben. Binders Stück, das gleich wie das Buch des französischen Philosophen an der Möglichkeit unbedingter Liebe festhält, erinnert trotz des Gegensatzes an William Faulkners Doppelroman „Wilde Palmen“ und
„Der Strom“, der vom bitteren Scheitern der Liebe erzählt.

Auf der Station „Karlsruhe“ (dem Ort des Bundesverfassungsgerichtes) wird das Roadmovie zugunsten einer dritten Bedeutungsebene unterbrochen. In einem als Urteil getarnten essayistischen Ansatz werden die strafgesetzlichen, biblischen und gesellschaftlichen Aspekte verbotener Geschwisterliebe thematisiert.
Binders Rückgriff auf  filmische Genreelemente – grotesk missglückender Banküberfall, Flucht, Dylans Song über den Outlaw Billy The Kid ermöglichen ihm nach all der Liebeswucht eine sanfte Landung.
Am Ende singt das Paar den Soundtrack zum Abspann im Fernseher, in dem die Nachricht über den Tod des französischen Philosophen André Gorz ausgestrahlt wird – und ein gefakter Kommentar des Autors Binder dazu. Mit Abstand das Wichtigste, was derzeit in Graz zu sehen ist.
Noch am 10., 11., 12., 13. 11. und am 17., 18., 19. und 20. 11.
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