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Das war der steirische herbst: Trickser & Ausgetrickste
Sonntag, 14. November 2010
Der steirische herbst 2010 war so gut wie noch nie. Oder so schlecht wie immer. Oder umgekehrt?  Wann ist ein Mehrsparten-Avantgardefestival (immer noch die offizielle Beschreibung?) überhaupt gut oder schlecht? Man muss ein Kulturjunkie sein, um sich das nötige Gesamtbild zu erschauen bzw. -hören; ein toller Monomane, der sich weigert, zum eigenen das immer auch denkbare Gegenurteil mitzudenken. Seit die so genannte Avantgarde den elitären Bereich einer kommerzialisierten Hochkultur bildet und soziale Kunst ohne Metaerzählung zur  sympathischen Beschäftigungstherapie geworden ist, fällt auch eine überschaubare Öffentlichkeit weg. Oder zerfällt vielmehr in viele voneinander abgeschottete, nebeneinander herlaufende kleine Öffentlichkeiten … eigentlich ein Grund, die Vielspartigkeit durch ein schärferes Festivalkonzept zu ersetzen.

Jedenfalls „Business as usual“:
eine gelungene Eröffnung in der Listhalle, in der sich das Publikum zwischen 12 Plattformen für ebensoviel Tänzer und den von ihnen via Bewegungssensoren gesteuerten Computer- und Automatenklängen treiben lassen konnte. Danach gab’s dann auf Buschenschenkmobiliar eine Stärkung von der Kunstanstrengung. Dann war da noch „I don’t believe in outer space“ des legendären US-Choreografen William Forsythe. Der Amerikaner hatte seinen gleichzeitig chaotischen und präzisen Tanzabend mit vorzüglichen Texten bereits anderswo gezeigt, aber immerhin für Graz adaptiert.
Und wie immer ziemlich gelungene Co-Produktionen mit Kunsthaus (Franz West) , Camera Austria (Milk Drop Coronet), Kunstverein und – am interessantesten – das Musikprotokoll.

Theaterproduktionen: Von hevorragend bis entbehrlich bildend.
In der zweiten Funktionsperiode von Intendantin Veronica Kaup-Hasler kristallisieren sich Abläufe, Verfahren eher heraus als Inhalte. Letztere dienen als Füllmaterial für die Verfahren, wobei „Verfahren“ sich auch auf Raster bezieht.
Besonderes Anliegen der Programmmacher sind allem  Anschein nach die experimentellen Tanz- bzw. Theaterstücke, die durchaus als verstecktes Sonderprogramm in einem großen Festival à la Wiener Festwochen durchgehen könnten. Favoriten waren diesmal Gisèle Vienne mit „This is how you will disappear“ und der Österreicher Philipp Gehmacher mit „In their name“. Vienne, die gelernte Puppenmacherin, produzierte mit enormem Aufwand – echter Wald, echt perfekte Athletin, Trainer und todessüchtiger Punkstar (beide gefaked) plus ohrenbetäubendem Hardcorepunk   –  eine merkwürdig altbackene Allegorie aus gegenwärtigen Massenmythen. Toll waren allerdings die Nebelorgien der Japanerin Fujiko Nakaya und ein sekundenlanger Vogeldressurakt ganz zum Schluss. Gehmacher beeindruckte mit einem tänzerischen, Respekt einflössenden Minimalismus. Ärgerlich an beiden Arbeiten waren die Texte mit ihrer als Kostbarkeit getarnten Unbedarftheit. Dazu die kleineren Theaterproduktionen, wie immer eine Reihe von hervorragend bis entbehrlich bildend. Hervorragend „Cheap Lecture“, eine geniale, minimalistisch-theatralische Poetik von Jonathan Burrows/Matteo Fargion;  etwas flacher Annie Dorsens „Hello Hi There“, in dem zwei Computer (Chatbots) einen historischen Dialog zwischen Noam Chomsky und Michel Foucault ad absurdum führen. Leider entbehrlich die Gruppe Showcase Beat Le Mot mit  „ PARIS 1871 BONJOUR – C O M M U N E“. Zum Einstieg gab es „Coq au vin“ für alle, dem aber, ebenso wie der folgenden Ausstattungs- und Lichtorgie, die Würze fehlte.

Ein breit gestreutes Motto.
In dem mit Paletten zum Festivalzentrum umgebauten Forum Stadtpark (das Haus ist allerdings schon öfter umgebaut worden) hatte der Blick von der vorgeschobenen Terrasse auf Stadtparkbrunnen und Spitzer-Nagel wirklich was. Drinnen gab’s das „Casino of Tricks“ mit Spielzeugroulette, in das sich die Besucher durch die Bekanntgabe eigener Tricks Zutritt verschaffen konnten: das fiel wieder in die Abteilung Beschäftigungstherapie, war aber durchaus sympathisch.
Von Ferne mit der „Steirischen Akademie“ vergleichbar war die programmatische „Konferenz zu Virtuosität als Strategie für Kunst und Überleben“ mit dem Medientheoretiker Franz Kittler als berühmtestem Vortragenden. Aber der halbe Saal des Forum ist nicht der Hörsaal A, und die thematische Gemengelage „Trickster, Virtuosen, Bricoleure“ reichlich breit gestreut.

(De)konstruktivistische Interpretation oder kreativer Overkill?
Mit dem Grazer Schauspielhaus wurde auf der Probebühne unter der Regie des Argentiniers Mariano Pensotti eine Koproduktion „„Enzyklopädie des ungelebten Lebens“ realisiert. Achtzehn Minidramen wurden hintereinander in drei Kabinen gespielt, und die Schauspieler mussten sich dazu ihre am Boden ausliegenden Requisiten greifen. Jeder dieser Lebensaugenblicke wird mit (in) einem Polaroid festgehalten: Unter den Autoren fanden sich Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, Friederike Mayröcker, Bekanntheiten wie Dietmar Dath, Kathrin Röggla und Andrzej Stasiuk und literarische  Hoffnungen wie Händl Klaus, Gerhild Steinbuch oder Clemens Setz steuerten Texte bei. Allenfalls Letzterer konnte sich mit einem geschickt geschriebenen Running Gag ins Gedächtnis bringen. Das notwendig angestrengte Inszenierungstempo ließ den Abend allerdings immer mehr zur Präsentation seines eigenen Verfahrens werden. Immerhin ein schönes Beispiel für eine (de)konstruktivistische Interpretation. Aber auch für einen kreativen Overkill bzw. die Power, jede Menge Berühmtheiten mobilisieren zu können. Das Projekt kann auch – gleich wie das rituelle Einladen des „Theater im Bahnhof“ (diesmal mit einer schwächeren Arbeit – „Tod eines Banomatbesitzers“) als Legitimationsstrategie interpretiert werden.
Daran ändert auch die Erstveröffentlichung von „Naturgemäß III“ der verstorbenen Autorin Marianne Fritz durch die Gruppe Fritzpunkt im Literaturhaus wenig: Der weitgehende Verzicht auf die literarischen und theatralischen, kurzum regionalen Ressourcen in Graz ist kulturpolitisch bedauerlich.

Der wahre Trickster.
Zum „herbst“  als Verfahren gehört nicht zuletzt die tägliche Berichterstattung über „kleinere“ Produktionen (noch einmal Jonathan Burrows/Matteo Fargions „Cheap Lecture“), die schon wieder weg sind, sobald man von ihnen erfährt. Ein herbst-Kurator erklärt, dass Kulturveranstaltungen eine „kritische Größe“ (finanziell, im Medienverbund) brauchen, um zu funktionieren. Vielleicht ist das der Grund für den Aktualitätsverzicht, den die Tageszeitungen das übrige Jahr über mit Verve ablehnen.
Marino Formentis Aktion „nowhere“, in deren Rahmen der Klaviervirtuose acht Tage im Stadtmuseum für jedermann zugänglich lebte, schlief und spielte, blieb davon jedenfalls unbeschadet. Formenti brauchte weder viele Berichte, noch Tricks, noch Bricolage, um die Schwellen gegenüber der Neuen Musik einzureißen und seine Zuhörer – ja, effektiv, so sagt man –  zu „beglücken“. Marino Formenti als wahrer Trickster, als Kulturheros durchgehend ein Jahr lang im Stadtmuseum an Stelle von ein paar Wochen Avantgardefestival – das wär’s.
| Willi Hengstler
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