Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Bildungsstandards: Aus für pädagogische Blindflüge?
Sonntag, 14. November 2010
Die seit einigen Jahren – vor allem im Gefolge der PISA-Ergebnisse – geführte Bildungsdiskussion hat gravierende Mängel des österreichischen Schulwesens aufgedeckt: Die österreichischen SchülerInnen erreichen im internationalen Vergleich maximal durchschnittliche Kompetenzniveaus, 21% sind z.B. sehr schwache LeserInnen, nur wenige erreichen Spitzenleistungen – individuelle Begabung wird also kaum gefördert. Kinder mit Migrationshintergrund weisen besondere Defizite auf, die Wirtschaft klagt über Grundbildungsmängel bei den ihr anvertrauten Lehrlingen, und trotz erster zaghafter Reformbemühungen ist über das gesamte vergangenene Jahrzehnt kein Leistungsfortschritt zu erkennen. Mit der Umsetzung der „Bildungsstandards“ soll die Effizienz des Schulwesens nun deutlich gesteigert werden.

Wende lässt auf sich warten.
Die „extrem defizitorientierte Bildungsdiskussion“ werde uns aber dennoch noch einige Zeit erhalten bleiben, prognostizierte Bildungswissenschafter DDr. Günter Haider, früher Chef der Gehrer-„Zukunftskommission“, bekannt als „Mr. Pisa“ und nun Leiter des im Auftrag des Ministeriums tätigen Bundesinstitutes für Bildungsforschung (bifie), bei einer Veranstaltung der steirischen Arbeiterkammer Anfang Oktober: „Wenn wir im Dezember die neuen PISA-Ergebnisse bekommen, ist damit weder ein einziger Schüler einer NMS erfasst, es ist kein Schüler dabei, der aus einer Klasse mit verminderter SchülerInnenanzahl kommt – und das verpflichtende Kindergartenjahr hat sich auf die Testergebnisse schon gar nicht ausgewirkt.“

Ziel: „Möglichst viel Bildung für möglichst viele Menschen“.
Kann die Einführung von Bildungsstandards – also klar definierter Fähigkeiten und Fertigkeiten, über die SchülerInnen am Ende der Grund- bzw. am Ende der Pflichtschule verfügen sollen – der österreichischen Bildungsmisere gegensteuern? Ihre Notwendigkeit ergebe sich aus allgemein anerkannten bildungspolitischen Zielvorstellungen, sagt Haider. Als übergeordnetes Ziel nennt der Experte „möglichst viel Bildung für möglichst viele Menschen“, nämlich: Grundkompetenzen wie Kulturtechniken, soziale und bereichsübergreifende Kompetenzen, anschlussfähige Fachkompetenzen und „wertvolle Abschlüsse und Berechtigungen“. Erreicht werden könne dieses Ziel nur durch die Herstellung von Chancengleichheit auf der gesellschaftlichen Ebene und durch Chancengerechtigkeit auf der Ebene der Individuen. Diese setzt individuelle Förderung und Fairness – „gleiche Noten für gleiche Leistungen“ – voraus.

AHS-Übertrittsgrund: Papa hat studiert.
Wie weit Österreich nach wie vor von der Verwirklichung dieser bildungspolitischen Grundwerte entfernt ist, illustrierte Haider mit einer Vielzahl an Daten und Fakten: Wenig überraschend hängt die Leseleistung der Kinder deutlich vom Bildungsniveau der Eltern ab, zwischen Kindern von Eltern mit Pflichtschul- und jenen von Eltern mit Hochschulabschluss klafft eine Lücke von 79 Punkten in den Pisa-Tests. Die Zugangsquoten von Kindern aus bildungsfernen Schichten an die Uni werden immer geringer. Besonders bestürzend  ist allerdings, dass die Schulnoten ebenfalls mit dem formalen Bildungsabschluss der Eltern korrelieren: So bekommen in der Gruppe jener Kinder, deren Eltern einen Uni-Abschluss haben, bei gleicher Kompetenz 10% mehr einen Einser als in der Gruppe der Kinder von Eltern mit Pflichtschulabschluss.
Noch gravierender ist die herkunftsabhängige Barriere gegenüber dem Übertritt in die AHS: Bei gleichen Noten beträgt der Unterschied zwischen Kindern aus bildungsnahen und solchen aus bildungsfernen Familien 30 Prozentpunkte. Und, noch auffälliger: Kinder mit der gleich guten Lesekompetenz (530 Punkte) treten zu 67% in die AHS über, wenn ihre Eltern ein Universitätsstudium absolviert haben – aber nur zu 22%, wenn die Eltern nur einen Pflichtschulabschluss vorweisen können.

Aus für den pädagogischen Blindflug?
Die genannten Symptome führen zu Systemproblemen: „Innerhalb der einzelnen Schultypen variieren die Kompetenzen und Leistungen der SchülerInnen enorm, ohne dass sich das in der Leistungsbeurteilung widerspiegelt.“ Die Schulen wissen nicht, wie ihre SchülerInnen im Vergleich mit anderen Schulen einzuordnen sind, damit fehlen auch die Grundlagen für zielgerichtete kompensatorische Bemühungen. Hier können Bildungsstandards ansetzen, weil sie konkret formulierte, überprüf- und vermittelbare Lernergebnisse vorgeben, die von allen SchülerInnen einer Schulstufe erreicht werden sollen. „Damit kann die Unterrrichtsplanung optimiert und der Unterrichtserfolg konkret evaluiert werden“, ist Haider überzeugt. Aber: „Die Hauptfunktion der Standards liegt darin, dass sie die gezielte Förderung der SchülerInnen ermöglichen“ – stellt sich heraus, dass bestimmte Kompetenzen nicht beherrscht werden, so können diese entsprechend geübt werden.
Die ersten Überprüfungen werden – flächendeckend in ganz Österreich – für die vierte Klasse der Volksschule 2013 (Mathematik) und 2014 (Deutsch) stattfinden, die SchülerInnen der achten Schulstufe werden 2012 im Fach Mathematik, 2013 in Englisch und 2014 in Deutsch getestet.

Der „faire Vergleich“ soll Klarheit bringen.
Die Sorgen vieler LehrerInnen und SchulleiterInnen, eine breit diskutierte Auswertung der Standard-Tests könnte manche – besonders standortbenachteiligte – Schulen zusätzlich in Misskredit bringen, zerstreut Haider mit dem Verweis auf ein ausgeklügeltes Rückmeldungsmodell: „Jeder Schüler und jede Schülerin wird ihr eigenes Testergebnis per E-Code im Internet abrufen können; jeder Lehrer wird nur die Ergebnisse seiner eigenen SchülerInnen einsehen können; die Schulleitung nur das Schulergebnis und die Schulaufsicht das Ergebnis des Schulbezirks.“ Zusätzlich wird den LeiterInnen ein so genannter „fairer Vergleich“ zur Verfügung gestellt werden, in dem das Abschneiden ihrer Schule mit dem Durchschnittsergebnis von Schulen mit ähnlichem sozioökonomischen Hintergrund verglichen wird.

Hoffen auf die Gesamtreform.
Haider hofft, dass die Aufdeckung konkreter Defizite bei der Standards-Überprüfung die Notwendigkeit einer Gesamtreform des österreichischen Schulwesens deutlich macht – die bisher eingeleiteten Reformschritte seien ja wenig kohärent. So habe die Einführung der Neuen Mittelschule als zusätzliches Angebot (statt in Form des ursprünglich geplanten flächendeckenden Modells anstelle von AHS und Hauptschule) zu einer weiteren Aufsplitterung des Schulsystems geführt. Bereits beschlossene Reformen wie Zentralmatura und Bildungsstandards setzten auch eine Reform der Lehrerausbildung und eben Ressourcen für die Qualitätsentwicklung voraus. Und letztere wiederum erfordere unter anderem die Einbindung einer Vielzahl von SpezialistInnen in den Schulbetrieb: „Wenn Sie in einem der pädagogisch fortschrittlichsten Länder wie z.B. in Schweden oder Dänemark in eine Schule kommen, sind unter den dort anwesenden 50 Erwachsenen 20 SchulsozialarbeiterInnen, LogopädInnen, SchulpsychologInnen usw. In Österreich sind es 50 LehrerInnen.“

Herr Dr. Haider, warum sind viele Lehrer so skeptisch gegenüber den Bildungsstandards und empfinden sie als einen Eingriff in ihre Unterrichtsautonomie?
Es stimmt nicht, das es sich da um einen Eingriff handelt, weil die Standards ja ohnehin auf dem Lehrplan basieren. Außerdem sind Leistungsbeurteilung und Standards getrennt. Aber natürlich muss der Unterricht stärker auf Kompetenzorientierung umgestellt werden. Der Aufbau nachhaltiger Kompetenzen und nicht das Anhäufen von Wissen muss das Ziel sein.

Wie sieht es mit der entsprechenden Fortbildung aus?
Die gibt es schon länger, aber wir müssen auch die pädagogischen Hochschulen gewinnen, stärker auf diesen Zug aufzuspringen. Das lässt sich leider nicht aus dem Boden stampfen.

Wenn man die Standards logisch weiterdenkt, müsste es zu einer Änderung der Lehrpläne kommen – werden die dann überhaupt noch nötig sein?
Man kann sie sehr knapp halten, weil dann die Standards plus gute Schulbücher und Lehrerhandbücher den Lehrern genug Information geben. Das bedeutet: Die Grundkompetenzen müssen gesichert werden, aber darüber hinaus kann man den Schulen und den LehrerInnen dann   große Freiheiten lassen – die Standards sind ja erfunden worden, um die Autonomie der Schulen zu unterstützen, es ist ein bisschen pervers, dass das jetzt in die Gegenrichtung interpretiert wird.
Christian Stenner
» Keine Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.
» Kommentar schreiben
Nur registrierte Benutzer können Kommentare schreiben.
Bitte melden Sie sich an oder registrieren Sie sich.
 
weiter >