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Gehirnforschung – Die Zukunft liegt im Kopf
Sonntag, 14. November 2010
Aus Anlass ihres 5-jährigen Bestehens veranstaltete die Initiative Gehirnforschung Steiermark (INGE St.) Anfang Oktober in der Aula der Alten Universität Graz einen internationalen Kongress zu aktuellen Themen der Gehirnforschung. Das Netzwerk INGE St. wurde 2005 gegründet, um die Rahmenbedingungen für steirische GehirnforscherInnen zu verbessern und die bestehenden Forschungsressourcen zu bündeln. Die Fragestellungen der Jubiläumstagung betrafen in einem breiten Spektrum von Referaten sämtliche Lebensbereiche, wie Univ.-Prof. Dr. Christa Neuper, Vorstand von INGE St. erklärt: „Was spielt sich in unseren Köpfen ab, wenn wir kreative Gedanken spinnen? Wie repariert sich das Gehirn? Gibt es einen neurologischen Zusammenhang zwischen Bauchschmerzen und Depressionen? Welchen Einfluss hat Genetik auf die Verarbeitung von Emotionen im Gehirn?“ Im Rahmen der Tagung sprach Josef Schiffer für KORSO mit dem Schweizer Prof. Dr. Jürg Kesselring, der in der Klinik Valens Therapien für Patienten mit Gehirnerkrankungen entwickelt.

Wie kann die Gehirnforschung zur Heilung von Krankheiten beitragen?
Als in der Rehabilitation tätiger Neurologe beschäftige ich mich mit Therapieformen bei häufig auftretenden Krankheiten wie Multiple Sklerose, Hirnschlag oder auch Unfällen, die das Gehirn betreffen. Für uns als Praktiker ist es wichtig – deshalb ist die Zusammenarbeit mit den Grundlagenwissenschaften so wichtig, dass wir vermehrt Kenntnis darüber erlangen, dass das Gehirn keine fix verdrahtete Kommunikationszentrale ist. Es passt sich wesentlich flexibler als früher vermutet und in einem fort an die Herausforderungen der Umwelt an, die sich in der Interaktion des Individuums mit seiner Umgebung äußert.

Welche Therapien leiten Sie für die Rehabilitation bei Schädigungen des Gehirns ab?
In der Rehabilitation sprechen wir hier von einem Lernprozess. Dabei ist zwischen der materiellen und der sozialen Umwelt zu unterscheiden, die unterschiedliche Anforderungen an die kognitiven Fähigkeiten der Patienten stellen. Die konkrete Interaktion ändert sich je nach Anforderungen, die von außen auf den Menschen zukommen sowie den vorhandenen Fähigkeiten bzw. der Begabung. Dabei nützt es auch zu beobachten, unter welchen Bedingungen man welche Fortschritte macht. Um sich zu stabilisieren, müssen die entsprechenden Verbindungen für bestimmte Fähigkeiten oder auch Handlungen im Gehirn gebraucht, also immer wieder trainiert werden nach dem Motto „Use it or lose it“.

Wie beurteilen Sie den ergänzenden Einsatz von Pharmazeutika?
Wenn wir immer wieder wir von in Entwicklung befindlichen Medikamenten gegen Alzheimer und andere degenerative Veränderungen des Gehirns hören, bin ich sehr skeptisch, da ich mir in dieser Richtung keine großen Durchbrüche erwarte. Diese Medikamente werden zwar Schäden mildern, aber das Aktiv-Sein des Menschen niemals ersetzen können, denn es wäre genauso erfolglos, wie eine Tablette zu schlucken, um ohne weitere Anstrengungen z.B. Französisch zu lernen.

Wie läuft der Behandlungsalltag in Ihrer Klinik ab?
In unserer Behandlung spielt das (Wieder-)Erlernen des Verhaltens im Alltag die zentrale Rolle. Was wir den PatientInnen im behutsam angepassten Tempo, sprich mit viel Geduld, hier beibringen wollen, ist den Alltag wieder erfolgreich zu bewältigen. Dabei handelt es sich um alltagsrelevante Aufgaben, die immer wieder trainiert werden müssen. Am besten ist es, wenn man jene Handlungen lernt, die ganz am Anfang stehen, wie Ankleiden, Schuhe schnüren oder Zähne putzen. Das ist überhaupt nicht banal, sondern erfordert von Menschen mit Gehirnschädigungen eine ungeheure Anstrengung und viel Geduld vom Therapeuten. Was wir auf jeden Fall vermeiden wollen, ist jene selbsterfüllende Prophezeiung, wenn man dem Kranken sagt, dass es sich in seinem Fall ohnehin nicht lohnen würde, weil es aussichtslos ist. Genau das Nichtstun führt nämlich dazu, dass es schlechter wird. Die Menschen werden heute sehr viel älter, weil die Medizin so große Fortschritte gemacht hat, aber das bedingt eben auch den Preis, dass wir nicht mehr an die Verlängerung der Lebensdauer, sondern an die Qualität des Daseins denken müssen. Für diese Zwecke müssen wir unsere Therapiepläne in dynamischer Antwort auf die Entwicklung des Patienten abstimmen. Die Kosten dafür sind sicher beträchtlich, aber auf der anderen Seite müssen wir den volkswirtschaftlichen Nutzen betrachten, wenn Menschen möglichst lange ohne fremde Hilfe wieder ein eigenständiges Leben führen können.
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