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Ministeriell zensuriert: Bericht zur Kinderarmut
Sonntag, 14. November 2010
Image Wenn Ministerien Studienergebnisse missfallen, kann’s schon mal passieren, dass sie im Endbericht fehlen. Armut von Familien mit Kindern ist ein gesellschaftliches Problem, das auch zunehmend reiche Länder wie Österreich betrifft. Eine von einem qualifizierten Institut im Auftrag von Staatssekretärin Christine Marek erstellte Untersuchung für den „Familienbericht 2009“  sollte die Hintergründe ausleuchten und Lösungsvorschläge präsentieren. Weil ihm die Ergebnisse offenbar missfallen, ließ das Familienministerium den Beitrag wieder aus dem Familienbericht streichen und will den Auftragnehmern auch kein Honorar bezahlen.

Zunächst die Fakten, wie sie die SozialwissenschafterInnen Tom Schmid, Tanja Bürg, Christian Diedo-Troy und Anna Wagner von der Sozialökonomischen Forschungsstelle zusammengetragen haben: In Österreich sind Familien mit Kindern deutlich armutsgefährdeter als Paare ohne Nachwuchs im Haushalt oder Alleinstehende. AlleinerzieherInnen gehören überhaupt zur armutsgefährdetsten Bevölkerungsgruppe: 20% alleinerziehender Familien sind armutsgefährdet und 12% manifest arm. Der Anteil armutsbedrohter Personen – insbesondere von kinderreichen und von AlleinerzieherInnen-Familien – ist zwischen 1997 und 2007 leicht angestiegen.
15% aller Kinder, Jugendlichen und abhängigen jungen Erwachsenen leben in armutsgefährdeten Haushalten – das ist ein Viertel aller armutsgefährdeten Personen in Österreich oder, in absoluten Zahlen, rund 130.000 Buben und Mädchen. Und: Trotz Transferleistungen durch die öffentliche Hand steigt auch heute das Armutsrisiko von Familien mit der Zahl der Kinder; während Mehrpersonenhaushalte mit einem oder zwei Kindern „vergleichsweise gut vor Armutsgefährdung geschützt“ sind, liegt das Armutsgefährdungsrisiko bei drei oder mehr Kindern im Haushalt deutlich höher. Fünf Prozent der Bevölkerung – das sind 400.000 Personen – lebten 2007 in manifester Armut, 136.000 davon in Haushalten mit Kindern.

Kinder und Beruf sind immer noch schwer vereinbar. Die Untersuchung deckt aber noch weitere Fakten auf, die der österreichischen Familienpolitik ein schlechtes Zeugnis ausstellen: Die Armutsgefährdung ist um so höher, je jünger die Kinder sind; erst wenn das jüngste Kind das schulpflichtige Alter erreicht, schaffen viele Mütter die Rückkehr in bzw. den Beginn einer Vollzeiterwerbslosigkeit. Erst dann sinkt das Armustrisiko wieder auf 11%. Ein klarer Hinweis darauf, dass wegen mangelnder Ganztagskinderbetreuungseinrichtungen Kinder und Beruf noch immer schwer vereinbar sind – und darauf, dass ohne einen Ausbau der Frauenerwerbstätigkeit sich die materielle Situation der Familien nicht bessern kann.
Bestimmte Unterstützungen, die von den Ländern gewährt werden, wie etwa Schulbeihilfen, Ermäßigungen im Kindergarten oder die Ermäßigung des Beitrages für die Nachmittagsbetreuung, können sofort und zur Gänze wegfallen, wenn durch ein – oft nur geringfügiges – zweites Einkommen oder eine minimale Anhebung der Unterhaltsleistungen die Einkommensgrenzen überschritten werden. Hier wären Einschleifregelungen nötig, finden  die AutorInnen der Studie. Kritik gibt es auch an den Absetzbeträgen für besondere Belastungen (wie etwa der steuerliche Selbstbehalt für Kinderbetreuung bei Alleinerziehenden oder für Zahnregulierungskosten): Diese sind naturgemäß nur bei Besserverdienenden relevant, ist das Einkommen so niedrig, dass es zu keiner Steuervorschreibung kommt, kann natürlich auch nichts abgesetzt werden.

Armutsfalle Mindestsicherung. Ein eigenes Kapitel widmen die AutorInnen der nun in Kraft tretenden Mindestsicherung, deren Höhe sich bekanntlich am Ausgleichszulagenrichtsatz orientiert, bei Umrechnung in Nettobeträge und umgelegt auf Jahreszwölftel lässt sich errechnen, dass eine Mindestsicherung in der Höhe des Ausgleichszulagenrichtsatzes um mehr als 10% unter der Armutsschwelle liegt. Diese Differenz liegt bei Zweipersonenhaushalten ohne Kind ebenfalls bei 10%, erhöht sich aber bei Zweipersonenhaushalten mit einem Kind auf 20% und bei Alleinerziehern mit einem Kind auf fast 24%. Zweipersonenhaushalte mit zwei Kindern liegen bei Bezug einer Mindestsicherung in der genannten Höhe bereits 27% unter der Armutsgefährdungsschwelle, Zweipersonenhaushalte mit drei Kindern um 32%. Dazu kommt aber, dass in den genannten Beispielen von einer 14-maligen Auszahlung ausgegangen wird – die Mindestsicherung soll aber nun nach dem Willen der ÖVP nur 12-mal ausbezahlt werden, wobei einzelne Bundesländer eine dreizehnmalige Auszahlung beschlossen haben (in der Steiermark werden nur die Kinderzuschläge 13-mal ausbezahlt werden).  Dass „hier nicht zumindest die Kinderzuschläge deutlich höher angesetzt werden, wird dies sicher Probleme für kinderreiche Familien schaffen“, stellen die AutorInnen fest.
Mit diesen Berechnungen ist natürlich ein zentraler Widerspruch des rigorosen sozialpolitischen Ansatzes der ÖVP zu ihrer offiziell familienfreundlichen Linie aufgedeckt. Es darf vermutet werden, dass darin einer der Gründe liegt, wieso das Ministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend die Aufnahme des „Armutskapitels“ in den „Familienbericht 2009“ verhinderte.

Daten verlangt, die es gar nicht gibt. Univ.-Prof. DDr. Nikolaus Dimmel vom Institut für Rechtspolitologie und Rechtssoziologie der Universität Salzburg war Supervisor des „Armutskapitels“ und hat zudem selbst einige andere Beiträge für den Familienbericht beigesteuert. Auch einige von ihm verfasste Abschnitte fanden nicht die Gnade der Ministerialbürokratie. Dimmel berichtet im Gespräch mit KORSO vom kafkaesken Entstehungsprozess des Berichts: Nach der Ausschreibung 2008/2009, in dem ein vollständiges, abgeschlossenes Werk angeboten werden sollte, „hat das Ministerium dann während des Verfahrens den Modus geändert.“ Mit dem Ziel, so vermutet Dimmel, „parteipolitisch opportune Institute einzubinden“, wurden mehrere Akteure am Bericht beteiligt. Zum Schluss arbeiteten „acht bis zehn Anbieter bzw. Konsortien nicht gemeinsam, sondern nebeneinander an dem Bericht.“ Ein- und derselbe Themenbereich wurde vom Ministerium mehrfach vergeben,  z.B. wurde das Thema Frauen-Erwerbstätigkeit vier Mal in den Berichten nach Vorgabe des Familienministeriums aufgearbeitet.
Aufgrund verschiedener Unklarheiten betreffend die Behandlung des Armuts-Themas wurde dann im März 2009 mit dem Familienministerium gemeinsam ein Inhaltsverzeichnis festgelegt, in dem ein eigenes Kapitel zur Armut ausdrücklich vorgesehen wurde. Aber: Trotz mehrfacher Treffen zwischen einem Vertreter des Ministeriums und dem Autor Schmid und trotz der Einarbeitung von Änderungswünschen des Ministeriums teilten dessen Vertreter, so Dimmel, am 18. August 2009 im Rahmen einer Mediationssitzung mit, dass dieses Kapitel gestrichen werden sollte. Die Begründung: Die Daten seien schlecht, unter anderem seien die aktuellen Ergebnisse der EU-SILC (Community Statistics on Income and Living Conditions) 2009 nicht eingearbeitet worden. Dimmel: „Nur – EU-SILC 2009 gibt es gar nicht.“
Allerdings hatten die Wissenschafter in der Tat auf bestimmte Daten verzichten müssen – warum, dazu gebe es, so Dimmel, einen schriftlich dokumentierten Vorgang: „Das Ministerium hat einen Rahmenvertrag mit der Statistik Austria über die Lieferung dieser Daten abgeschlossen – meines Wissens ging es dabei um 30.000 Euro, die vom Ministerium bezahlt worden wären. Statistik Austria stieg jedoch aus dem Vertrag aus. Die Daten hätten danach von den Berichterstellern selbst bezahlt werden müssen. Die Kosten dafür hätten jedoch das Honorar für die Berichterstellung um das Dreifache überschritten.“

Die Intervention des Sektenbeauftragten.
Aber auch was seine eigenen Beiträge zum Familienbericht betrifft, konnte Professor Dimmel interessante Erfahrungen machen. Es habe, berichtet er, auch den Versuch gegeben, auf bestimmte Inhalte Einfluss zu nehmen: „So wurde vom Ministerium interveniert, dass im Bericht nicht stehen dürfe, dass es stationäre Heime in der Jugendwohlfahrt gibt. Diese Heime gibt es jedoch. Sie sind auch budgetiert. Sie existieren.“
Ferner hätten mehrere Beauftragte des Familienministeriums, die allerdings von außen gekommen seien, deren Interventionen vertraglich nirgendwo vereinbart waren und deren Kompetenz nirgendwo festgelegt war, interveniert. Dimmel: „So hat etwa der Vizepräsident des östereichischen Familienbundes, Anti-Abtreibungs-Kämpfer und Mitglied im Initiativkreis für Bischof Krenn, der niederösterreichische Sektenbeauftragte Mag. Peter Pitzinger, mehrfach versucht, Sequenzen aus dem Bericht herauszureklamieren.“

„Unüberbrückbare Auffassungsunterschiede.“
Damit aber nicht genug, weigert sich das Ministerium nun auch, das vereinbarte Honorar für den Bericht zu bezahlen. Dimmel berichtet: „Ich selbst wurde damit beauftragt, eine Kurzfassung des Berichtes zu verfassen, diese wurde am vereinbarten Tag, dem 15. September 2009, übermittelt – ohne Reaktion von Seiten des Ministeriums. Daraufhin wurde der Endbericht übermittelt, auch dieser wurde zunächst ignoriert. Mitte November wurde mir ein zwei Monate rückdatierter Brief per Post zugestellt. In diesem wurde mitgeteilt, dass der Vertrag rückwirkend auf Grund von „unüberbrückbaren weltanschaulichen Auffassungen“ gekündigt wird und angekündigt, dass das Ministerium nichts für den Bericht zahlen wird. Warum, glaubt Dimmel zu wissen: „Die Kurzfassung beinhaltete offenbar auch ideologisch inopportune Inhalte, z.B. die Themenbereiche Armut, Gesundheit und andere kritische Aspekte, die in den anderen Teilen fehlten, z.B. Homosexuelle und Erziehung, Bewertung von Hausarbeit und die Feststellung, dass Armut, familiäre Gewalt, Erziehungsleistungen usw. schichtspezifisch sind.“
Für den Fall eines Rechtsstreits, so Dimmel, habe das Ministerium mögliche Gegenforderungen angedeutet, die Verfahrenskosten wären auch im Fall eines Vergleichs um ein Vielfaches höher als die vorenthaltene Honorarsumme von 40.000,-- Euro.
Die Verantwortung Mareks für den Zensurakt: Es habe sich „um einen Bereich gehandelt, der nicht einmal annähernd den Qualitätskriterien entsprochen hat.“

| Johanna Muckenhuber
| Christian Stenner


Machen Sie sich selbst ein Bild: Das „Armutskapitel“ des „Familienberichts 2009“ finden Sie unter:
http://www.salzburger-armutskonferenz.at/wp-content/uploads/2010/10/Familienarmut_Familienbericht.pdf
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