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Buchrezensionen |
Dienstag, 5. Oktober 2010 | |
Rudolf Brunngraber: Karl und das 20. Jahrhundert | Juan Gabriel Vasquez: Die Informanten
Belletristik Die Wahrheit über das vergangene Jahrhundert Rudolf Brunngraber: Karl und das 20. Jahrhundert. Wien: Milena 2010. 300 S., gebunden, Euro 21,90 Als ich meinen „Kleinen Kulturführer durch die Krise“ niederschrieb (siehe KORSO März bis Mai 2010) ging ich davon aus, dass dieser erstmals 1932 erschienene Roman von Rudolf Brunngraber weiter vergriffen bleiben würde. Obwohl ich mit dem gerade in den letzten Jahren äußerst verdienstvollen Wiener MILENA-Verlag hätte rechnen müssen. Dieser vor allem auf weibliche Autoren spezialisierte Verlag machte in kurzer Zeit unter anderem folgende Texte (wieder) zugänglich: Hilde Spiel, Rückkehr nach Wien (1946 verfasst, 1968 zur Publikation freigegeben); Vilma Neuwirth, Glockengasse 29 (Eine jüdische Arbeiterfamilie in Wien. „Dieses Buch habe ich gelesen wie einen Krimi“ – Elfriede Jelinek, Vorwort); Franziska Tausig (Mutter von Otto Tausig), Shanghai Passage. Nun also auch den österreichischen Roman über die Weltwirtschaftskrise von Rudolf Brunngraber (1901 – 1960). Politisch alles andere als ein „Heiliger“ (ließ sich in der Nazizeit von Goebbels, wohl aus Ruhmesgründen, hofieren; war dafür bis zuletzt blinder Antikommunist), gelang Brunngraber mit dem Weltwirtschaftskrisenroman der berechtigte literarische Durchbruch. Der historische Bogen der aus der Arbeiterschaft kommenden Hauptfigur Karl Lackner spannt sich vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis zum Vorabend des Faschismus in Deutschland und Österreich. Und Brunngraber verknüpft das Leben dieser Figur schlüssig mit den global wirkenden technischen und wirtschaftlichen Zwängen, Abgründen und Katastrophen. Angeregt zu diesem Roman wurde Brunngraber unter anderem durch den österreichischen Philosophen Otto Neurath, der in Hinblick auf die sozialen Auseinandersetzungen die Bedeutung statistischen Materials ins Blickfeld gerückt hatte. Der davon geprägte Roman ist nicht nur in inhaltlicher und thematischer Hinsicht beachtlich, sondern erobert auch formal ein für die damalige Zeit im deutschen Sprachraum vergleichsweise neues Terrain. \ kw Diese Rezension hätte bereits in der KORSO-Septemberausgabe erscheinen sollen; aufgrund eines redaktionsinternen Kommunikationsproblems brachten wir dort aber nur ein kurzes Textzitat aus dem Roman. Kolumbianische Zeitreise Juan Gabriel Vasquez: Die Informanten. Schöffling & Co, Frankfurt/Main 2010. 389 S., Euro 23,60 In „Die Informanten“ entwirft der Kolumbianer Juan Gabriel Vasquez nicht nur ein Zeitlabyrinth, das an „100 Jahre Einsamkeit“ seines berühmten Landsmannes Marquez erinnert. Er erzählt darüber hinaus eine bittere Episode aus den Zeiten des Faschismus. Ab 1938 werden in Kolumbien auf Druck der Amerikaner und mit Hilfe von Denunzianten deutschen Einwanderern – Juden und Nazis – ihre bürgerlichen Rechte genommen. Vasquez Held und Ich-Erzähler, der Journalist Gabriel Santoro, veröffentlicht ausgehend von Gesprächen mit Sara Guterman, einer Zeitzeugin und Freundin der Familie, ein Buch über diese unheilvolle Vergangenheit. Sein Vater, ein angesehener Rhetorikprofessor in Bogota, verreißt die Arbeit des Sohnes allerdings: Das Buch sei zwar originell und klug, aber nicht klug, wo es originell und nicht originell, wo es klug ist. Jahre später muss sich der pensionierte Vater einer Bypassoperation unterziehen und unternimmt als Rekonvaleszent mit seiner Physiotherapeutin und Geliebten eine Fahrt nach Medellin. Auf der allein angetretenen Rückreise verunglückt er tödlich. Die in Medellin versetzte Geliebte macht im Fernsehen bekannt, dass der scheinbar untadelige Professor den Sohn jenes Mannes, Enrique Deresser, aufgesucht hat, den er seinerzeit in den 40er Jahren denunziert hatte. Immerhin hatte Deresser, verlassen von Frau und Sohn, Selbstmord begangen. Der gute Ruf des Professors, seine Ehrungen und Auszeichnungen sind post mortem dahin. Vor dem Hintergrund der alltäglichen Gewalt Kolumbiens – Attentate, Schießereien, Überfälle – kommt der vom Recherchieren besessene Gabriel Santoro von dieser Familienschuld nicht los. Er veröffentlicht ein weiteres Buch über das Thema und diesmal lädt ihn der Sohn des Opfers nach Medellin ein. Gabriel Santoro reist auf den Spuren seines Vaters von Bogota an, wo er sich nächtens aus der Wohnung des Gastgeber hinunter in seinen PKW schleicht, um nicht freigegebene Briefe heimlich abzuschreiben: Es ist ihm unmöglich, sich aus dem Malstrom der Geschichte zu befreien. „Die Informanten“ ist eine faszinierende Vater-Sohn-Geschichte, eine leidenschaftliche Anklage gegen Totalitarismus und Denunziation, eine präzise Schilderung des gegenwärtigen Kolumbiens und ein halluzinatorischer Trip durch die Labyrinthe immer unverlässlicher Erinnerungen. | wh
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