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Die Türkei zwischen Reformprozess und Krisen
Montag, 19. Juli 2010
Im Rahmen der Urania-Reihe „Istanbul – Stadt zwischen Europa und Asien“ referierte Prof. Dr. Udo Steinbach Anfang Juni an der Grazer TU zum Thema „‚Neo-Osmanen‘ in Ankara. Wendet die Türkei der Europäischen Union den Rücken zu? “ Der deutsche Orientalist ist u.a. Mitbegründer der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient für gegenwartsbezogene Forschung und Dokumentation (DAVO) und lehrt derzeit am erst kürzlich eingerichteten Zentrum für Nah- und Mitteloststudien der Philipps-Universität Marburg/L. Für KORSO sprach Josef Schiffer mit dem Wissenschaftler über die politische Lage in der Türkei, das Verhältnis zur EU und Israel sowie die Rolle der Religion. Sie haben in den sechziger Jahren Islamwissenschaft studiert, wie sind Sie zu diesem damals relativ exotischen Studium gekommen?
Mein Vater hatte während des 1. Weltkrieges als junger Soldat im kaiserlichen Expeditionskorps in der Türkei gedient. Er hat zwar nicht sehr oft davon erzählt, aber vielleicht war das mit eine der Ursachen für mein früh ausgeprägtes Interesse am Vorderen Orient, das ich als Student in den damaligen Hochburgen der Orientforschung, in Freiburg im Breisgau und in Basel, in den Fächern der islamischen Kultur- und Literaturgeschichte vertiefen konnte. Das Thema hat mich auch später nie mehr losgelassen, so war ich neben meiner akademischen Lehrtätigkeit von 1976 bis 2007 Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg.

Wie schätzen Sie die politische Situation in der Türkei zurzeit ein?
In Europa wird der radikale Wandel, in dem sich die türkische Gesellschaft und Wirtschaft befinden, vielfach massiv unterschätzt. Seit der 1999 gefallenen Entscheidung der EU, die Türkei zu einem Kandidaten für eine Mitgliedschaft zu machen, und den darauf im Oktober 2005 aufgenommenen Beitrittsverhandlungen, hat in diesem wichtigen Land an der Schwelle zwischen Europa und Asien ein tiefgreifender Wandlungsprozess eingesetzt. Mit seinem Reformprozess hat Ministerpräsident Recep Erdogan die Grundlagen für eine umfassende Demokratisierung und damit eine pluralistische Gesellschaft in der Türkei gelegt, die sich bereits in vollem Gange befindet. Zugleich wurde die Machtposition des Militärs entscheidend geschwächt und die Gefahr eines Putsches verringert, indem führende Köpfe der Streitkräfte in Aufsehen erregenden Prozessen wegen Verschwörungsplänen verurteilt und mit Haftstrafen belegt wurden.

Hat sich die Türkei unter dem Einfluss der Neo-Osmanen von Ihrer Annäherung an die EU verabschiedet?
Das kann man überhaupt nicht sagen. Neben ihrer Öffnung gegenüber Europa hat die Türkei als zweite Schiene die strategische Wichtigkeit der Kontakte zu den östlichen Nachbarn erkannt und ist dabei diese Chance für die Stärkung ihrer Rolle zu nutzen. Dies bedeutet aber keinesfalls eine militärische Großmachtpolitik, wie manche Kritiker im Westen befürchten, sondern eine Politik der strategischen Tiefe. Auf der einen Seite fungiert die Türkei als Vermittler in dieser Krisenregion – eine Rolle die auch von der Europäischen Union anerkannt wird – und auf anderen verfolgt sie ihre wirtschaftlichen Interessen: Die innerasiatischen Länder sind die Hoffnungsmärkte der Zukunft und haben schon bedeutende Nachfragepotenziale aufgebaut. Der Wert der türkischen Exporte in den Mittleren Osten ist zwischen 2000 und 2008 von 2,57 auf 25,41 Milliarden Dollar gestiegen und hat sich damit beinahe verzehnfacht. Mit Hilfe der sehr weit gediehenen Pläne für die Nabucco-Pipeline wird die Türkei zur Drehscheibe des Erdöl- und Gastransports zwischen den fossilen Ressourcen in Zentralasien und am Golf und den Verbrauchern in Europa zu werden.

Inwiefern belasten die Konflikte mit der kurdischen Minderheit und die nach wie vor angespannte Atmosphäre zu Armenien die Situation in der Türkei?
Es gibt natürlich immer noch starke Kräfte innerhalb der Türkei, die in der Kurdenfrage als Bremser wirken. Innenpolitisch sind die Gegner eines Ausgleichs mit den Kurden weitgehend identisch mit den Kräften, die sich einer weiteren Aufklärung im Ergenekon-Prozess (einer nationalistischen Verschwörung), insbesondere der Aufklärung innerhalb des Militärs, entgegenstellen; neben der Armee also vor allem die kemalistische CHP (im Verbund mit der MHP). Die AKP Erdogans dagegen ist weitgehend bereit, den Weg zur Lösung des Konflikts mit den Kurden voranzutreiben, hat aber dabei mit großen Widerständen zu kämpfen. Insbesondere die jüngsten Entscheidungen des Verfassungsgerichts bedeuten einen Rückschlag für die Politik des Ministerpräsidenten. Dennoch bin ich für die Zukunft zuversichtlich: Eine Destabilisierung der Türkei und eine grundlegende Änderung des Kurses der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erneuerung sind weitgehend auszuschließen. Das Verhältnis zu Armenien ist schwieriger, denn die Türkei sieht sich als die traditionelle Schutzmacht Aserbaidschans, von dessen Territorium rund ein Fünftel seit Jahren von Armenien kontrolliert wird. Der türkisch-armenische Annäherungsprozess wurde zuletzt wieder von einer Abkühlung überschattet.

In welche Richtung wird sich die Türkei in den kommenden Jahren bewegen?
Die Auswirkungen der Reformpolitik Erdogans sind unübersehbar: Die Türkei hat sich in vielen Standards der EU stark angenähert. Das Wirtschaftswachstum ist trotz Krise extrem dynamisch geblieben und das Land die bei weitem bedeutendste Wirtschaftsmacht in der Region, die in den vergangenen Jahren rund 17 Mia Euro Auslandsinvestitionen verbuchen konnte. Die Parlamentswahlen von 2007 waren ein deutlicher Beweis dafür, dass die Befürworter einer autoritären Politik zahlenmäßig zunehmend von denjenigen Türken überflügelt werden, die – unabhängig von ihren religiösen Einstellungen – den demokratischen Wandel im Lande deutlich begrüßen. Außenpolitisch ist die Stellung der Türkei durch ihre Unterstützung für den Iran und den jüngsten Konflikt mit Israel (durch dessen Kapern eines türkischen Schiffes der Gaza-Hilfsflotte) zwiespältig. Um eine Annäherung der Türkei an Europa nicht weiter zu blockieren, wird sich die EU-Politik in Zukunft entscheiden müssen, ob sie nicht auch von Fall zu Fall mehr Verständnis für die türkische Position aufbringen sollte.
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