Der „fremde Blick“ ist ein von der Psychoanalytikerin Goldy Parin-Matthey gebrauchter Begriff, der eine Arbeitseinstellung des Ethnologen oder Ethnoanalytikers im fremden Forschungsfeld – die Verfremdung des Vertrauten durch Distanz – beschreibt. Vereinfacht gesprochen: ein Perspektivenwechsel, der erkenntnisfördernd wirkt. Einem solchen unterzieht sich auch der Regionale-10-Bezirk Liezen: 14 KünstlerInnen aus aller Welt wohnen zwei Wochen lang im Bezirk und berichten ihr (der Welt) in ihren Blogs unter www.fremdsehen.at von ihren Erlebnissen und Erkenntnissen. Am 30. Juni wurden sie von den Bürgermeistern der Gemeinden bei einer Auftaktveranstaltung im Hotel Karow in Liezen willkommen geheißen.
„Über das Fremde hinwegsehen“ Nein, in Chile spricht man nicht Portugiesisch und ja, Sarajevo ist tatsächlich die Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas. Es war unterhaltsam, unter der Moderation von Edith Draxl von uniT quizartig gespiegelt zu bekommen, wie lückenhaft unser Wissen über gewisse Länder ist. Jetzt sind Menschen, die in diesen Aus-Ländern geboren sind, sogar mitten unter uns. Im Rahmen des Regionale10-Projekts FREMDSEHEN.AT wurden am 30. Juni 14 KünstlerInnen von jenen Bürgermeistern aus dem Bezirk Liezen willkommen geheißen, welche sie ab 1. Juli zwei Wochen lang als Gäste in ihren Gemeinden beherbergen. Wie das bei KünstlerInnen so ist, muss man sich auch auf Ungewöhnliches einstellen. Zwar ist für den Öblarner Bürgermeister Ehrenfried Lemmerer das Multikulturelle „absolut kein Neuland“, war er doch jahrelang in afrikanischen Ländern in Minen tätig, dennoch ist für ihn klar, dass „die einen das Projekt super finden werden und die anderen nichts damit anfangen können“. In einigen Wochen werden wir wissen, welche Effekte Pramod Harveys Vorstellungen von Liebe, Kochen und Filmen unter dem Titel „Paula Grogger trifft Bollywood“ bei den den Einheimischen zeitigte.
Jin Yan war schon da. Manfred Danklmaier, Bürgermeister von St. Martin am Grimming, erwartet sich durch seinen Gast Jin Yan „eine komplett fremde Kultur zu erleben. Ich denke, es wird eine Art von Kulturschock für beide Seiten, wo es darum geht, voneinander etwas zu erfahren.“ Jin Yan, die in ihrem Projekt mit Märchen arbeitet, hat sich in der Gegend bereits zweimal inkognito umgesehen und dabei chinesische Lampions als Markenzeichen hinterlassen. „Ich habe mich gleich wohl gefühlt im Ort, der sehr gut zu meinem Thema passt.“ Der Selzthaler Bürgermeister Alois Eckmann ist ebenfalls angetan vom Zusammentreffen verschiedener Kulturen und Menschen. In seinem Ort bearbeitet die Fotografin Maryam Mohammadi die tragische Geschichte des Ostersonntags 1945, als bei einem US-Bombenangriff an die 40 Menschen starben. Die dabei entstehende Fotoausstellung in einem leerstehenden Lokal soll laut Eckmann Menschen aus der Region motivieren, sich auf den Ort näher einzulassen. Denn es gibt viele, die in den Eisenbahnerort vor langer Zeit zugezogen sind und bei ihrer Ankunft noch meinten: „Nein, da bleib ich nicht lange.“
„Jemanden auch mal privat zum Essen einladen.“ Eva Reithofer-Haidacher, für Megaphon im Organisationsteam, freut sich ob der positiven Aufnahme der KünstlerInnen, hatte sie doch Bedenken, dass die Stimmung zwischen Gemeinde- und Landtagswahl etwas aufgeheizt sein könnte. Ähnlich Regionale-Intendant Dietmar Seiler, der vom Engagement der Bürgermeister begeistert ist, die sich etwa trotz Wirtschaftskrise und anderer Probleme „mit voller Freude darauf einlassen, Leute auf unkonventionelle Art kennenzulernen“. Nochmals Ehrenfried Lemmerer: „Ich finde es sehr gut, dass Menschen die Angst genommen wird vor Fremden. Das Projekt sollte dafür genutzt werden, dass man aufeinander zugeht.“ Hinsichtlich der Gäste „ist es jetzt wichtig Kontakte zu knüpfen und jemanden auch mal privat zum Essen einzuladen.“ Denn mit dem Projekt solle man „genauer hinschauen und über das Fremde hinwegsehen.“ Emina Saric ist Autorin und Germanistin und stammt aus Bosnien-Herzegowina. 1.7. bis 14.7., Donnersbach und Aigen. Emina stellt Fragen nach der Herkunft der Menschen, denen sie begegnet.
Lindita Komani kommt aus Albanien und hat in Graz Betriebswirtschaft studiert. Sie schreibt Gedichte, Kurzprosa, Essays und Bühnentexte auf Albanisch und Deutsch. 1.7. bis 14.7., Gössenberg. Lindita will möglichst viele Gössenberger kennenlernen und sich vom Ort erzählen lassen – im Gegenzug erzählt sie von Albanien. Carla Bobadilla lebt und arbeitet seit 2002 als Fotografin und Konzeptkünstlerin in Wien, sie verfügt über ein Diplom aus Bildender Kunst der Universität Valparaiso, Chile. Zahlreiche Ausstellungen, Preise und Stipendien in Österreich und im Ausland. 1.7. bis 9.7. und 21.7. bis 24.7., Pruggern und Michaelerberg. Carla will einen „Katasterplan der Gefühle und Geschichten“ erstellen, die ihr zu Ohren gebracht werden.
Mercy Dorcas Otieno wurde 1988 in Nairobi/Kenia geboren, lebt seit zwei Jahren in Österreich, besucht den Vorstudienlehrgang der Uni Graz und arbeitet am Schauspielhaus. 5.7. bis 19.7., Irdning. Mercy will mit den Menschen beim Kochen und Essen in Kontakt kommen und sie zum Tanzen bringen.
Mirko Maric wurde 1949 in Bosnien-Herzegowina geboren, studierte bildende Kunst in Sarajewo und war als Künstler äußerst erfolgreich. Emigrationnach Paris, 1993 nach Graz, Mitglied bei „rhizom“, zahlreiche Ausstellungen. 1,7. bis 14.7., Schladming. Mirko will sich als „Ausheimischer“ von den Einheimischen entdecken lassen.
Julya Rabinowich wurde in St. Petersburg geboren, als es noch Leningrad hieß. Mehrfache Literaturpreisträgerin. Sie lebt als freie Malerin und Schriftstellerin in Wien, 1.7. bis 14.7., Großsölk. Julya will den Menschen näher kommen, indem sie über die Landschaft schreibt und sich erzählen lässt.
Pramodchandra Harvey wurde in Bombay geboren und lebt seit 18 Jahren in Graz. Der ausgebildete Biologe ist für die studienbegleitende Bildung von StipendiatInnen des Afroasiatischen Institutes zuständig. 5.7. bis 19.7., Öblarn und Niederöblarn. „Pamir“ interessiert, wie man‘s in dieser Gegend mit der Liebe hält – im Gegenzug wird er Bollywood vorstellen.
Jin Yan wurde 1984 in China geboren, sie ist in Graz aufgewachsen und hat hier die Matura absolviert und schreibt und publiziert seit der Hauptschulzeit. 1.7. bis 14.7., St. Martin am Grimming. Jin will mit den hier lebenden Menschen Märchen und Sagen tauschen.
Maryam Mohammadi lebt als selbstständige Fotografin in Österreich und unterrichtete von 2004 bis 2009 Fotografie an der Teheraner Kunstuniversität. 1.7. bis 14.7., Selzthal. Maraym sucht Familien, die ihr Fotoalbum für sie öffnen.
John Mounir Hanna wurde in Ägypten geboren, er ist 24 und studiert in Graz Architektur. 10.7. bis 24.7., Bad Mitterndorf. John interessiert, wie sich das Leben und die Architektur in Bad Mitterndorf entwickelt haben. Marisol Kahrrillo wurde in Caracas geboren. Seit Dezember 2006 lebt sie in Österreich und begeistert ihr Publikum im In- und Ausland mit Liedern und Arien lateinamerikanischer und europäischer Komponisten. 10.7. bis 24.7., Mitterberg. Marisol will mit allen in Kontakt treten, die Musik machen – und das erste Mitterberger Ukulele-Orchester gründen.
Fiston Mwanza wurde in Lubumbashi (Demokratische Republik Kongo) geboren, er ist mehrfacher Literaturpreisträger und aktuell Stadtschreiber in Graz. 8.7. bis 22.7., St. Gallen. Fiston wird in St. Gallen öffentlich lesen und schreiben.
Seher Çakır wurde in Istanbul geboren und wuchs in Wien auf. Sie erhielt 2008/2009 das österreichische Staatsstipendium für Literatur. 5.7. bis 19.7., Stainach. Am 1. August um 11 Uhr im Café Stainach wird Seher sich mit dem Ort zu einem Blind Date treffen.
Katerina Cerná wurde 1985 in Tschechien geboren, lebt seit 1989 in der Steiermark. Sie studiert russische Philologie in graz und schreibt. 10.7. bis 24.7., Admont. Katerina wird junge Leute befragen, wie sie ihre Zukunft sehen, und daraus ihre Geschichten entwickeln.
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