Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Erziehungsterror und Kindesmissbrauch. Neue Ketzereien.
Montag, 19. Juli 2010
Wimmlers Demontagen von Karl Wimmler Nein, hier nicht nochmals und auch noch an dieser Stelle die Aufbereitung katholischer „Skandale“. Wenn auch eine Nachbereitung der Berichterstattung lustig sein könnte. Etwa wenn man die Hymne des ehemaligen ORF-Generalintendanten und lässigen Haberers Podgorsky auf das von ihm absolvierte Admonter Stiftsgymnasium Revue passieren ließe. Und von den Stiftsbesuchen des berühmten Sohnes eines  langjährigen Abtes dieses Benediktinerstifts plaudern könnte, ohne sofort dem Gegeifer aus manchen Ecken ausgesetzt zu sein. Ruhe in Frieden, Toni Sailer.

Die Unterdrückung alles Lebendigen.
Auch ich mag den Begriff vom „Kindesmissbrauch“ eigentlich nicht. Weil er suggeriert, dass es einen vernünftigen, gestatteten, ja erwünschten Gebrauch von Kindern gäbe. Ich lenke daher heute die Aufmerksamkeit meiner Leserinnen und Leser darauf, dass bald nach den ersten Berichten der letzten Skandalwelle vor mehr als einem halben Jahr Beiträge auftauchten, die nicht in erster Linie die sexuelle Gewalt durch katholische Würdenträger in den Mittelpunkt rückten, sondern den Terror dessen, was noch vor vier, fünf Jahrzehnten normaler Erziehungsalltag hierzulande war. Die im April dieses Jahres verstorbene Schweizer Kinderpsychologin Alice Miller hat dessen Prinzipien im Jahre 1980 („Am Anfang war Erziehung“) so zusammengefasst:
1. dass die Erwachsenen Herrscher (nicht Diener!) des abhängigen Kindes seien;
2. dass sie über Recht und Unrecht wie Götter bestimmen;
3. dass ihr Zorn aus ihren eigenen Konflikten stammt;
4. dass sie das Kind dafür verantwortlich machen;
5. dass die Eltern immer zu schützen seien;
6. dass die lebendigen Gefühle des Kindes für den Herrscher eine Gefahr bedeuten;
7. dass man dem Kind so früh wie möglich seinen ‚Willen benehmen’ müsse;
8. dass alles sehr früh geschehen sollte, damit das Kind ‚nichts merke’ und den Erwachsenen nicht verraten könne.
Die Mittel der Unterdrückung des Lebendigen sind: Fallen stellen, Lügen, Listanwendung, Verschleierung, Manipulation, Ängstigung, Liebesentzug, Isolierung, Misstrauen, Demütigung, Verachtung, Spott, Beschämung, Gewaltanwendung bis zur Folter.

Schwarze Pädagogik.
Überhaupt geht es dieser Pädagogik laut Miller nicht zuletzt auch darum, die Kinder früh dazu zu erziehen, Schuldgefühle zu haben. Und: Zur ‚Schwarzen Pädagogik’  gehört es auch, dem Kind von Anfang an falsche Informationen und Meinungen zu vermitteln…wie: … dass Härte und Kälte eine gute Vorbereitung fürs Leben bedeuten; dass vorgespiegelte Dankbarkeit besser sei als ehrliche Undankbarkeit; dass Verhalten wichtiger sei als Sein; dass die Eltern und Gott keine Kränkung überleben würden; dass der Körper etwas Schmutziges und Ekelhaftes sei…  – Man muss heute nicht im Pensionsalter sein, damit einem das meiste davon noch ziemlich bekannt vorkommt. Und es ist auch richtig, vieles davon mit dem Einfluss des Christentums, bei uns des Katholizismus, in Verbindung zu bringen – ohne damit sofort alle heutigen im pädagogischen Bereich tätigen Christen unter Generalverdacht zu stellen, was abwegig wäre. Jahrhundertelang war die Erziehung in Europa das Gebiet religiöser Funktionäre (wenig anders übrigens auch in den mir bekannten islamischen Ländern). Das ist weithin bekannt und wenig verwunderlich. Verwunderlich ist da schon eher, wie lange es gebraucht hat, bis in diese Front des Terrors gegen die Kinder eine Bresche geschlagen wurde. Bis der Geist der  Aufklärung auch in diesem Bereich dem Dunkelmännertum erste Niederlagen zufügte.

Die RAF und die Fürsorgeheimkinder.
„Was gemeinhin für Missstände in den Heimen gehalten wird, ist deren Praxis und Prinzip. Anpassung und Disziplinierung sind das Erziehungsziel – hinter verschlossenen Türen sind alle Mittel erlaubt.“ – Dieser Satz allerdings stammt nicht von Alice Miller, sondern von einer anderen Frau. Erich Fried bezeichnete sie 1976 in einem Telegramm, das bei ihrem Begräbnis in Berlin vor 4000 Trauernden vorgelesen wurde, als „die bedeutendste Frau in der deutschen Politik seit Rosa Luxemburg“. Der für das Fernsehen produzierte Film „Bambule“, der den Satz laut Drehbuch beinhaltete, sollte im Mai 1970 durch die ARD ausgestrahlt werden. Zu diesem Zeitpunkt wurde seine Drehbuchautorin Ulrike Marie Meinhof bereits seit einer Woche polizeilich gesucht – wegen Befreiung des Gefangenen und Kaufhausbrandstifters Andreas Baader. Der Film handelt von den Betroffenen auf der untersten Sprosse der pädagogischen Leiter – Fürsorgeheimkindern. Und dem täglichen Terror, dem sie ausgesetzt sind. Und ihm ging eine Kampagne von linken Studenten und Lehrlingen gegen geschlossene Einrichtungen wie etwa das hessische Fürsorgeerziehungsheim Staffelberg voraus, an der sich unter anderem die späteren RAF-Terrorist/inn/en Ulrike Meinhof, Andeas Baader, Gudrun Ensslin, Astrid und Thorwald Proll beteiligten und bei der u.a. Peter-Jürgen Book aus dem Heim flüchtete. Und woraufhin Wohnkollektive gegründet wurden, nach deren Vorbild die noch heute üblichen „betreuten Jugendwohngemeinschaften“ entstanden.

Bücher aus dem Hause Wagenbach.
Meinhofs Film wurde erst vierundzwanzig Jahre später von der ARD als „Fundstück“ ausgestrahlt. Und von Verdiensten der heute nur noch als mordende Unholde geläufigen RAF-Terroristen in Erziehungsdingen will in Zeiten wie diesen erst recht niemand mehr was wissen. Ihre Niederlage als Gruppe und ihr terroristischer Irrweg waren und sind ihren Gegnern Beweis genug. Und Irrwege sind ja bekanntlich das Schlimmste für Leute, die sich noch nie auf einen eigenen Weg gemacht haben.
Von all dem wüsste ich wenig bis nichts, hätte es die Bücher des (auch Erich-Fried-) Verlegers Klaus Wagenbach nicht gegeben. Bis heute führt der von ihm gegründete und bis vor einigen Jahren auch von ihm geleitete Verlag entgegen der üblichen Verlagspraxis des Verramschens von Büchern wenige Jahre nach deren Erscheinen noch immer „Bambule“ und ein weiteres Buch mit Meinhof-Texten im Programm. Gegen alle Anfeindungen, vor allem in den siebziger Jahren. Und Wagenbachs Grabrede für Ulrike Meinhof ist heute immer noch lesenswert. Klaus Wagenbach feiert in diesen Tagen seinen 80. Geburtstag. Respekt! Und Glückwunsch!
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