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Buchrezensionen |
Freitag, 11. Juni 2010 | |
Belletristik Phantasmen Günther Eichberger: Leere Abwesenheitsmitteilung. Versuche. Wien: Sonderzahl 2010. edition graz 04. 146 S., Euro 16,00 Der junge Mann hieß Abwesenheitsmitteilung, das schöne Mädchen ebenfalls, da sie zufällig so hießen, waren sie, eng befreundet, froh, immerhin verschiedene Vornamen zu haben; er hieß Leere, sie Lehre. Und als sie in der Steppe aufeinander zugingen, prallte Leere unerwartet zurück, fiel ins Gras und wurde von Lehre nach dem Grund seines Sturzes gefragt, den er als die Einbildung, gegen eine Glaswand gestoßen zu sein, vermeldete. Lehre freute sich, nach eingehender Prüfung keine Glaswand gefunden zu haben, denn ihrer Meinung sei das Phantasma der beste der zur Zeit erhältlichen Gründe. Einem alten Schmetterling folgend, landeten sie anderen Orts in der Steppe, wo Leere in seiner Liebe zu dem Satz „Wird nicht die Mortadella von Blinden gemacht?“, den anwesenden Blinden fragte, ob der Eindruck, gar nicht zu existieren, aus dem Menschen einen Schwindler mache? Der Blinde drohte mit dem Blindenstock. Da hört sich alles auf, sagte Leere, nicht einmal Blinde sind in der Lage, das Geschenk einer wertvollen Frage anzunehmen. Weiter unten am Fluss, er war ausgetrocknet, trafen sie auf 15 Menschen, die 5 Security-Leute, während sie ihnen Geld gaben, mit Prügel überzogen. Im leeren Flussbeet stand ein Musikautomat, der unentwegt, schwebend über einem einzigen Ton, verkündete, dass dieser Fluss kein Wasser führt. Man erfuhr, den Security-Leuten Prügel und Geld zu geben, mache Spass, ein Fest, erfunden vom bekannten Event-Designer Eichberger himself. Endlich verstehe ich, sagte Leere, die Bedeutung meines Namens. Aber, antwortete Lehre, dass man denselben Namen haben kann, beweist, dass er für die verschiedensten Bedeutungen gut genug ist. Unterm Schatten eines Steppenbaums trafen sie einen Dichter, der ihnen ein Gedicht vorlas, ein schlechtes, wie Leere fand. Dahinter stecken Jahrhunderte, sagte der Dichter, und um seinem Ärger Nachdruck zu verleihen, warf er seinen Hut in elegantem Flug von sich, genau auf den Kopf von Leere, der ihm gratulierte, ein hervorragender Hutwerfer zu sein. Und dabei, sagte der Dichter, habe ich den Hut zum ersten Mal geworfen. Sehen sie, sagte Lehre, der Dichter begegnet überall dem blinden Fleck, der er selber ist, diesen Fleck absichtlos zu behüten, ist sein Werk. Sie gingen in ein Steppendorf, in dessen Mitte sich ein Schnapshaus befand. Aus einer Hütte des Dorfes stürzte der Mörder von Paris hervor, es täte ihm leid, zückte er das Messer. Beruhigen Sie sich, sagte Leere. Hören Sie auf, sagte der Mörder, es muss umgebracht werden. Darauf nahm ihm Leere das gezückte Messer weg und schenkte es dem vorbeikommenden Messerschlucker. Das hilft gar nichts, sagte der Mörder, ich muss umbringen, das ist die Wahrheit und die Klarheit. Ich stehe unter ihrem Einfluss. Schauen Sie, sagte Lehre, es ist unser aller Eigenart, aus Einflüssen zu bestehen, die durch uns durchgehen und verändert wieder herauskommen. Trinken Sie einen Schnaps, der zersetzt nichts lieber als Wahrheit und Klarheit. Wenn Sie meinen, sagte der Mörder. Und so blieb bis auf weiteres alles ungeklärt. | Alfred Paul Schmidt Im Widerstandskampf gegen den Erfolgszwang Alfred Paul Schmidt: Das andere Gestern. Graz: edition Keiper 2010, 180 S., Euro 17,60 P. A. Schmidt hat hinreichend viele Bücher geschrieben, um aus deren Titeln einen eigenen Text zu montieren. Sie bilden einen Sound, in dem Freejazz und die absurden Lebensumstände von Grazer Outsidern zu einem literarischen Universum verschmelzen. „Bester jagt Spengler“ , „Das Kommen des Johnny Ray“, „Fünf Finger im Wind“, „Mit beiden Füßen in der Luft“… „Das Andere Gestern“, erschienen in der Edition Keiper, ist der vorerst letzte Baustein dieses Schmidt’schen Grazer Kosmos, dessen realistische Entrücktheit an William Faulkners „Yoknapatawpah County“ erinnert. Dabei reißt der ausgekochte Erzähler Schmidt Begegnungen, Wirtshäuser, Autofahrten mit ihren realistischen Details nur als Rahmen an, um seine Dialoge in freien Rhythmen und Modalitätswechseln scheinbar leichthändig dahin laufen zu lassen. Diesmal erzählen ein Taxifahrer, ein Ex-Dissertant und Tagelöhner und eine berufslose Frau einem durchaus autobiografisch zu verstehenden Drehbuchautor von ihrem Scheitern. Scheitern? Schon der Titel „Das andere Gestern“ lässt einen revolutionären Gestus anklingen, eben weil es eine alternative Vergangenheit der um ihre Zukunft gebrachten Protagonisten imaginieren lässt. Sie setzen sich auf ihre Weise zu Wehr, indem sie den Erfolgsinsignien einer kapitalistischen Kultur – Boss & BMW – ihre anarchische Gesprächswut entgegensetzen, die von Sinnvolten und philosophische Paradoxa befeuert wird. Für diese verbalen Widerstandskämpfer gegen den herrschenden Selbstdarstellungszwang zählt nichts anderes als der bessere Witz. „Das andere Gestern“ führt Flauberts berühmtes Buch über die beiden Käuze „“ in das nächste, komischere Extrem. Schmidts Protagonisten versuchen der Welt nicht mehr Herr zu werden, indem sie wie Bouvard und sein Freund Pecuchet nutzloses enzyklopädisches Wissen ansammeln. Sie müssen nichts wissen, weil sie gegen den Strom denken. Unentwegt auf einer Metaebene zwischen Philosophie und Kalauer räsonierend schlagen sie ihre funkelnden Witze aus der Absurdität eines „Anything Goes“. Es ist der Edition Keiper sehr zu danken, dass sie neben der „jungen Literatur“ mit P.A. Schmidt und seinem „Das Andere Gestern“ auch einen der unverzichtbaren, alten „Grazer Klassiker“ präsentiert. | wh Up and away Kulturinitiative Kürbis Wies (Hrsg.): Auf und davon. Wies: edition kürbis 2010, 161 S., Euro 14,90 Die Edition Kürbis hat wieder eine Anthologie gesamplet: Diesmal geht’s ums Fortfahren und, damit verbunden, um das Fremde, das oftmals so nah liegt. Weit weg hingegen liegt das Ziel des ersten Autors des Bandes, Peter Glaser, des genialen Berliners mit Grazer Wurzeln. Die Begegnungen auf seiner japanischen Reise bringen es mit sich, dass er sich bald fühlt wie „ein europäischer Waldmensch“ – da tut es gut, wenn man sich letztendlich „mit heißen Wangen“ mit japanischen Germanisten über die südsteirische Weinstraße, Mürzzuschlag und den Semmering unterhalten kann. Die Figuren in Günther Freitags drei Skizzen fliehen auf unterschiedliche, aber immer skurrile Weise aus ihrem erdrückenden Alltag; manchmal, werden wir belehrt, können solche Ausbrüche allerdings letal enden. Für Linda Stift beginnt die bedrohliche Wildnis bereits knapp hinter Altaussee, Martins Amanshausers Titelheldin flieht vor ihrem Professor und vor einer Prüfung und bekommt am Ende doch einen Mann und vermutlich drei Kinder; auch die übliche Scheidung ist schon absehbar. Andrea Wolfmayr geht auf eine Reise, die keiner Ortsveränderung bedarf – zurück in die Erinnerung, nach vorne ins Alter. Kürbis-Chef Wolfgang Pollanz imaginiert die Urlaube seiner Kindheit in Italien. Der Titelheld in Mike Markarts Erzählung versucht nach 70 Jahren Ausgesetztseins mit einem leeren Koffer die Stadt by train zu verlassen, kommt aber zuvor unters Auto. Andrea Stift scannt die sexuellen Fantasien einer Gruppe von Zugreisenden und Andreas Unterwegers Roadstory spielt sich in einem weißen Fiat Uno ab. Und für die, denen diese geballte Reiseschriftstellerei noch immer zu wenig prickelnder Fremde bietet, gibt es noch eine „letzte Hoffnung“ (sic!) – den Austrofred. \ cs Außerhalb des Gesetzes Richard Obermayr: Das Fenster. Salzburg/Wien: Jung und Jung 2010. 267 S., Euro 22,00 Boualem Sansal: Das Dorf des Deutschen oder Das Tagebuch der Brüder Schiller. Aus dem Französischen von Ulrich Zieger. Gifkendorf: Merlin 2009. 287 S., Euro 22,90 Was haben die Romane eines 40-jährigen Österreichers und eines 60-jährigen Algeriers, der französisch schreibt, miteinander zu tun? Auf den ersten Blick nicht viel: „Das Fenster“ spielt in der ruhigen oberösterreichischen Provinz, ein junger Mann blickt auf seine Eltern, in deren Vergangenheit sich ein Geheimnis verbirgt. „Das Dorf des Deutschen“ liegt in Algerien, das 1962 nach einem blutigen Krieg von Frankreich unabhängig wurde; die Brüder Rachel und Malrich Schiller leben in Paris, wohin sie als Kinder kamen; ihre Eltern haben sie aus dem abgelegenen Dorf dorthin zu Verwandten geschickt. Ihr Vater ist „der Deutsche“, ihre Mutter ist eine algerische Frau aus dem Dorf. Die Technik des Erzählens verbindet schon einmal beide Bücher: jeweils erzählt eine Ich-Person. Im Roman von Sansal sind es sogar zwei Erzähler, nämlich die Tagebuch schreibenden Brüder. Nicht nur, aber auch dadurch wirken die Geschichten authentisch. Gemeinsam ist beiden Geschichten die Suche nach der Aufklärung von Vorgängen, die mit den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs zusammenhängen. Es geht um das Thema der Schuld: kann jemand schuld sein, der selber gar nicht der Täter ist? Kann auch der schuldig werden, der an der Verdrängung und am Vergessen beteiligt ist? In beiden Erzählungen ist es die nachfolgende Generation, die erforschen will, was „wirklich passiert ist“. Dieses Phänomen ist auch bei den historischen Personen – den Kriegsverbrechern – und ihren Nachkommen bekannt. Hier wird es in beiden Romanen als Fiktion äusserst gut gestaltet und spannend präsentiert. Bei Obermayr versucht sich ein Sohn im heutigen Österreich an die Erinnerungen seiner Eltern im Jahr 1945 heranzutasten, als kurz vor Kriegsende ein als militärische Aktion getarnter Mord in der ländlichen Umgebung passierte. Bei dem algerischen Autor ist die Rekonstruktion komplizierter; die beiden jugendlichen Brüder erfahren erst nach dem Tod ihrer Eltern, dass der Vater Hans Schiller im Zweiten Weltkrieg als Täter in dem Mordapparat des NS-Regimes mitwirkte, dann in Afrika untertauchte und sich „im Dorf“ ansiedelte. Der ältere Bruder sucht in Deutschland und Polen bis nach Auschwitz hin die Spuren seines Vaters und findet sie. Er fährt nach dem Tod der Eltern auch nach Algerien in das Dorf Ain Dib, wo die Eltern in einem Massaker ermordet worden sind. Er kann den Mord nicht aufklären, es wird aber klar, dass der Vater auch nach 1945, im Dienste der französischen Kolonialmacht, im Sinne unterdrückerischer und rassistischer Politik „engagiert“ war. Rachel, der ältere Bruder, nimmt sich das Leben. Der jüngere Bruder ist Berichterstatter über das Schicksal des Selbstmörders und reflektiert seine eigene, anders gestaltete Reaktion auf das Familienschicksal. Der Roman spielt zwischen 1994 und 1996 in Frankreich, die beiden Brüder sind erst nach 1962 geboren. Der Autor Sansal streift sehr packend die Problematik der Parallelgesellschaft der arabischen Immigranten, wie wir sie aus der Berichterstattung über die Pariser Vororte kennen. Ist es nicht aufregend, dass in zwei so sehr verschiedenen Milieus, von Autoren verschiedener Herkunft und Sprache, die Wunde des 20. Jahrhunderts nachwirkt? Dass Elfriede Jelinek, österreichische Nobelpreisträgerin und Aufklärerin, grade jetzt, im Frühjahr 2010, mit ihrem Rechnitz-Stück in Wien präsent ist, wo es um die NS-Verbrechen am Kriegsende im Burgenland geht? Ein Massenmord an ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern, der bis heute nicht wirklich juristisch aufgearbeitet ist, wie auch eigentlich die Autoren Sansal und Obermayr die Rätsel ihrer Geschichten nicht lösen. All dies kann nur Sinn haben im Hinblick auf die Abgründe unserer Gegenwart... Engagierte Literatur ist jedes dieser beiden Bücher; und jedes ist meisterlich erzählt, spannend komponiert, gut geschrieben bzw. übersetzt: nicht nur als Ferienlektüre bestens zu empfehlen. Und soeben ist in Cannes ein Film von Rachid Bouchareb gezeigt worden, der den Unabhängigkeitskrieg der Algerier zum Thema hat: „Hors la loi“, außerhalb des Gesetzes. \ Hedwig Wingler Das Trauma der Flucht Hans H. Hiebel: Und keine Wiederkehr. Eine längere Geschichte. Graz: Edition Keiper 2010, 290 S., Euro 19,80 Die Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung aus Tschechien nach dem Zweiten Weltkrieg ist Ausgangspunkt des eben erschienenen autobiographischen Romans des in Graz wirkenden Literaturprofessors Hans H. Hiebel. Der Autor setzt sein theoretisches Wissen gekonnt und nicht zu knapp ein: Die Erzählperspektive wechselt zwischen Ich- und auktorialem Erzähler, unter explizitem Bezug auf Sternes „Tristram Shandy“ unterbrechen „Digressionen“ die im Wesentlichen chronologische Erzählhandlung, Bezugnahmen auf weitere Werke der Weltliteratur – immer wieder auf Proust – finden sich häufig: So kündigt der Autor unter augenzwinkernder Anlehnung an „A la recherche du temps perdu“ an, er werde bei der Rückkehr ins Dorf seiner Kindheit „ein Quarkplätzchen“ „in den Tee tauchen“. Dieser (wohl nur für den mit dem germanistischen Blick geschlagenen Rezensenten manchmal ein wenig konstruiert wirkende) methodische Rahmen steht im Dienst einer oft schonungslosen Selbstanalyse des Autors und Erzählers, welche die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen seiner Entwicklung konsequent mitdenkt. Das doppelte Trauma: Die Vertreibung aus dem Paradies der frühen Kindheit und die erzwungene Trennung vom Vater, der in den Krieg ziehen muss und dessen späte Wiederkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft die Wunde nicht mehr heilen kann, ist eindeutig Resultat des deutschen Faschismus (und weder der Benesch-Dekrete noch dunkler Schicksalsmächte). Die sehr persönliche und gleichzeitig literarisch anspruchsvolle Darstellung einer Identitätsbildung vor dem Hintergrund der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte macht dieses Buch äußerst lesenswert. \ cs Tabubrecher perspektive nr. 64, 104 S., Euro 5,00 Das Bild des Schweines „Pigasus“ (US-Präsidentschaftskandidat der Youth International Party 1968) auf dem Cover der neuen Ausgabe der Grazer Literaturzeitschrift „perspektive“ nebst einschlägigem Jerry-Rubin-Zitat ist programmatisch: Die Perspektive ist angriffiger denn je (und vergisst dabei nicht auf ihre historischen Wurzeln in der klassischen Avantgarde). Schon im Editorial wird der aktuelle Literaturbetrieb vom Deutschen LiteraturInstitut Leipzig bis zu den unsäglichen Kritiker-Autoren-Netzwerken kräftig durch den Kakao gezogen. D. Holland-Moritz handelt über Pop-Subversion in der ehemaligen DDR und drumherum, Sylvia Egger analysiert zynisch und treffend Hype und Gegenhype rund um Helene Hegemanns Axolotl Roadkill. Nicht fehlen darf eine Auseinandersetzung mit der aktuellen Krise aus situationistischer Sicht. Den praktischen Nutzen des Marxschen „Kapital“ zeigen Sophie C. Ambrosig und Cornelia Maurer. Helmut Schranz montiert ein besonderes pfingstliches Beichtstuhlerlebnis mit einem sprachexperimentellen Text über kleinbügerliche Abgründe. Herausragend: Sophie Reyers Beitrag „Kindsmörderinnen“. Beißend: Stefan Schmitzers „Pappnasen-Lied“ als Beitrag zum FM4-Protestsongcontest 2010. \ cs In Kooperation mit der pespektive-redaktion verlost KORSO 10 Exemplare der aktuellen Ausgabe beim kulturquiz unter www.korso.at
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