Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Buchrezensionen
Sonntag, 16. Mai 2010
Sach- und Fachbücher

Beziehung hilft – auch gegen Gewalt

Philip Streit: Jugendkult Gewalt. Was unsere Kinder aggressiv macht.
In Zusammenarbeit mit Mario Leitner. Wien: Ueberreuter 2010, 208 S., EUR 19,95


Eine auf bloße Medienbeobachtung gestützte Meinung muss wohl zum Schluss kommen: Die Jugend wird immer gewalttätiger - und die Politik tue gut daran, in dieser Frage „zero tolerance“ zu ihrem Leitprinzip zu erheben.
Philip Streit, Psychologe und Gründer und Betreiber des Grazer „Instituts für Kind, Jugend und Familie“, holt in seinem neuen Buch diese Einschätzungen auf den Boden der Realität zurück, ohne zu verharmlosen. Er ruft in Erinnerung, dass Gewalt allen Gesellschaften innewohnt, seitdem es zur Herausbildung von Klassenhierarchien gekommen ist – und dass die vorherrschende Ausübung von Gewalt mehr auf Seiten der Durchsetzung von sozialer Herrschaft denn auf Seiten der unter anderem gesellschaftlicher Orientierungslosigkeit geschuldeter Aggressionsakte von Jugendlichen zu finden ist. Weiters sei ein Gutteil der Jugendgewalt Entwicklungsdelinquenz, die mit dem Abschluss der Adoleszenz wieder verschwindet. Und schließlich, konstatiert Streit, werden „Diskussionen über Jugendgewalt immer dann geführt […], wenn wir uns offensichtlich in gesellschaftlichen Umbruchzeiten befinden.“ (60).
Nach dieser nötigen Relativierung geht Streit auf die realen Herausforderungen und Belastungen ein, vor denen unsere Jugend steht, die potenziell gewaltauslösend wirken können. An erster Stelle stehe dabei das Phänomen: „Alles für die Kinder – nur keine Zeit.“ Wenn Beziehung und Bindung, die Begegnung mit der Elterngeneration fehlen, sind Verunsicherung und Orientierungslosigkeit die Folge. Ein weiterer Faktor, der unter bestimmten Umständen in Gewaltbereitschaft umschlagen kann: Die gesellschaftliche Desintegration, die „Modernisierungsverlierer“ unter den „einheimischen“ Unterschichtsangehörigen mit ihren gesellschaftlich ebenso chancenlosen KlassengenossInnen aus dem MigrantInnenmilieu konfrontiert; hier sieht auch Streit  explosives Potenzial, dem nur begegnet werden könne, wenn die vorhandenen Gegensätze couragiert angesprochen werden –„in einem Klima, in dem der andere wahrgenommen, bemerkt und geschätzt wird. Denn wer wahr- und ernst genommen sowie respektiert wird, wird zugänglich.“ (86)
Für nicht so ungefährlich wie viele seiner FachkollegInnen hält Streit Killer-Computerspiele und Gewaltvideos – im Zusammenspiel mit Überforderung und Beziehungslosigkeit stellen sie „Trainingsmaschinen des Tötens“ dar.
Diese nüchterne Analyse soll aber nicht mutlos machen: Denn „Gewalt ist kein Naturphänomen, dem der Mensch hilflos ausgeliefert ist, und kann nicht auf ein Produkt des Aggressionstriebes reduziert werden.“ (111) Mehr noch: Unter Berufung auf Joachim Bauer sieht Streit Aggression als Verhaltensweise, die dann angewandt wird, wenn die biologisch grundgelegte optimale Lebensstrategie, nämlich Kooperation, Zuwendung und Wertschätzung, bedroht ist – eine These, die er mit vielen Beispielen empirisch untermauert. Das erklärt auch die gewaltfördernde Wirkung, die von familiärer Beziehungs- und Bindungslosigkeit ausgeht – und die Bedeutung einer positiven, aufmerksamen Beziehung der Eltern gegenüber ihren Kindern als zentraler Faktor von Gewaltprävention.
 Was ist nun zu tun, wenn die Prävention zu spät kommt? Auch hier empfiehlt Streit in Übereinstimmung mit dem israelischen Psychologen Haim Omer und aus der eigenen Erfahrung Begegnung und Präsenz, permanentes Interesse für das Kind und couragiertes Ansprechen jeder Fehlentwicklung – und den ExpertInnen die Umsetzung einer „couragierten, nachgehenden Therapie“ statt der Einigelung in „den schön designten Praxen und Büros.“ (207). \ cs


Perspektiven in der Krise

Steirisches Jahrbuch für Politik 2009.
Beatrix Karl, Wolfgang Mantl, Hildegunde Piza u.a. (Hrsg.). Graz: schnider’s offene gesellschaft 2010. 304 S., Euro 25,00


Das Steirische Jahrbuch feiert mit dem im April erschienen Band für das Jahr 2009 sein zehnjähriges Jubiläum. Als Pendant zu dem von Andreas Khol begründeten „Österreichischen Jahrbuch für Politik“ hat es sich im abgelaufenen Jahrzehnt zu einer durchaus fundierten Dokumentation und Analyse der steirischen politischen Landschaft und ihrer Akteure aus Perspektive der ÖVP gemausert. Über vierzig Autoren liefern im aktuellen Band Beiträge zu den Bereichen Politik, Wissenschaft, Kultur und Zeitgeschichte.
Fast ein Drittel des Umfangs ist der detaillierten Beschreibung der vielen Wahlen des Jahres 2009 gewidmet, von den Landtagswahlen in vier Bundesländern (Kärnten, Salzburg, Vorarlberg und OÖ) über die Arbeiterkammerwahlen bis hin zur Europawahl, wobei vor allem die Regionalwahlen und die EU-Wahlen der ÖVP willkommene Erfolgserlebnisse beschert haben, während die Einstellung zur großkoalitionären Regierungspolitik 2009 eher durchwachsen bis selbstkritisch ist, wie Eva Weissenberger formuliert: „Sag’ ma, es war nix.“
Im Themenblock „Wege in der (Wirtschafts-)Krise“ wirft der prominente deutsche „Wirtschaftsweise“ Bert Rürup einen kritischen Blick von außen auf die „zu zögerliche“ Beschreitung des Weges zur „Mischfinanzierung“ bei der Altersvorsorge in Österreich. Dagegen sorgen die Beiträge von Edith Riether, Franz Lackner und Wolfgang Mantl für eine Betonung der christlichsozialen Elemente einer ÖVP-Sozialpolitik, die auf die Folgen der Krise für die Schwächsten der Gesellschaft hinweist und soziales Handeln einfordert.
Das Bekenntnis zur Exzellenz der heimischen Universitäten und Kritik an der Abschaffung der Studiengebühren sind das Fazit des eher faktenlastigen Wissenschaftsteils des Jahrbuches, der immerhin den Widerspruch zwischen den Ansprüchen der Wirtschaft und den trotz Bologna-Prozess noch immer verknöcherten Strukturen an den Unis deutlich macht.
Abgerundet wird das Jahrbuch durch sehr persönliche und emotionale „Bilder der Steiermark“ von (Wahl-)Steirern aus dem In- und Ausland, die für eine unterhaltsame und mitunter auch ironische Lektüre sorgen. \ js


Zufluchtsland Italien

Christina Köstner, Klaus Voigt (Hg.): Österreichisches Exil in Italien 1938 – 1945.
Wien: Mandelbaum 2009. (Exilforschung heute, Band 2, Hg. S. Wiesinger-Stock/K. Kaiser) 375 S., Euro 24,90


Bereits 1989 legte Klaus Voigt, Historiker in Berlin, sein Werk über „Exil in Italien 1933-1945“ vor (Schwerpunkt „reichsdeutsche“ Flüchtlinge). In Graz wurde er bekannt durch die Arbeit (2006) über Josef Indig und die jüdischen Flüchtlingskinder, für die der Grazer Josef Schleich im Zweiten Weltkrieg als Menschenschmuggler zum Lebensretter wurde. Nun hat Voigt mit der Wiener Forscherin Christina Köstner die erste umfassende Publikation zum österreichischen Exil in Italien in der NS-Zeit erarbeitet. Der Band vereint Beiträge von 14 HistorikerInnen aus Österreich, Deutschland und Italien und Zeugnisse von acht emigrierten bzw. vertriebenen Österreichern, darunter sind der Autor Franz Theodor Csokor (1885 – 1969) und Herta Eisler-Reich, die aus Mürzzuschlag stammte, nach sechsjähriger Flucht über Serbien und Italien nach Palästina kam und heute noch in Jerusalem lebt (sie wurde vom Grazer Historiker Heimo Halbrainer in einem 1998 im Verlag CLIO erschienenen Buch gewürdigt).
Voigt gibt eine differenzierte Darstellung der Beziehungen zwischen dem NS-Regime und dem faschistischen Italien; Mussolini ließ erst langsam im Widerstand gegenüber dem verbündeten Deutschland nach, was die Verfolgung der Juden betrifft, aber machte dann doch offiziell mit bis zur Befreiung durch die Alliierten. Die zuweilen große Hilfsbereitschaft der Bevölkerung, vor allem der ärmeren Leute und des niederen Klerus, rettete freilich manche Verfolgte.
Csokor etwa kehrte 1946 – in britischer Uniform – nach Wien zurück, andere blieben nach 1945 im Zufluchtsland Italien, andere wiederum wurden in Auschwitz ermordet, so der Schriftsteller Moritz Mezei. An ihn und weitere 28 ermordete Bewohner des Wiener Karl-Marx-Hofes erinnert dort seit 2003 eine Gedenktafel.
Zu den Beiträgen gehören Darstellungen von einzelnen Flüchtlingen; auch nichtjüdische gab es, etwa im Österreichischen Komitee, gegründet 1944 im befreiten Italien; dabei dürfte es in Graz interessieren, dass der Jurist Josef Dobretsberger – später Professor an der Karl-Franzens-Universität Graz – zum Vorsitzenden gewählt wurde, obwohl er in Kairo im Exil war. Gerade die detaillierten Untersuchungen der Historiker und die Aufzeichnungen der Betroffenen selber rücken uns den Alltag mit seinen Mühen und Schrecken näher, lassen uns ahnen, was es heißt, in eine ungewisse Zukunft zu gehen, vertrieben und verfolgt zu sein. Ungefähr 1000 Österreicher traf es 1938 bis 1945 in Italien. Die Leser dürfen die heutige Lage von Asylwerbern assoziieren. \ hw


Belletristik

Im weitläufigen Mikrokosmos des Haiku

Joachim Gunter Hammer: Der firnschwarze Mond. Ein Nachtflug in 17-Silbern.
Wien: Verlagshaus Hernals 2010, 97 S., Euro 19,90

Wenn ein Schriftsteller im Jubeljahr seines sechzigsten Geburtstags sein bereits achtzehntes Buch vorlegt, so sollte er sich, möchte man meinen, einer erhöhten Aufmerksamkeit der medialen Öffentlichkeit gewiss sein dürfen. Handelt sich aber um den achtzehnten Gedichtband, denn Joachim Gunter Hammer schreibt nun einmal ausschließlich Gedichte, so geht kein Rauschen, nicht einmal ein einigermaßen vernehmbares Flüstern durch den Blätterwald. Manchmal ist die Welt eben ungerecht, ganz besonders die Welt des Literaturbetriebs, der gerne auf wirkliche oder scheinbare Fräuleinwunder und auf geschickt verpackte Mainstream-Qualitäten setzt. Doch das Spiel des Lebens ist sein Ernst und den spielt Hammer souverän weiter, lauthals lachend und mit einer Träne im Augenwinkel, während der Vorhang der Pupille schon das nächste Gedicht durchlässt: aus der Welt ins Gehirn und von dort zurück aufs Papier. Hammer, der wahrscheinlich profilierteste Haiku-Dichter Österreichs, zieht alle Register, welche die winzige Taschenorgel dieser Gattung hergibt, und entlockt ihr sämtliche Spielarten der Siebzehntonmusik vom klassisch meditativen Jahreszeiten-Haiku über surrealistisch verzerrte Nachtbilder menschlichen Daseins bis hin zur rotzfrechen Kürzestsatire, die ihren Stachel gegen gesellschaftliche Zu- und Missstände richtet. Am deutlichsten zeigt sich das Ausmaß der Könnerschaft Hammers dort, wo eine radikale Reduktion der Mittel zeitlos gültige Poesie freilegt: „Mond hinter den Wolken. / Wolken vor dem Mond. Was ist / zwischen den Sätzen?“ \ hb
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