Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Nahost-Drama, Trieb-Verirrungen und Liebe in Zeiten des Neoliberalismus
Sonntag, 16. Mai 2010
Fußfrei – Theatertrips und -tipps von Willi Hengstler Von der Mythologie zur Kolportage. Mit den „Verbrennungen“ des aus dem Libanon stammenden Autors Wajdi Mouawad ist Intendantin Anna Badora zweifellos ihre bisher stärkste Regiearbeit in Graz gelungen.
Nawal (Andrea Wenzl und Steffi Krautz), wie der Autor aus dem Libanon gebürtig, schweigt nach dem Besuch eines Kriegsverbrecherprozesses die restlichen Jahre ihres Lebens. Per Testament schickt sie dann ihre Kinder, die widerstrebenden Zwillingsgeschwister Jeanne und Simon, auf die Suche nach einer schrecklichen Wahrheit. Mouawad schildert diese Suche zwischen Kanada und dem Libanon, mal in der Gegenwart voran-, dann wieder in eine zerrüttete Vergangenheit zurückschreitend, mit schöner Klarheit. Die Allzweckruine von Raimund Orfeo Voigt auf Drehbühne bietet für die vielen Wechsel immer wieder überzeugende Lösungen, in denen eine durchgehend großartige Schauspielertruppe leicht überdeterminierte Figuren meistert. Pauline Knof als hochbegabte Tochter Jeanne trägt schon während ihres Studiums einen den Charakter des Stücks spiegelnden, exotischen Zweig der Mathematik vor. Und Bruder Simon bringt, so wird suggeriert, wegen des fehlenden Bewusstseins seiner Herkunft als Boxer keinen Kampfgeist. Vielleicht liegt es einfach daran, dass Florian Köhler nicht wirklich über die Statur und Kondition eines Boxers verfügt.
Der wirklich starke Stoff spielt sich aber in der Vergangenheit ab. Nawal hat als 14-jähriges Mädchen (Andrea Wenzl mit überzeugender Zurückhaltung) eine verbotene Liebe, deren Frucht ihr weggenommen wird. Sie flieht, emanzipiert sich, indem sie Lesen und Schreiben lernt, und zieht jahrelang mit ihrer Gefährtin Sawda (Verena Lercher – kompetent, bis auf ihren Umgang mit Waffen), auf der Suche nach ihrem Sohn durch ein vom Bürgerkrieg zerschossenes Land. Götz Argus und Otto David bringen in ihren Rollen gelegentlich immerhin eine Spur von Ironie ins Spiel.
Viele Jahre später erschießt die radikalisierte Nawal den Führer einer Miliz auf ziemlich heimtückische Weise. Eingekerkert als „die Frau, die singt“, wird sie vom schlimmsten Henker und Folterer immer wieder vergewaltigt. Die daraus entstehenden Zwillinge sollen ertränkt werden, aber ein mitleidiger Scherge übergibt sie einem Bauern … Für Jeanne und Simon stellt sich schließlich heraus, dass sie die Kinder bzw. Geschwister des Vergewaltigers sind, den die Mutter im Kerker nicht als ihren Sohn erkannt hat … Und zum Schluss hetzt noch der zugedröhnte, bekiffte Vater-Bruder-Sohn schnell von My Lai herüber. Oedipus lässt grüßen.
Beide, Autor Mouawad und Regisseurin Badora setzen in ihrer perfekt realisierten Nahostsaga ein bisschen sehr auf das menschliche Raunen. Auf Aktualität und Authentizität pochend, tauschen sie die Fakten gegen  „Allgemeingültiges“ und bekannte Ortsnamen gegen „Süden“ oder „Norden“ ein. Der Libanonkonflikt ist kompliziert, gewiss. Aber deshalb den Genozid von Sabra und Schatila (mit Unterstützung durch die israelische Armee unter Scharon), überhaupt den ungelösten Palästinakonflikt in eine allgemein-sentimentale Beschwörung des unentrinnbaren Kreislaufs der Gewalt zu verwandeln? Eine ungenaue Mythologie wird leicht zur Kolportage. Dominik Warta als scheinbar banaler Notar zeigt am klarsten, wie man der mythologischen Betroffenheitskeule entkommt.
Unbedingt empfehlenswert, aber nur nach dem Ansehen von Ari Folmans „Dancing with Bashir“. Noch am 28.5. und am 5.6., 24.6. und 25.6.

Die doppelte Lulu.
Wedekinds Lulu, die Geschichte der Kindfrau, die mit triebhafter Sinnlichkeit die Männer in den Abgrund reißt, könnte in Zeiten der Gendertheorie ein wenig verstaubt wirken. Aber keine Spur von Staub findet sich in der Premiere von Alban Bergs Oper unter der Regie von Johannes Erath. Man kann diese Lulu auf der Kinderschaukel für eine überflüssige Anspielung auf Kindesmissbrauch halten; man kann es allzu angestrengt finden, dass einer, während er singt, einen fragilen Türrahmen hochklettert oder auf dem Bauch liegt; man kann die eingefügten Nazi-Assoziationen eher kokett als konsequent finden. Man kann es – stärkster Einwand –  absonderlich finden, dass, statt auf Friedrich Cerhas rekonstruierte, dreiaktige Version zurückzugreifen, die unvollständige, zweiaktige Fassung gespielt wird. Aber die Inszenierung von Erath mit einem anfangs durch eine Schallplatte angedeuteten Rückblick behält eine derartige Dichte, dass man sich dem Bann des Abend niemals entziehen kann. Das ist neben der Sogwirkung von Alban Bergs gleichzeitig intensiver und durchaus ironischer Musik auch das Verdienst des mit durchscheinender Verve spielenden Grazer Philharmonischen Orchesters unter der Leitung von Johannes Fritzsch.
Das düster-glühende, auf Zeichen reduzierte Bühnenbild (Katrin Connan) wird von einem Tür- bzw. Spiegelrahmen und einer hohen Allzweckmauer dominiert. Eine im Spiegel verdoppelte Lulu wird zur tödlichen Projektion der Männer, während die „richtige“ Lulu  ihr Geheimnis bewahrt. Margareta Klobučar singt den extrem schwierigen Part virtuos und scheinbar ohne Anstrengung.
Der Spiegel repräsentiert aber auch eine Tür zur anderen Wirklichkeit, durch die die Leichen, von denen manche noch leben, in Dr. Schöns Haus dringen. Eine Drehbühne, die diesmal mehr als eine bloße hydraulische Vorrichtung zur Abwicklung des Bühnengeschehens ist, trägt zur hypnotischen Wirkung bei. Während der Instrumentalpassagen treiben die hinter der Wand auftauchenden, lebenden Bilder den Assoziationsfluss buchstäblich weiter.  
Die fabelhafte Margareta Klobučar wird von einer beeindruckenden Verehrerriege flankiert: Sonor Ashley Holland als Dr. Schön, den Lulu als ihren Entdecker besonders liebt bzw. hasst. Sie wird ihn töten, wie er sie am Schluss als Jack the Ripper töten wird. Herbert Lippert als Schöns Sohn Alwa überzeugt als Intellektueller, zerrissen zwischen Selbstvorwürfen und Verlangen; Taylan Memioglu singt den Maler mit anrührendem Tenor und Konstantin Sfiris ist als Schigolch – Zuhälter ? Vater Lulus? – kraftvoll bis unheimlich. Leider bietet das Opernfragment einer faszinierenden Iris Vermillion als Gräfin Geschwitz wenig Gelegenheit sich zu präsentieren. Eine überzeugende, bis in die Nebenrollen durchgestaltete Inszenierung. Unbedingt besonders empfehlenswert. Noch am 6.5., 8.5., 12.5. 28.5., 30.5. und am 18.6., 20.6. und 23.6.

Geld ist Gott in „Liebe und Geld“ auf der Probebühne und Thomas Frank ist sein Prophet und dann geht die Post ab. Das Stück von Dennis Kelly hat keine großen Rollen, aber es besteht aus großartiger Rollenprosa und einigen ziemlich grausamen Dialogen. In allen geht es um die Verletzungen, die einem die Kultur des Kapitalismus zufügt. Keiner ist ganz schlecht, keiner ganz gut und alle sind Opfer in dieser trickreich verkehrt herum erzählten Geschichte. Ein Mann kann aus einer neuen Beziehung nichts machen, weil ihm nachhängt, dass er seine Frau (Martina Stilp) hat sterben lassen. David, den Jan Thümer völlig uneitel spielt, hat sich erst einer Ex-Freundin (überzeugend wie immer Steffi Krautz) in einem Telekommunikationsunternehmen ausgeliefert, um die Schulden seiner kaufsüchtigen Frau zu bezahlen. Doch als sich diese umbringen will, hilft er sogar noch nach, um den Schuldendruck loszuwerden. Dazwischen schänden die Schwiegereltern (perfekt Florentin Groll und Eva Spott) das protzige Grab neben dem Grab ihrer Tochter, eine unterdrückte Sekretärin erzählt, wie sie mit aberwitzigen Sabotageakten anonym rebelliert und Thomas Frank, kurzfristig eingesprungen für Franz Josef Strohmeier, gibt den (Hohe)priester, den steinernen Co-Chef und den Sex-Maniac mit auseinanderfliegender Psyche. Die Schauspieler tragen ihre Texte, hauptsächlich im Frontalunterricht, mit atemloser Virtuosität vor… Alles sehr intensiv, fast zu intensiv. Patrick Schlosser kennt nur ein rasendes Tempo und irgendwann wünscht man sich, dass der Regisseur einen Tempowechsel und befreiende Regieeinfälle zur Erholung von diesem fürchterlich wahren Text einlegt. Für alle, die gnadenlose Kapitalismuskritik lieben. Noch am 10.5., 25.5. und am 1.6. und 10.6.
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