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Fußfrei – Theatertrips und -tipps Im Karussell des Lebens: Liliom, Figaro, Metropolis
Dienstag, 13. April 2010
Fußfrei – Theatertrips und -tipps von Willi Hengstler Liliom: Metaphysisches fürs Prekariat. Molnárs Stück war 1919 bei seiner Uraufführung kein besonderer Erfolg, hat sich aber später zum österreichischen Klassiker gemausert. Der Hutschenschleuderer Liliom ist ein Getriebener, ein Weiberheld, dessen animalische Kraft zur Schwäche wird, die ihn für die Frauen so anziehend macht. Nüchtern betrachtet geht die ins Metaphysische gedrehte Arme-Leute-Story des Liliom, der aus eigener Schuld ein Opfer trauriger Lebensumstände wird, allerdings nicht recht auf. Aber die Größe mancher Kunstwerke (wie von Langs „Metropolis“) liegt ja gerade in ihrem Scheitern.
Jedenfalls hat Viktor Bodó, befreit vom Gewicht erdrückender Namen wie Kafka, Carroll oder Handke, mit diesem „Liliom“, seine bisher beste Arbeit in Graz abgeliefert und dabei in den Schauspielern eine mitreißende Spielfreude geweckt. Die Ungarin Kata Petö mit ihrer einen ganzen Theaterabend lang durchgehaltenen, schönen Eigensinnigkeit wird zum Zentrum der Aufführung. Und  der Titelheld Jan Thümer demonstriert mit Charme und Verzweiflung, dass einer, der von so vielen Frauen geliebt wird, nicht ganz schlecht sein kann.
Waren Bodos großartige Bilder bisher gelegentlich pompöser Selbstzweck, so ist ihm (und seinem Bühnenbildner Pascal Reich) diesmal ein seltenes Kunststück gelungen. Die Bühne selbst gibt der balladenhaften, zwischen Realität und Märchen pendelnden Geschichte Molnárs eine effektvolle Entwicklung. Erst streiten sich nur auf einer Bank vor dem Vorhang die Frauen um Liliom, was einer großartigen Steffi Krautz als Karussellbesitzerin Frau Muskat die Gelegenheit zu einer furiosen Schimpforgie mit Eigen- und Fremdparodien bietet.
Darauf folgt ein gediegenes Interieur häuslichen Elends, in dem der von Frau Muskat entlassene Liliom und die mittlerweile schwangere Juli hausen. Bemerkenswert, wie Bodó es schafft, alle Nebenrollen bruchlos in seine Konzeption einzufügen: Thomas Frank als Dienstmann und Sophie Hottinger als Marie führen vor, wie sich dumme Mittelmäßigkeit lohnt; Gerti Pall poltert seelengut als Frau Hollunder und Martina Stilp ist ihr beunruhigender Sohn, Claudius Körber und Franz Xaver Zach irritieren magisch als Polizisten.
Nach Lilioms misslungenem Überfall und gelungenem Selbstmord (alles ein wenig schwer zu durchschauen) bricht ein lokal auf die Unterkunft begrenztes, jüngstes Gericht aus, in dem der Unterweltler Ficsur (Sebastian Reiß, richtig fies) von herabstürzenden Haustrümmern erschlagen und Liliom ins Jenseits nachgeschickt wird. Auf diesen starken Chaoseffekt setzt Bodó – Respekt! – einen noch größeren Schock. In einem zwischen Absurdität und K.u.K.-Schlendrian abgehobenen, himmlischen Eingangsbereich turnt ein Engel in Strapsen (wieder hervorragend Martina Stilp),  hinter ihr ragt eine von Borges Weltbibliotheken auf, ein himmlischer Untersuchungsrichter bietet Kafkeskes und Lilioms Freund Ficsur bedient vor seinem Eintritt in die ewige Glückseligkeit die Stechuhr … höherer, durchaus heiterer Wahnsinn.
Und im letzten Bild findet man sich wieder im aufgeräumten Elendsquartier, wo der zur Prüfung fürs Paradies zurückgeschickte Liliom mit seiner erwachsenen Tochter Luise (mit Andrea Wenzel ideal besetzt) wieder alles falsch macht.
Dass Liliom und seine Dienstmädchen ein aktuelles Prekariat repräsentieren, Molnárs Vorstadtlegende eine ganz gegenwärtige Dienstleistungsgesellschaft, aus der nicht einmal per Überfall, per Coup ein Entkommen möglich ist … das fehlt in Viktor Bodós mitreißender, metaphysischer K.u.K-Herrlichkeit. Aber man kann ja nicht alles haben.
Für alle, die auf die derzeit beste Aufführung scharf sind. Noch am 14. und 15. April und am 8. Mai.

Le Nozze de Figaro – Klassenkampf im Bett. Das Dienstbotenzimmer ist großzügig dimensioniert, wenn auch leicht heruntergekommen, die Rokokotapete eingerissen und der Kühlschrank kann nur per Fußtritt geöffnet werden …wieder eine dieser moderat modernen Operninszenierungen. Aber dann bietet „Le Nozze di Figaro“ in der Regie von Josef E. Köpplinger im Grazer Opernhaus an Stelle des erwarteten, zeitlosen Konservativismus einen gleichsam subkutanen Anarchismus.
Schon 1786 wurde die Oper im konservativen Wien kühl aufgenommen. Der Kaiser hatte die Aufführung der Vorlage von Beaumarchais verboten und auch in der Bearbeitung von Mozarts Librettisten war das ius primae noctis, das Recht des Grundherren, der Braut des Untertanen als Erster in der Hochzeitsnacht beizuwohnen, eine Metapher, die verstanden wurde. Noch dazu, wo die Willkür von oben nach unten mit dem Sieg des Friseurs (Alik Abdukayumov mit besonders effektvollem Bariton) und der Niederlage des Grafen Almaviva (elegant Igor Gnidii) endet. Die Grazer Philharmoniker spielen dazu aufgeräumt, wenn auch nicht besonders transparent unter der Leitung Tecwyn Evans.   
In Graz ist das ius primae noctis auch nicht mehr das, was es einmal war. Susanne (die Aufführung mühelos bestimmend Margareta Klobučar) und Figaro schlafen eng umschlungen den erschöpften Schlaf glücklicher Sünder, und nach dem Aufwachen wird  Figaro mit seinem Zollstab angeben: 13 cm, 22 cm, 43 cm … Köpplinger  inszeniert die Sexualität und ihre Sprengkraft so radikal, wie sie mal war, bevor sie vor allem eine Alternative zum Fitnesscenter wurde. Der unter den Rock Susannes  gesteckte Kopf Figaros, die Frauen, die den Sängern in den Schritt greifen, Cherubino, der Hofknabe, dieses Prinzip einer geradezu amorphen Sexualität, der mit allen Frauen schlafen will und dem ausnahmslos keine länger als einen Augenblick widerstehen kann: Das ist schockierender, als die üblichen, gepflegten Nacktposen.
Leider geht das verstörende Regieprinzip nur für die ersten drei Akte auf. Dass der nächtliche Garten des 4. Aktes wie der unaufgeräumte Rest der Bühnenbilder von zuvor scheint, mag für den Verfall einer Gesellschaft stehen. Aber Rollenwechsel und Klärung des Versteckspiels erlaubt sie schon rein technisch nur mit Mühe. Immerhin.
Nicht nur für Mozartfans akzeptabel, noch am 10., 15., 18., 22., 28. April und am 5., und 21. Mai.

Aktuelles Metropolis: Slums und „gated cities“. „Metropolis“, ein gewaltiger Torso, war der erste Film, den die Unesco zum Weltkulturerbe erklärte. Am 19. Februar, auf der letzten Berlinale, wurde die um ein Viertel längere ursprüngliche Szenenfolge gezeigt – ein sensationeller Fund aus dem Museo del Cine von Buenos Aires machte dies möglich. Und bereits am 19.3. (!) hatte die eingedickte, gleichzeitig trashig dekonstruierte Variante des Filmklassikers von Fritz Lang auf der Probebühne des Grazer Schauspielhauses Premiere: Ebenfalls eine Sensation, wenn auch, im Unterschied zum Stummfilm, eine eher laute.
Schon während die Zuseher ihre Plätze suchen, lesen Franz Solar und Franz Josef Strohmeier aus dem Buch von Thea von Harbou (Langs Frau,), kommentieren dessen Kitsch, schlüpfen in die Rollen von Fredersen, Herrn von Metropolis, von Freder, seinem Sohn, von Rotwang, den instrumentierten Wissenschaftler und schließlich beziehen sie Katharina Klar als Maria (bzw. deren mechanische Doppelgängerin) mit ein, in die sich Freder verlieben wird.
Sie gehen in die Unterstadt (Slums) mit ihren Arbeitern hinunter, steigen auf in die Oberstadt (gated cities) und spielen alles zugleich: Massenszenen neben individuellen Konflikten, Arbeiter und Maschine und bieten zwischendurch immer wieder ein selbstironisches Ausstiegsszenario aus der Kolportage an. Auffallend ist, wie prophetisch Thea von Harbous Trivialroman damals für die Zukunft, wie diagnostisch er heute für die Gegenwart ist: Ungleichheit, Revolution, Liebe, Mensch-Maschine, Künstliche Intelligenz, Verblendung der Massen durch die künstliche Maria Rotwangs, schließlich die Katastrophe. Die kleine Truppe der Regisseurin Claudia Bauer verdichtet den einflussreichen Stoff  (Matrix, Blade Runner, Alphaville, Westworld, um nur einige zu nennen …) und wird dabei vom Team von OchoReSotto unterstützt. Volker Sernetz und Stefan Sobotka projizieren Life-Videos kleiner Modelle auf die Bühnenwand oder gehen mit der Kamera umher – an sich nichts Neues. Aber gerade indem sie das selbstverständlich und unauffällig machen, werden sie zu stillen Mitspielern in dieser bemerkenswerten, aber auch bemerkenswert lauten Produktion.
Absolut empfehlenswert, nicht nur für SF-Fans. 14. 4. und am 4. Mai
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