Vor genau 65 Jahren, in den ersten Apriltages des Jahres 1945, kam es in Graz zu Massenerschießungen von Menschen, die auf der Todesliste des NS-Regimes standen. Die Fäden der Verantwortung laufen bei Gauleiter Sigfried Uiberreither zusammen – und aller Wahrscheinlichkeit nach liegen noch einige der Opfer verscharrt auf dem Gelände der Belgierkaserne.
Der heutige Schießplatz Feliferhof war in der NS-Zeit Schauplatz eines sehr dunklen Kapitels der steirischen Geschichte. Noch heute ist dieser Name Sinnbild für die NS-Gräuel, die zu Kriegsende im Raum Graz an zahlreichen unschuldigen Opfern begangen wurden. Hier wurde vor 65 Jahren ein Massengrab gefunden und am 18. Mai 1945 durch eine österreichisch-sowjetische Kommission geöffnet. In diesem waren die Leichname von 142 ermordeten Menschen verscharrt worden. Die Bilder der sterblichen Überesten als sichtbares Zeichen der NS-Verbrechensherrschaft lösten in der Bevölkerung breites Entsetzen aus. Der öffentlichen Betroffenheit folgte jedoch keine Aufklärung – man zog Verdrängung vor. Zahlreiche Spuren wurden nicht weiter verfolgt. So ging man Zeugenaussagen, die von Ermordungswellen und von weiteren bis heute nicht gefundenen Massengräbern sprachen, nicht nach und ließ diese im Sand verlaufen. Bis zum heutigen Tage wurde für dieses Verbrechen keine einzige Person zur Rechenschaft gezogen.
Kalte Spur? Bei einer näheren Beschäftigung mit jenen 142 gefundenen Todesopfern kommt man zu dem Schluss, dass dieses Verbrechen sehr wohl auflösbar gewesen wäre. So fand man etwa bei den Leichen nur sehr wenige Projektile – ein Indiz dafür, dass jene Opfer nicht am gleichen Ort ermordet worden waren, an dem man sie gefunden hatte. Vielmehr ergaben sich sehr konkrete Hinweise, dass diese Opfer zuvor bereits vergraben, später exhumiert und in das vorgefundene Massengrab überführt worden waren. Wer hatte Mittel und Möglichkeiten, eine Opfergruppe dieser Größe zu ermorden, zu verscharren und wieder zu enterdigen? Die Spur führte dabei in die unweit des Feliferhofs gelegene SS-Kaserne Wetzelsdorf (heute: Belgierkaserne), in der das SS-Panzergrenadier-Ausbildungs- und Ersatzbataillon 11 stationiert war. Damit erschließt sich nicht nur ein größerer Verbrechenskomplex, sondern drängt sich förmlich auch die Frage auf, die bisher kaum gestellt wurde: Weshalb überführt die Waffen-SS Leichen aus der Kaserne? Die Antwort kann nur ein versuchter Vertuschungsversuch sein, der, sofern man sich mit diesem näher beschäftigt hätte, sehr konkrete Spuren zu Tatverdächtigen ergeben hätte. Dies erfolgt jedoch selbst in einem 1948 gegen neun Waffen-SS-Männer durchgeführten erfolglosen US-Militärgerichtsprozess nicht, vor allem auch deshalb, weil die Voruntersuchungen ausschließlich auf mögliche amerikanische Opfer ausgerichtet waren. So ist es nur verständlich, dass sich angesichts der mangelnden Aufklärung zahlreiche Gerüchte hielten und Hinweise verdichteten. Die stärksten davon thematisierten immer wieder mögliche, noch vorhandene und ungeöffnete Massengräber in der heutigen Belgierkaserne.
Forschungsprojekt „SS-Kaserne Wetzelsdorf“. Diese Zusammenhänge waren Auslöser für ein Forschungsprojekt, das im Jahr 2008 vom Bundesministerium für Landesverteidigung in Auftrag gegeben wurde und das Kriegsverbrechen in der SS-Kaserne Wetzelsdorf sowie dem Schießplatz Feliferhof zu Kriegsende 1945 zu beleuchten hatte. Das Projekt stand unter Leitung von Univ-Prof. Dieter A. Binder und wurde von Mag. Georg Hoffmann und Mag.a Nicole-Melanie Goll durchgeführt. Dabei sollte zunächst auf bisherigen Forschungsergebnissen aufgebaut werden und sodann der Frage nach der Klärung der Zusammenhänge der Verbrechen sowie in erster Linie dem Verbleib der Opfer nachgegangen werden. Durch eine forcierte Analyse von Luftbildern und die Auswertung von bisher ungeöffneten Aktenmaterialien konnten letztlich weit mehr als die gestellten Fragen beantwortet und die Zusammenhänge in jeder Einzelheit beleuchtet werden. Die Ergebnisse wurden am 10. März 2010 vom Bundesminister für Landesverteidigung und Sport, Mag. Norbert Darabos, gemeinsam mit dem Historikerteam präsentiert. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand dabei vor allem der Beginn der Mordwelle Anfang April 1945.
Kriegsende, Beweise und Todesliste. Graz, 2. April 1945, Ostermontag: Sowjetische Truppen haben einige Tage zuvor die Reichsschutzstellung bei Rechnitz im heutigen Burgenland überschritten, ein Vorstoß in den Raum Graz scheint nur mehr eine Frage der Zeit zu sein. Eilends wird das Stadtgebiet zur Verteidigung bereit gemacht. Fliegende Standgerichte für die Suche und Aburteilung vermeintlicher Deserteure werden zusammengestellt. Ein letztes Aufgebot aus Volkssturmmännern, aber auch Teilen der in Wetzelsdorf stationierten Waffen-SS werden an die burgenländische Front geworfen, um dort, unzureichend bewaffnet, einen Gegenangriff zu unternehmen. Sie sollen letztlich der Gauleitung und damit Sigfried Uiberreither in Graz Zeit verschaffen – Zeit, um die eigene Flucht in die Obersteiermark, aber vor allem die Beseitigung von Beweisen zu ermöglichen. Bei Besprechungen in der Gauleitung wird sehr bald klar, dass sich diese Beweise nicht nur auf Akten, die bereits verbrannt werden, beziehen, sondern auch auf bestimmte Personengruppen, die sich in der Gewalt des NS-Systems befinden. Gauleiter Uiberreither lässt von Beginn an keinen Zweifel aufkommen, dass er sich dieser Menschen zu „entledigen“ wünscht und beauftragt die Gestapo Graz mit der „Abarbeitung“ einer Todesliste. Für die darauf vermerkten Menschen bedeutet dies den sicheren Tod. Nur die Frage nach dem geplanten Tatort ist zunächst Gegenstand von Diskussionen, da neben einer möglichst reibungslosen Abwicklung vor allem auch Spuren verwischt und Kompetenzen (und damit Schuld) verschoben werden sollen. Man besinnt sich rasch auf den Westen von Graz, wo mit dem Schießplatz Feliferhof eine bereits für Hinrichtungen „erprobte“ Infrastruktur vorhanden ist. Sofort erkennt man auch die Möglichkeit, die Ermordungen in den Verantwortungsbereich der Waffen-SS zu verschieben, die den Feliferhof als Übungsplatz und die nahe SS-Kaserne Wetzelsdorf als Stützpunkt nutzt – zumal sich der verantwortliche Kommandeur, SS-Sturmbannführer Wilhelm Schweitzer, zu diesem Zeitpunkt an der Front im Kampfeinsatz befindet. Zwischen den drei verantwortlichen Personen, Gestapo-Chef Josef Stüber, dem mit der Ausführung betrauten Gestapo-Kriminalkommissar Adolf Herz und Gauleiter Sigfried Uiberreither findet schließlich die Übereinkunft statt, die SS-Kaserne Wetzelsdorf für ihre mörderischen Pläne zu nutzen. Die Morde in der SS-Kaserne und fragliche Zeugen. Nach diesem Muster werden ab den Nachmittagsstunden des 2. April bis zum 7. April 1945 alle Transporte, die Personen beinhalten, derer man sich entledigen möchte, zur SS-Kaserne Wetzelsdorf gebracht. Es handelt sich dabei um rund 150 jüdische Ungarn und „Arbeitsdienstler“, die sich auf dem Todesmarsch nach Mauthausen befinden, aufgrund ihres schlechten körperlichen Zustandes marschunfähig sind und daher beseitigt werden sollen. Zusätzlich werden auch drei Transporte der besagten Todesliste der Gauleitung, die von Kriminalkommissar Herz persönlich antransportiert werden, in die Kaserne gebracht. Wie vereinbart gelingt es Adolf Herz, die Abwesenheit des SS-Kommandeurs und unklare Befehlsverhältnisse auszunutzen und alle Personen über die für rechtliche Fragen zuständige Abteilung des Bataillons in den Verantwortungsbereich der Waffen-SS zu verschieben. Diese beginnt unter Beisein der Gestapo in den Abendstunden mit den Erschießungen. Dazu werden junge, 16-jährige Waffen-SS-Rekruten abkommandiert, die die Erschießungen durchführen und später die Leichen der Opfer in Bombenkratern in der Kaserne verscharren müssen.
Unbekannte amerikanische Opfer und Zeugen? Über den tatsächlichen Ablauf der Ermordungen gibt es zahlreiche sehr widersprüchliche Aussagen von Personen, die vor allem bei einem 1948 in Salzburg abgehaltenen US-Militärgerichtsprozess zunächst als Kronzeugen angeführt werden, deren Angaben aber sehr schnell widerlegt wurden. Es sei daher hier eine bisher aus gutem Grund noch nie zu Wort gekommene Zeugengruppe aufgeführt: Angehörige der US Army Air Force. Es handelt sich dabei um jene 13 US-Flieger, deren vermeintliche Ermordung 1948 Gegenstand des US-Prozesses war. Das Forschungsteam konnte herausfinden, dass alle 13, die nun namentlich bekannt sind, zum Zeitpunkt der Morde in der Kaserne waren. Alle überlebten das Kriegsende und machten Angaben über ihre Erlebnisse. Sie sahen etwa den Elendszug der „hungarian refugees“, nachdem er die Kaserne erreicht hatte, sie hörten die Erschießungen und konnten genaue Angaben über die Lage der Bombenkrater machen. Ihre Aussagen wurden jedoch bei keiner einzigen Untersuchung, geschweige denn dem Prozess berücksichtigt. Das hatte weitreichende Auswirkungen, da durch die Wahl der falschen Angeklagten beim US-Prozess der Blick auf tatsächliche Tatverdächtige verstellt wurde. So wurde beispielsweise Adolf Herz nur als Zeuge vorgeführt und konnte dort völlige Ahnungslosigkeit heucheln. Die Frage nach Sigfried Uiberreiter wurde gar nie gestellt. So gesehen war der Ansatz des gesamten US-Prozesses mehr als fragwürdig. Er nutzte widerlegbare Kronzeugen, thematisierte einen nie stattgefundenen Mord (an jenen 13 US-Fliegern) und klagte die falschen Tatverdächtigen an. Dieser Umstand ist umso tragischer, da die österreichische Justiz dies als Feigenblatt für die eigene Untätigkeit nutzen konnte.
Vertuschung und Feliferhof. Kurz nach dem 7. April 1945 kehrte der SS-Kommandeur SS-Sturmbannführer Wilhelm Schweitzer von der Front zurück und erkannte rasch, dass Gauleitung, Gestapo und Mittelsmänner in der Kaserne Morde in seinem Verantwortungsbereich durchgeführt hatten. Er befahl eine sofortige Exhumierung der Bombenkrater und eine Überführung der Leichen auf den Feliferhof. Nur wusste er nicht um alle Krater, sondern ließ vermutlich nur jene öffnen, die augenscheinlich genutzt worden waren. In mehreren Nächten wurden die Überführungen auf den Feliferhof von sechs Waffen-SS-Männern, die wegen diverser Strafdelikte zuvor zum Tode verurteilt worden waren, durchgeführt. Auf Befehl von Schweitzer wurden diese nach getaner Arbeit in das Massengrab am Feliferhof hineingeschossen. All jene Leichen, die man überführt hatte, wurden nach dem Krieg im bereits beschriebenen Massengrab gefunden.
Forschungsergebnisse und Resonanz. Das Forschungsteam ging nun vor allem der Frage nach, ob Schweitzer alle Krater aufgraben ließ. Tatsache ist, dass nach Maßgabe aller Erkenntnisse eindeutig und beweisbar Personengruppen fehlen, die in der Kaserne ermordet wurden. Eindeutig ist auch, dass drei Bombenkrater, die noch am 2. April 1945 geöffnet waren, bis zum heutigen Tage verschlossen sind. Zudem war es möglich, drei Tatverdächtige direkt zu benennen, deren Spur nach Deutschland führt. Diese Ergebnisse wurden nun vom Bundesministerium für Landesverteidigung und Sport offiziell an die Bundesministerien für Inneres und Justiz sowie an die betroffenen Botschaften übergeben. Die nächsten Schritte werden nun aufgrund der neuen Faktenlage gesetzt. Es ist zu hoffen, dass dies ohne große zeitliche Verzögerung geschieht. Die Angehörigen der Opfer hätten sich nach 65 Jahren endlich Gewissheit verdient! | Hoffmann/Goll
Titelbild: National Archives College Park (USA). US-Aufklärungsbild vom 9. Mai 1945. Deutlich zu sehen die von der SS wieder aufgegrabenen Bombenkrater am Sportplatz. Fahrzeugspuren im rechten Bildteil sind auf die Exhumierung zurückzuführen.
Mag. phil. Georg Hoffmann, geboren 1979 in Graz, Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte, Karl-Franzens-Universität Graz im Rahmen des Forschungsprojekts „Fliegermorde. Verbrechen an westalliierten Flugzeugbesatzungen im österreichischen Raum zu Kriegsende 1945“ sowie an der Fakultät für Mitteleuropäische Studien der Andrássy Universität Budapest. Mitarbeit an zahlreichen Forschungsprojekten des Bundesministeriums für Landesverteidigung und Sport, Obmann der wissenschaftlichen Plattform „Centre for Military Studies“ an der Karl-Franzens-Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Zweiter Weltkrieg, Sicherheitspolitik, NS-Täterforschung, Luftkriegsforschung, Krisen- und Konfliktforschung (Schwerpunkt ČSSR-Krise) sowie Militärgeschichte. Dissertation über Systematik von Verbrechen an alliierten Flugzeugbesatzungen im ostösterreichisch-ungarischen Raum.
Mag.a phil Nicole-Melanie Goll, geb. 1982 in Graz, Historikerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte, Karl-Franzens-Universität Graz im Rahmen des Forschungsprojektes „Fliegermorde. Verbrechen an westalliierten Flugzeugbesatzungen im österreichischen Raum zu Kriegsende 1945“ sowie der Fakultät für Mitteleuropäische Studien, Andrássy Gyula Universität Budapest, Vorstandsmitglied des Centre for Military Studies Graz (CMS Graz), Mitarbeit an zahlreichen Forschungsprojekten des Bundesministeriums für Landesverteidigung und Sport (BMLVS). Forschungsschwerpunkte: militärische Tradition und Identität, Zivilinternierung im Ersten Weltkrieg, Luftkrieg (1. und 2. Weltkrieg), NS-Täterforschung, NS-Kriegsverbrecher und Nachkriegsjustiz, Gedächtnis und Erinnerung. Schwerpunkt der Dissertation: Konstruktion von Heldenmythen im Ersten Weltkrieg.
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