Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Rezensionen Februar
Mittwoch, 17. Februar 2010

DJ KOLCHOS DJ SOWCHOS

Das Jahr 2010 hat in den wenigen Wochen seiner Existenz bereits zahlreiche Beispiele großartiger Musik (Die Sterne, Vampire Weekend, Tocotronic, Hadu Brand) hervorgebracht. Egal. Wir beschäftigen uns lieber noch einmal mit vergangenen Dingen und huldigen zwei Debütalben des letzten Jahres. Matthias Forenbacher, Pendler zwischen Österreich und Kanada, legte mit Life Vest (pumpkin records) einen Meilenstein interkontinentalen Songwritings vor. Einmal mehr (nach Schwarzenegger oder Stronach) wird klar, dass steirische und amerikanische Mentalität in manchen Bereichen sehr gut zusammengehen: Aus Melancholie, Selbstmitleid, Sehnsucht, Verklärung und dem festen Willen zum sozialen Aufstieg werden bei Forenbacher und seiner kanadischen Begleitband The Bisons intensive, emphatische, manchmal auch todtraurige Lieder, die sehr stark von der amerikanischen Spielart des Rocks, von Country und Folk, geprägt sind. Ein wunderbares Debüt, dem nur in einem winzigen medienpolitischen Detail zu widersprechen ist: Öffentlich-rechtliches Fernsehen ist sehr wohl super (vgl. We’ve Only 2 Channels)!
Die CD Reservoir der Londoner Band Fanfarlo, die 2006 vom singenden Schweden Simon Balthazar ins Leben gerufen wurde, erschien ursprünglich bereits im Sommer des Vorjahres als Download-Album und ist ein besonders kultivierter Vertreter jenes hier so oft gewürdigten Indiepop-Subgenres, in dem trällernde junge Männer mit einem Hang zur melancholischen Weltbetrachtung ihre Meisterschaft als Komponisten und Arrangeure raffinierter Songs unter Beweis stellen. Ob die Band ihren Namen der gleichnamigen Erzählung Baudelaires entnommen hat, in der dieser auf ironische Weise seine eigene Wandlung vom Dandy-Poeten zum Spießer abarbeitete, spielt in der Beurteilung des Albums jedenfalls eine weit geringere Rolle als deren stellenweise unüberhörbare Seelenverwandtschaft mit den fast vergessenen Mabuses, die die musikalische Welt schon 1993 beinahe auf den Kopf gestellt hätten, hätte ihnen damals jemand zugehört. Fanfarlo mag vor diesem Hintergrund eine späte Blüte jenes romantischen Songwritertums sein, das die Löcher passabel zu füllen vermochte, welche die Bärtigen und Haarigen hinterlassen, solange sie anderen Aufgaben zugewendet bleiben.

 
Sach- und Fachbücher

Eine Krise? Sieben Krisen!
Winfried Wolf: Sieben Krisen – ein Crash. Wien: Promedia 2009, 256 S., 32 Euro

Wie kaum ein anderer Autor verfolgt Winfried Wolf das Thema einer möglichen Weltwirtschaftskrise seit zwei Jahrzehnten. Sein Ansatz, die aktuelle Krise zu erklären, ist breit angelegt; damit unterscheidet er sich von den bisher vorgetragenen wesentlich. Wolf ortet sieben Krisen, die sich zu einer großen historischen Krise bündeln und in einen kapitalen Crash münden. Im Zentrum stehen für Wolf die Krise der materiellen Produktion (1) und die Krise in den zwei Schlüsselindustrien, der Automobil-  und der IT-Branche (2). Die soziale Krise (3) mit der extrem ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung beschleunigte schließlich die Finanzkrise (4), die mit der de facto-Pleite des gesamten weltweiten Finanzsektors eine neue Dimension in der Geschichte des Kapitalismus darstellt. Die “Hegemonie-Krise” - oder auch die Dollar-Krise (5) – erinnert an vorausgegangene historische Krisen, die beispielsweise zur Ablösung der niederländischen Hegemonie im kapitalistischen Weltsystem Mitte des 18. Jahrhunderts bzw. der britischen zu Anfang des 20. Jahrhunderts führten. Die Globalisierung der letzten zwei Jahrzehnte trug des weiteren maßgeblich dazu bei, dass wir zugleich ein immer weiteres Auseinanderklaffen zwischen der nördlichen und der südlichen Erdhälfte beobachten, die durch eine Hungerkrise (6) manifest wird. Schließlich – nicht zuletzt und noch nie da gewesen – ist die Umwelt- und Klimakrise (7): Die Endlichkeit der spezifischen, stofflichen Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise ist erstmals in der Geschichte menschlicher Produktion ein maßgeblicher – und möglicherweise entscheidender – Krisenfaktor. \ cs

Lust auf Proust
Luzius Keller (Hg.): Marcel Proust: Enzyklopädisches Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung. Hamburg: Hoffmann und Campe 2009. 1018 Seiten, 128 Euro
Michael Maar: Proust Pharao. Berlin: Berenberg 2009, 80 Seiten, 19 Euro

Der 1872 geborene und 1922 verstorbene Marcel Proust hat seine bürgerliche Welt vor deren Auflösung noch in einer gewaltigen Lebensanstrengung mit „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ kartografiert. Während sein Zeitgenosse Joyce mit „Ulysses“ den antiken Mythos als Startrampe genützt hat, entwirft Proust seinen eigenen Mythos bürgerlicher Sensibilität als Erkenntnismethode. Mittlerweile bilden die zahllosen Texte über Proust schon einen zweiten, ähnlich undurchdringlichen Gegen-Kontinent wie die „Recherche“ selbst, aus dem nun zwei neue Landmarken, Führer, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, herausragen.
Während Michael Maars schmaler Band „Proust Pharao“ eine Art Appetizer auf hohem Niveau darstellt, ist das von Luzius Keller herausgegebene „Proust-Lexikon“ ein massives Standardwerk. Maars Text verbindet geradezu aberwitziges Detailwissen mit einer unbefangen praktizierten, biografischen Methode. Sowohl die Homosexualität Prousts wie die Bindung an seine Mutter, sowohl sein Asthma als auch sein schriftstellerischer Egoismus werden unverstellt zur Erklärung des Werkes behandelt. Aus der Analyse oft widersprüchlicher, neuer Quellen entsteht ein knappes, gleichsam pointillistisches Portrait. Neben „Pharao Proust“ mit seinen Querverbindungen etwa zu Thomas Mann gibt es kein vergleichbares Buch, das geeigneter wäre, dem Leser Lust auf eine erste Lektüre der „Recherche“ oder auf deren Wiederaufnahme zu machen.
Auf völlig andere Weise unentbehrlich ist die von Luzius Keller bei Hoffmann und Campe herausgegebene „Proust-Enzyklopädie“. Die alphabetisch geordneten Schlagworte und Begriffe beziehen sich auf die Biografie Prousts, Schlüsselworte und Themen in der „Suche nach der verlorenen Zeit“ und die relevanten historischen Ereignisse und Persönlichkeiten. Aber vor allem ist die „Proust-Enzyklopädie“ der ideale Begleiter für die Lektüre des Primärtextes. Sie erspart dem Leser das Durchforsten der Indices (und Textstellen) in den klassischen Biografien von Painter oder Tadìé. Wer sich also zu einem der größten noch möglichen Leseabenteuer entschließt, ist mit diesen beiden Büchern sehr gut ausgestattet. Wenn es ihm noch gelingt, Robert Shattucks leider vergriffenes „Marcel Proust“ aufzutreiben, das zwar weniger anspruchsvoll ist, aber einen hervorragenden Abriss von der Konstruktion des gewaltigen Romanes bietet, ist er bestens ausgerüstet. | wh

What to do with the white cube?
Aldo Gianotti, Toma˛ Kramberger: A book with 50 potential ideas for the exhibition is published. Graz: Forum Stadtpark 2009, 125 S., 0 Euro

Die Gestaltung der fünften Ausstellung der Reihe “Plateau – Raum für Zwei”, deren Hauptaugenmerk auf dem Austausch zwischen zwei geladenen Künstlern liegt, oblag Aldo Gianotti und Toma˛ Kramberger, mit dem Resultat eines leeren Ausstellungsraumes – bis auf Stapel dieser frei erhältlichen Publikation mit 50 Ideen für eine Ausstellungsgestaltung, als „copyleft“ zur weiteren Verwendung freigegeben. Ein Auszug aus den banalen bis skurrilen Vorschlägen: die Künstler designen ein Tattoo für die Kuratorin; ein Rasenstück in Form der Ausstellungsfläche aus dem Park schneiden und nach innen verlegen; die Künstler verwenden das Ausstellungsbudget für einen Urlaub und senden täglich Postkarten, die in der Galerie ausgestellt werden; ein Psychotherapeut steht den Besuchern für die Dauer der Ausstellung gratis zur Verfügung; ein Buch mit 50 potenziellen Ideen für die Ausstellung wird veröffentlicht.
Nicht zuletzt durch die Skizzen der Künstler amüsant zum Durchblättern, wenn auch zum Teil sehr an bereits verwirklichte Ideen anderer Künstler angeknüpft wird – was die beiden jedoch auch nicht bestreiten.  \ yb

Österreichische Architektur-Avantgarde
The Austrian Phenomenon. Architektur, Avantgarde, Österreich; Konzeptionen, Experimente. Wien Graz. 1956 – 1973. Hrsg. vom Architekturzentrum Wien, Konzept und Redaktion: Johannes Porsch. Wien: Birkhäuser 2010. 1240 S., 89,90 Euro

Der programmatische Beitrag von Peter Cook aus dem Jahr 1970 liefert den original englischen Titel des Bandes: Cook charakterisierte als „Austrian Phenomenon“ die Arbeiten der österreichischen Architekten, bezeichnete sie als „utopische Szenarien“ und ihre Texte als „utopische Rhetorik“. Insofern ist das vorgelegte Monumentalwerk vor allem im Hinblick auf die später dann realisierten Bauten äußerst interessant. Um den Weg der Baumeister nach dem Jahr 1973 (Ölkrise!) von der Vision zum Bauwerk nachzuvollziehen, dafür muss auf andere Publikationen zurückgegriffen werden.
Die Erwähnung von Graz im Titel gilt der „Planungsgruppe Günther Domenig / Eilfried Huth“ und der „Werkgruppe Graz“ mit Eugen Gross, Friedrich Groß-Rannsbach, Werner Hollomey und Hermann Pichler. Der Aufsatz „Das Forum Stadtpark und die Grazer Situation“ von Alfred und Hedwig Kolleritsch (original im Residenz Verlag Salzburg 1967) erhellt über die Architektur hinaus jene Atmosphäre des kulturellen Aufbruchs in der Steiermark, wie er im Forum Stadtpark konzentriert und gefördert wurde. Andere Autoren wie Ernst Fischer (1951), Friedrich Achleitner (60er Jahre und später – zum Teil kurios: „In der Architektur herrscht das Bauhaus“, 1985! als international schon die Postmoderne gepflegt wurde) oder Robert Menasse (1985) bieten Reflexionen und kritische Darstellungen sowie Einordnungen des Bauwesens in gesellschaftliche Prozesse und deren grundsätzliche Widersprüchlichkeiten. Nicht nur den österreichischen Theoretikern, sondern auch vielen deutschen, italienischen, britischen Publizisten war das Austrian Phenomenon zu seiner Zeit und danach wert, es zum Gegenstand ihrer Diskurse und Diskussionen zu machen. Der vorliegende Band versteht sich als Sammlung von Materialien und sein Hauptanliegen ist nicht nur historisch; denn es sollen die Begriffe „Experiment“ und „Konzeption“ in ihrer Bedeutung auf eine „ständige Erforschung der Grundlagen“ der Arbeit des Architekten hinlenken. So zitiert Johannes Porsch in der Einleitung einen Text des Architekten und Autors Otto Kapfinger.
Für Raimund Abraham, Coop Himmelblau, Haus-Rucker-Co, Hans Hollein, Wilhelm Holzbauer, F. Hundertwasser und Friedrich Kurrent, Gernot und Johanne Nalbach, Laurids Ortner, Walter Pichler, Heinz Tesar und viele andere Architekten Österreichs – zum Teil im Ausland erst zu Baumeistern geworden – bringt dieses umfang- und facettenreiche Buch wichtige Quellen zu ihrer jeweiligen bildnerischen und konzeptuellen „Frühgeschichte“. \ H. W. Tax

Öffentliche Kunst-Stücke
Werner Fenz, Evelyn Kraus, Birgit Kulterer, (Hg.): Kunst im öffentlichen Raum Steiermark. Art in Public Space Styria, Projekte / Projects 2007-2008. Wien: Springer Verlag 2010, 344 S., 39,90 Euro.

Es ist ein starkes Stück Steiermark geworden – auf 300 Seiten liefert das Institut für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark mit seinem ersten Jahrbuch einen „Tätigkeitsbericht“ ab, der sich sehen lassen kann: 37 realisierte Projekte, die seit der Gründung des Instituts im Herbst 2006 bis Jahresende 2008 realisiert werden konnten, werden detailliert besprochen und bebildert. Von der Platzgestaltung über die temporäre Intervention oder Performance bis zum Ehrendenkmal ist alles vertreten.
Die Zahl eins, dick und rot auf den Buchrücken gedruckt, leitet gleichzeitig eine regelmäßige Publikationsreihe ein – mit stets wechselnden Schwerpunkten und Exkursen. Zum Einstieg werden dabei der veränderte Denkmalbegriff und seine Umsetzungen zum Diskurs gestellt –Leiter des Instituts Dr. Werner Fenz und Kunsthistoriker Mag. Dr. Ulrich Tragatschnig liefern die fundierten Beiträge.
Als Serie sind jene fünf Fragen zur Kunst im öffentlichen Raum gedacht, mit denen jeweils fünf ExpertInnen konfrontiert werden – Marius Babias, Paolo Bianchi, Brigitte Franzen, Sabine B. Vogel und Anselm Wagner beziehen Position, deklarieren sich zum Beispiel zu „Welche Bedeutung hat Kunst im öffentlichen Raum für eine demokratische Öffentlichkeit?“ Für die Steiermark nun endlich wieder eine gewichtige. | ep

Vielfalt, die bewegt!
Das andere Theater (Hg.): Danach hat niemand gefragt. 10 Jahre „Das andere Theater“ in Graz und der Steiermark. Graz: „Das andere Theater“ 2009, 156 Seiten

Anfang der 90er Jahre, als die Kultur der Offenheit in Graz und der Steiermark (noch) gefragt war, haben Kultur- und Bildungsorganisationen mit viel Engagement und mit dem Wohlwollen der politisch handelnden Personen Netzwerke zu knüpfen begonnen. Die Basis für ein Miteinander wurde geschaffen, kreative und tatkräftige Menschen fanden zueinander. Unter anderem formierte sich eine Plattform, die sich für die Anliegen des freien Berufstheaters in Graz einsetzte. 1999 war es dann soweit: Vier freie Grazer Theater – TiB, Mezzanin-Theater, TaO!, Steinbauer & Dobrowsky – gründeten „Das andere Theater“. 10 Jahre später erschien diese Publikation. Sie ist sehr informativ und sachlich, detailliert, dennoch übersichtlich und vor allem ganzheitlich, denn neben  Theatermenschen „der ersten Stunde“ und PolitikerInnen kommen die Menschen zu Wort, die im und mit diesem Theater arbeiten. „Danach hat niemand gefragt“ ist mehr als eine Jubiläumsschrift und auch mehr als ein Nachschlagwerk. Es ist lebendiges Theater, dem viel Erfolg für die nächsten 10 Jahre zu wünschen ist. \ dw

KORSO verlost in Kooperation mit „Das andere Theater“ 3 Exemplare des Buches beim Kulturquiz unter www.korso.at

Migration und Gesundheit
Éva Ràsky (Hg.): Gesundheit hat Bleiberecht. Migration und Gesundheit. Wien 2009: Facultas, 384 S., 24,90 Euro

Soziokulturelle Faktoren determinieren die Gesundheit von Frauen, Männern und Kindern bedeutend. Diese wissenschaftliche Erkenntnis bildete den Ausgangspunkt der Festschrift zum Anlass des 10-jährigen Bestehens des Ambulatoriums Caritas Marienambulanz in Graz, erläutert die Herausgeberin. Die gesundheitliche Versorgung muss oben genannte Tatsache entsprechend berücksichtigen. Wie aber geht das Gesundheitssystem tatsächlich damit um, vor allem im Hinblick auf die Gesundheit und Gesundheitsversorgung von MigrantInnen und „Fremden“? Diese Frage steht im Mittelpunkt der insgesamt 47 Beiträge namhafter ExpertInnen aus den Bereichen Gesundheit, Medizin, Soziales, Recht und Kultur. So vielfältig und umfangreich wie das Thema an sich sind die Beiträge, die von der Auseinandersetzung mit dem Titanic-Syndrom (Wolfgang Gulis) über das Recht auf Gesundheit von SexarbeiterInnen (Maria Cristina Boidi und Renate Blum) bis zur Auseinandersetzung mit ethno-kulturelle Diversität im Krankenhaus (Ursula Karl-Trummer und Sonja Novak-Zezula) reichen. Der Einführung steht leider kein Nachwort gegenüber. Ein solches sowie ein Sach- und Namensregister hätten den Informationswert der Festschrift erhöht. \ dw

Wir sind die stärkste der Parteien …
Manfred Mugrauer (Hg.): 90 Jahre KPÖ. Studien zur Geschichte der Kommunistischen Partei Österreichs. Wien: Alfred-Klahr-Gesellschaft 2009, 348 S., 15 Euro

Anlässlich des 90. Jahrestages der Gründung der KPÖ legt die Alfred-Klahr-Gesellschaft einen interessanten Band vor, der die Geschichte der Partei in Überblicksartikeln und Einzelstudien beleuchtet. Unter letzteren finden sich Beiträge, die bisher wenig untersuchte bzw. in Vergessenheit geratene Aspekte (wieder) an den Tag bringen, etwa Heimo Halbrainers Beitrag über die Grazer KPÖ 1918/19 oder Hans Hautmanns Untersuchung über die Auseinandersetzungen im Wiener Arbeiterrat nach den blutigen Unruhen vom Juni 1919. Manfred Mugrauer liefert eine sachliche Analyse der Reaktion der KPÖ auf den Einmarsch sowjetischer Truppen in die damalige CSSR, als die Partei vor der Weggabelung zwischen Nibelungentreue zur UdSSR und damit verbunden dem freiwilligen Weg in die Bedeutungslosigkeit auf der einen und der Verteidigung kommunistischer Prinzipien wie des Selbstbestimmungsrechtes der Völker und der Emanzipation der Arbeiterklasse auf der anderen Seite stand. Ihre Führung wählte damals bekanntlich den ersten Weg – mit den bekannten Folgen. Ein ausgezeichnetes Kompendium, das die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Prozessen und der Parteiorganisation deutlich werden lässt. \ cs


Belletristik


Hofmannsthal in authentischer Erzählung
Walter Kappacher: „Der Fliegenpalast“. St. Pölten und Salzburg: Residenz 2009, 172 S., Eur 17,90

Hugo von Hofmannsthal erhält den Georg-Büchner-Preis 2009 – Nein, Walter Kappacher erhält ihn! Hofmannsthal ist die Hauptperson im neuen Buch des Autors aus dem Salzburgischen. Dort, in Fusch an der Großglocknerstraße, verbrachte Hofmannsthal im August 1924 einige Tage. Der Verfasser des „Jedermann“ war gerade 50 Jahre alt geworden; in Kappachers Buch reflektiert er in diesen Tagen sein Leben, auf Spaziergängen oder im Hotel, wo er schon als Kind mit seinen Eltern „auf Sommerfrische“ war. Bis ins 19. Jahrhundert reichen die Erinnerungen; der Gebrauch des Nachttopfes unterm Hotelbett ist auch noch aus jener Zeit. „Fliegenpalast“ war familienintern der Name für die Veranda, wo die Mahlzeiten für die Gäste serviert wurden.
Walter Kappacher muss sehr genau recherchiert haben. Die Person des Hugo von Hofmannsthal erscheint dem Leser mit all seinen Problemen jener Wochen: die Schaffenskrise, die den Schriftsteller heimsucht und ängstigt, die Reflexion der Weltlage samt Geldentwertung und der bevorstehenden Währungsumstellung von der Krone zum Schilling in Österreich, die Hoffnung auf erfolgreiche Festspiele, das Salzburger Konzept von Hofmannsthal und Max Reinhardt. Sogar der auf der Festung Landsberg einsitzende Hitler taucht bei der Morgenlektüre der Zeitung auf und weckt bei Hofmannsthal Erinnerungen an den erfolglosen jungen „Maler“, der vor dem Ersten Weltkrieg in Wiener Kaffeehäusern an ihn und Freund Peter Altenberg seine Bildchen zu verkaufen versuchte.
Gleichzeitig spricht eine originale Figur namens H. v. H., und dahinter verbirgt sich der Autor, Kappacher, der jedoch eine ganz eigene Sprache und einen eigenen Stil hat, um diesen anderen schöpferischen Geist zu gestalten. Produktive Spannung entsteht durch die Differenz zwischen der historischen Person des Dichters und der fast raffiniert einfachen, authentischen Sprache der Erzählung im „Fliegenpalast“. Hofmannsthal gehörte um 1900 zu jenen österreichischen Autoren, die die Krise der Moderne auch als Krise der Sprache im Zweifel an ihrer Ausdrucksfähigkeit vorwegnahmen. Dennoch sagt H. v. H. bei Kappacher: „Was uns aus dem Labyrinth herausführt, dachte er, ist ja doch die Sprache.“ Es entsteht das Bild eines Künstlers in seiner Fragilität und Festigkeit zugleich, und dank der Darstellung von Walter Kappacher erkennen wir auch einige spezifische Wurzeln, aus denen unsere heutige widerspruchsvolle Gegenwart gewachsen ist.
Georg-Büchner-Preis 2009 für Kappacher! (Den zweiten Österreicher nach Josef Winkler 2008.) \ H. W. Tax

 Literatur und ihre Nebenergebnisse
„manuskripte“ Graz, Heft 186, Dezember 2009, 149 Seiten, 10 Euro

„Raubgrabungen der Liebe“, das steht über den sieben Seiten der Lyrik von Nikola Madzirov, einem mazedonischen Autor, dessen Gedichte von Alexander Sitzmann aus dem Mazedonischen ins Deutsche klanglich schön und mit überzeugenden Bildern übersetzt sind: „Sich vom Zirkel der Zeit erholen, der in unsere Herzen gestochen ist …“ Marcus Poettler, Christian Rosenau – beide original deutsch – und Nóra Ruzicková, deren fünf Seiten Lyrik aus dem Slowakischen übersetzt sind, stellen ihre neuen Gedichte vor: jeweils mit ganz eigener Handschrift.
Wie immer leiten die Prosaarbeiten das Heft ein: Es sind darunter unabgeschlossene Texte,  etwa von Richard Obermayr ein Auszug aus seinem demnächst erscheinenden Roman „Das Fenster“, mit dem Anklang von Geheimnissen, die aus Erinnerung oder Vergangenheit entstehen, oder ein Text von Wilhelm Hengstler (den KORSO-Lesern wohlbekannt) mit dem Titel „Zulm“, das ist arabisch für Tyrannei. Darin erzählt Victor Ogrisegg von seinem Leben in Indien und London und Wien. Aber bei Hengstler, wie auch etwa bei Gerhild Steinbuch in der kurzen Erzählung „Schnee“, ist nicht die Story, sondern ihre Machart der Angelpunkt. Dem Anspruch wird auch Arno Geiger mit zwei kurzen Texten gerecht, ebenso wie Erwin Einzinger mit Erzählungen, es sind witzige Zugriffe auf allzu menschliche Situationen und genaue Beobachtungen, deren Sprache zwischen plausibel und absurd schwankt. Deshalb „Zeitschrift für Literatur“! Diesem Anspruch werden auch die Essays gerecht, diesmal mit der nachdenklichen Rede von Thomas Stangl, Träger des „manuskripte“-Preises 2009, über Sätze, die „sich öffnen, weiten und verzweigen können“, und mit der Laudatio von Paul Jandl auf Stangl, dem er die Fähigkeit zu „widerständiger Empathie“ zuspricht. Leopold Federmair reflektiert über „Wandlungen des Schriftstellers Peter Handke“ und dessen atmosphärische Verwandtschaft etwa zur österreichischen Dorfwelt von Thomas Bernhard. Wobei Federmair seinen Aufsatz mit „Befreiung und Heimkehr“ überschreibt.
Die jüngsten Autoren des Heftes sind Marie T. Martin (Jg. 1982) und Markus Pak (Jg. 1984), die in einer Art von Leichtigkeit des Seins kurze Prosatexte vorlegen. Auch Iris Hanika mit ihrem ironischen Ton über „Amerika, Europa, Literaturwissenschaft und sexuelle Dinge“ ist unterhaltsam: Unter Anspielung auf immerhin „Weltliteratur“, nämlich einen Paulusbrief aus dem NT – „hätte ich aber der Liebe nicht“, Martin Luthers Übersetzung, findet sie, Lieben sei wesentlich interessanter als Geliebtwerden. Dies kann sie zwar nicht empirisch beweisen, aber ihre deduktive Logik entbehrt nicht eines satirischen Lustgewinns. Und das ist doch ein gutes Nebenergebnis von Literatur. \ H. W. Tax

Sterz zeigt Grenzen auf
Sterz 102. „Grenzen“. 63 S. Großformat, 6 Euro

Man kann nicht behaupten, dass STERZ-Herausgeber Gernot Lauffer ein rasend innovatives Thema für die eben erschienene Ausgabe ausgewählt hat, aber: Die hier abgedruckten Beiträge strafen das Vorurteil Lügen, dass hierzu schon alles Relevante gesagt wurde. Drei Highlights unter vielen: Simin Sorayas deutsch-iranische Grenzüberschreitung (allen nationalistischen Engführern zur Lektüre empfohlen), die „trialektische“ Grenzdefinition des Grenzgängers zwischen extremer Rechter und extremer Linker, Henning Eichberg – und das wunderbare Fototableau „Veiling“ von H. H. Capor über das Spannungsfeld zwischen Tschador und Bikini.  \ cs

Plurale Perspektiven
perspektive 62/63. vending machines. Graz: perspektive 2009. 10 Euro

Diese Doppelausgabe bietet extra viel Lesestoff und es ist für jeden etwas dabei: von Helmut Schranz‘ kon- kreter Poesie über Politisches von Evelyn Schalk bis zu Max Höflers Orgienbeschreibung. Florian Neuner bietet mit „satzteillager“ eine Sammlung von Kau- sal- und Temporalsätzen, die Erinnerungen, Reflexi- onen und Poetologisches einfangen und dem Leser die Chance geben sollen, sich von inhaltlichen und klanglichen Assoziationen leiten zu lassen. Wozu Hauptsätze, wenn man auch allein durch Nebensätze durch die Gedankenwelt des Autors geführt werden kann? Lilly Jäckl entführt in die Tiefen Ecuadors, wo sie als Beobachterin am Rande der Eskalation eines Konflikts zwischen den Shuar und der Polizei Sprache und „digitalisierte“ Lebensweise des indigenen Volkes analysiert. Auch die Audimax-BesetzerInnen halten Einzug in die perspektive durch lale rodgarkia-daras Text für eine Performance der „Elektronik Teatime“ im Wiener Audimax im November 2009. \ yb

„Was heilt, hat recht“
Mathias Grilj: „40 Tage Pathos. Übungen in Achtsam- keit“. Graz/Laafeld: Artikel-VII- Kulturverein für Steiermark 2009. (=Literarische Schriften- reihe des Pavelhauses, Bd. 6). 157 Seiten, 10 Euro (Beide Bände, Deutsch + Slowenisch: 15 Euro)

Da geht einer her, ein Sensibler, ein Empathiker, dem die Bestialitäten, zu denen der Mensch seinesgleichen gegenüber fähig ist, den Boden unter den Füßen weg- ziehen, der sich seit Jahr und Tag die autodestruktive Betäubung als Überlebensmittel erwählt hat – und schließt einen Pakt: 40 Tage lang will er zumindest zehn Zeilen täglich schreiben, Texte „zwischen Intros- pektion und pragmatischer Vision“, sich damit in die Pflicht nehmen und die Achtsamkeit sich selbst, seiner Frau, seinen Mitmenschen gegenüber wieder erlernen. Sich nach Münchhausen-Art am eigenen Schopf aus dem Schlamassel ziehen. Schritt für Schritt scheint’s zu gelingen, sind alltägliche Verrichtungen nicht mehr verachtenswerte Bürde, sondern beginnen Befriedigung zu schaffen, trotz immer wiederkehrender Rückschläge ... Und wenn’s auf Seite 45 heißt: „Das ist kein Kunst- Projekt, es geht um’s Überstehn“ – wo liegt denn da der Unterschied?
„40 Tage Pathos. Übungen in Achtsamkeit“ wurde von Mira Miladinović Zalaznik in die Muttersprache des Autors, ins Slowenische, übersetzt. Eine Mini-CD liegt bei (Mathias Grilj liest, begleitet von Paul Grilj auf der Gitarre). \ cs


DVD


LebenskünstlerInnen in Wort und Bild
Das Glück der Anderen. Ein Film von Christian Goriupp und Roman Pachernegg. ASCOT Life!, Österreich 2008, 88 min., 14,99 Euro

Mit freundlicher Unterstützung von CINESTYRIA und der STADT GRAZ entstand „Das Glück der Anderen“ von Christian Goriupp und Roman Pachernegg, fei- erte Anfang 2009 im UCI Annenhofkino in Graz seine Premiere, lief dort einige Wochen und anschließend in Kinos in nahezu allen österreichischen Bundeslän- dern. Über 2.500 BesucherInnen sahen den Film, in dessen Mittelpunkt gehaltvolle Gespräche mit erfolg- reichen Personen über das Glücklichsein, das erklär- te Ziel der menschlichen Existenz stehen, untermalt von aussagekräftigen Naturaufnahmen und jazziger Musik. Am 19. Dezember 2009 fand eine Auslandsp- remiere im Werkstattkino München statt. Der mit dem Bronzenen Bären des 37. Festivals der Nationen ausgezeichnete Film hat Aufmerksamkeit bei ASCOT Life! erweckt und Ende Jänner konnte das Film-Team die DVD mit Einblicken in das Bonusmaterial in Graz präsentieren, die nun inklusive umfangreichen Bo- nusmaterials im Handel erhältlich ist. Sehr sehens- und hörenswert! | dw

» Keine Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.
» Kommentar schreiben
Nur registrierte Benutzer können Kommentare schreiben.
Bitte melden Sie sich an oder registrieren Sie sich.
 
< zurück   weiter >