Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Vom „Tempel der Vernunft“ zu „evaporated landscapes“
Freitag, 16. Oktober 2009

Willi Hengstler über den steirischen theaterherbst

Tempel der Vernunft. Ursprünglich war der „Tempel der Vernunft“, mit dem der steirische herbst 2009 eröffnet wurde, die von den antiklerikalen Jakobinern 1792 umfunktionierte Kathedrale Notre Dame de Paris. Allem Anfang schwingt im „Kult der Vernunft“ die Ambivalenz mit, schlägt der Kult doch leicht ins Irrationale um.

Ambivalent wirkte auch der herbst-Tempel in der List-Halle. In 24 transparenten, ineinander verschachtelten Abteilungen konnten die Besucher ziellos zwischen Kunstaktionen, Wissensvermittlung und Therapien surfen. Das antiklerikale, revolutionäre Pathos von 1793 ist zu einem sanft-verspielten Diskurs der Diskurse mutiert. Das alles war allerdings so oder so ähnlich schon bei anderen herbst-Eröffnungen oder Programmen (2003 „insideout“ von Sascha Waltz, 2007 „Schwarzmarkt für nützliches Wissen“ im Orpheum) zu sehen. Auch das TIB hat seine ironische Kommentierung gesellschaftlicher Ereignisse schon konzentrierter vorgeführt. Trotzdem, einige Aktionen waren neu und gelungen. Relevanz lag jedenfalls in der architektonischen Ähnlichkeit der Installation mit den Supermärkten und Einkaufszentren, den eigentlichen Tempeln der Gegenwart: Überangebot in den Regalen, Platzmangel in den Gängen, kein Zentrum nirgendwo.

Radio Muezzin.
Intendantin Veronika Kaup-Hasler präsentiert jeden steirischen herbst mindestens eine überragende Inszenierung. Diesmal war es „Radio Muezzin“ von Rimini Protokoll, dem Label für die Projekte von Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel. Im Orpheum ging es um von einem Radiotechniker unterstütze Muezzine aus Kairo, denen nach dem Willen der Obrigkeit die Arbeitslosigkeit droht. Vier von Tausenden, die durch Live-Übertragungen des Gebetsrufes abgelöst werden sollen. Der Abend, schon durch das religiöse Ritual und die „technische Rationalisierung“ strukturiert, verbindet das Beste des Dokumentarfilms mit der Unmittelbarkeit des Theaters. Und natürlich schwingt neben diesem Thema im Subtext auch die Neugier oder Angstlust des Westens vor dem Islam durch. Bei den Erzählungen der Muezzine lauscht man einem aus dem Gedächtnis vorgetragenem, vom Rimini Protokoll präzis montierten Konzentrat. Die physische Gegenwart der „Erzähler/Schauspieler“ (allesamt beeindruckend) heilt diese „Unauthentizität“, die man einem Dokumentarfilm nie abnehmen würde. Ein Blinder, der zwei Stunden täglich zu seiner Moschee fährt; ein Elektriker, der nach seiner Rückkehr von Dubai schwer verunglückt und hinterher beginnt den Koran auswendig zu lernen; ein Bauernsohn und Ex-Panzerfahrer und schließlich ein in der familiären Muezzintradition stehende Sheik und Gewichtheber, der Rimini Protokoll wieder verlassen hat und nun von einem Stellvertreter verkörpert wird. (Wenn ich „ich“ sage, meine ich ihn)…sogar das Theater als Medium wird reflektiert. Im Hintergrund laufen ausgezeichnete Videofilme ab (Straßenszenen, Moscheen, private Fotos), die die wenigen Requisiten – Stühle, ein Paravent, Lautsprecher – ergänzen. Dass sich die zufälligen zu beinah epischen, spannenden Erzählungen fügen, ist ein Glücksfall… wie auch die ganze Aufführung ein Glücksfall war. Lang anhaltender, herzlicher Beifall.

Deepblue. „you are here“ von „deepblue“ ist laut Programmzettel „eine freundliche Reise in das Innere des Theaters“ und zweifellos ein zweiter Höhepunkt des Theater-herbstes. Natürlich lässt sich mit „deepblue“ auch der Schachcomputer „Big Blue“ assoziieren, der einst Garri Kasparow bezwang und später wird ein roter Schriftbalken unter der Decke die Rolle von HAL in Kubricks 2001 übernehmen. Eigentlich handelt es sich um eine Reise in das Innere eines Computers, in dem zwei Akteure Heine Rösdal Avdal und Christoph De Boeck, die Transistoren, genauer den Strom, darstellen, der in den Transistoren fließt. Was ziemlich abschreckend klingt, fängt damit an, dass sich die Zuseher in der Black Box des „Doms im Berg“ hinter einem roten Wollfaden drängen. Vor ihnen liegen DIN A4 Blätter exakt nebeneinander auf dem Boden und werden von den beiden Akteuren nach einem unergründlichen System aufgehoben. Es bilden sich Pfade für die Besucher, die erleichtert auf den Sitzen gegenüber Platz nehmen. Die stummen Akteure lesen weiterhin Papier auf, stapeln es oder legen es ab, und der rote Schriftbalken unter der Decke kommentiert jede Operation mit Bestätigungen, die wie üblich alsbald zu Fehlermeldungen werden: „refreshing copy“, „description changed“, „error“ u.ä. Das Theater, in dem die Rollen verteilt werden.  Nach einem „Papierstau“ werden die merkwürdigen Kästchen an die Zuseher ausgegeben. Die Besucher erblicken „sich selber“ in den Kästchen und lauschen amüsiert oder leicht beunruhigt den merkwürdigen Geräuschen, die aus diesen weiter gereichten, extrem miniaturisierten Theaterräumen dringen. Die Einbindung von Zusehern war selten so gelungen, heiter und klug wie in „you are here“.

Dead Reckoning. Schwerer zugänglicher war das Experiment Philipp Gehmachers (Choreografie) und Vladimir Millers (Video). In „dead reckoning“ übernehmen sie eine Navigationsmethode, die auf Fixpunkte außerhalb des Schiffes verzichtet. Die Peilung geschieht auf Grund des letzten Kurses und der verstrichenen Zeit. Im Heimatsaal wurde das derart umgesetzt, dass die stummen Videofilme von drei Tänzern auf die acht Bildflächen zweier kreuzförmig und senkrecht ineinander geschobener Wände projiziert wurden: interessanter Ansatz, auch der Besucher kommt nie zu einem kohärenten Erlebnis.

Giant City & evaporated landscapes. Nicht weniger experimentell, aber geglückter waren die beiden Arbeiten „Giant City“ und „evaporated landscapes“ von Mette Ingvartsen im Mumuth. In „Giant City“ reagieren sieben Tänzer auf eine unsichtbare Stadt, in „evaporated landscapes“ inszeniert die aus Dänemark stammende Choreografin eine „Stadt“ ganz aus Schaum, Seifenblasen, Bühnennebel und natürlich Licht, aber ohne Menschen. Die Tänzer reagieren erst mit parallelem, kaum wahrnehmbarem Vibrieren auf die „Giant City“, deren Unsichtbarkeit die leeren Stadtlandschaften in den besseren Filmen Antonionis evoziert. Sehr gute, erste herbst-Halbzeit.
» Keine Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.
» Kommentar schreiben
Nur registrierte Benutzer können Kommentare schreiben.
Bitte melden Sie sich an oder registrieren Sie sich.
 
< zurück   weiter >