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Boulevard- Wissenschaft
Freitag, 16. Oktober 2009
Kopfzeile - von Martin NovakDass nur schlechte Neuigkeiten gute Neuigkeiten sind, ist eine der Falschwahrheiten, die in Medienseminaren so gerne verbreitet werden. Tatsächlich sind nur neue Neuigkeiten gut, weil es aber davon nicht genug gibt, ist die Versuchung groß, Medien gelegentlich auch alte Neuigkeiten unterzujubeln. Eine neue Neuigkeit ist zum Beispiel die Entdeckung eines wirksamen HIV-Impfstoffs: „Nach Jahrzehnten der Fehlschläge machen Versuche in Thailand Hoffnung in der schwierigen Jagd nach einem HIV-Impfstoff“ reportierten die Medien dieser Welt (im speziellen Fall The Guardian) die gute Nachricht enthusiastisch.

Es waren nicht viele Zeitungen von der New York Times abwärts, die diese (scheinbare) Sensation etwas nüchterner bewerteten – zu diesen gehörte auch die Kleine Zeitung: „Erst ein kleiner Schritt im Kampf gegen Aids“ bilanzierten Petra Prascsaics und Julia Schafferhofer. Angesichts der behaupteten, aber noch nicht wissenschaftlich publizierten und daher auch nicht überprüfbaren Senkung des Infektionsrisikos um rund 30 Prozent, die noch lange keine Zulassung eines Impfstoffs in Europa rechtfertigen würde, der zudem gegen die in Afrika verbreiteten Virusstämme überhaupt nicht wirkt, ist das eine höchst fundierte Analyse. Die Süddeutsche Zeitung zum Beispiel („Impfstoff gegen Aids erstmals erfolgreich“) hat das nicht geschafft. Nur in einem Punkt war die Kleine unpräzise: Es waren nicht (nur) die „Boulevard-Blätter“, die sich zu einer unangebrachten Euphorie hinreißen ließen.
Diese Euphorie darf man nicht den Medien zur Last legen. Wohl auch bedingt durch den immensen wirtschaftlichen Druck, dem die Forschung ausgesetzt ist, etabliert sich eine Art „Boulevard-Wissenschaft“, die ihre Studienergebnisse eher über Pressekonferenzen in Bangkok und Youtube als über Lancet und das British Medical Journal verbreitet. Die übliche Qualitätskontrolle, die bei wissenschaftlichen Journalen Standard ist, entfällt dadurch. Dieses Manko auszugleichen, kostet Journalistinnen und Journalisten in Publikumsmedien sehr viel Zeit – und wenn es ihnen nicht gelingt, kann man es ihnen auch nicht verübeln: Wissenschaftler des britischen „National Institute for Health and Clinical Excellence“, die die Wirksamkeit einer bestimmten Therapie zu überprüfen hatten, fanden 888 Studien dazu. Nach der üblichen Qualitätskontrolle blieben acht Studien übrig, die sich als ausreichend wissenschaftlich fundiert erwiesen.
Da können es sich Wissenschaftsjournalisten, wie es Jan Schweitzer in der Zeit formulierte, noch so sehr vornehmen, „skeptisch zu sein, zu analysieren, weiterzudenken - kurz: kritisch zu sein“, wenn nur ein Bruchteil der verfügbaren („wissenschaftlichen“) Grundlagen tatsächlich ausreichend vertrauenswürdig sind, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch die Kritischsten danebengreifen. Da kann man dann ja gleich in Google recherchieren.

Martin Novak ist Journalist, Medienfachmann und Geschäftsführer der Agentur „Conclusio“ in Graz

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