Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Rezensionen
Mittwoch, 13. Mai 2009

Melitta Breznik: Nordlicht Roman. / Christof Huemer: „Zweifellos“ / „Freud lesen in Goa. Spiritualität in einer aufgeklärten Welt“ / Wolfgang Wehap: Radlerleben. Ansichten steirischer RadfahrerInnen, vom Sattel aus notiert / Manuskripte 183 / Peter Jirak: NEKROPHILER KAPITALISMUS Vertreibung oder Triumph der Bestie / Steirisches Jahrbuch für Politik 2008 / Charlotte Keil-Meran: Franz Meran. Der Sohn im Schatten von Erzherzog Johann / Robert Reithofer (Hg.) Korrektur der Bilder. Lokale Herausforderungen durch Migration im internationalen Kontext.“ / Christian Ehetreiber, Bettina Ramp, Sarah Ulrych: „...und Adele Kurzweil und ... Fluchtgeschichten(n) 1938 bis 2008“

Belletristik

Der Schatten des Vaters

Melitta Breznik: Nordlicht Roman.
2009   Luchterhand Literaturverlag, 17,95 Euro.

„Nordlicht“ – der Titel des neuen Romans der aus Kapfenberg stammenden, in der Schweiz praktizierenden Ärztin Melitta Breznik ist nicht zuletzt auch eine Aufklärungsmetapher: Gerade der Norden – als Topos der literarischen Seelenlandschaft gewöhnlich ein Bild für Dunkelheit, Vereinsamung und Melancholie – ermöglicht der aus ihrem Berufs- und Eheleben geflohenen Psychiaterin Anna Berghofer eine emotionale und biographische Aufhellung.
Die Geschichte beginnt in Graz, ein Ort, den sie eingestandener Weise immer wieder vermisst. Anna lernt da einen um 15 Jahre älteren Mann kennen, den sie heiratet und mit dem sie nach Zürich zieht. Die Beziehung endet in einem Desaster, in einer völligen Entfremdung voneinander. Das Zusammentreffen von Eheunglück, beruflicher Überanstrengung, einer Geschwulst an der Gebärmutter und der Angst, psychisch zu kippen, führen sie zum abrupten Entschluss, sich dem bisherigen Leben zu entziehen. Auf einer Lofoteninsel macht sie sich an eine tiefgreifende Erinnerungsarbeit, die ihr schmerzlich hilft, sich zu restituieren: „Diese Gegend bestätigt mir in ihrer Unverrückbarkeit täglich meine Existenz.“ Über ihre seinerzeitigen Motive macht Anna sich aus der Rückschau keine Illusionen: die Entscheidung für den älteren Mann „hatte sicher mehr mit der Sehnsucht nach ihrem Vater zu tun als ihr lieb war.“ Und damit, dass dieser Mann, im Gegensatz zu ihrem Vater, der ein in sich gekehrter, wortkarger Mann war, sie mit seiner Art zu erzählen zu fesseln vermochte.
Der Vater, über dessen Stationierung auf den Lofoten Anna vor Ort auf der Basis von dessen Kriegstagebüchern recherchiert, hatte sich mit der Mutter vor seinem Einrücken verbunden, war aber aus Krieg und Gefangenschaft gebrochen, mürrisch und reizbar zurückgekehrt. Anna möchte durch ihre Erkundungen nun die Leerstelle „Vater“ füllen, das enträtseln, was der Vater nie erzählt hat, um zu verstehen, warum dieser in seinem Nachkriegsleben „nie richtig glücklich schien“, sondern „meist gehetzt war“, und warum sie nie die entsprechende Liebe von ihm erfahren konnte. Während das Anliegen der deutschsprachigen „Vaterliteratur“ der 70er und 80er Jahre meist darin bestand, in wütenden Nachrufen durch Entlarvung von deren Kriegsvergangenheit einen Bruch mit der Vätergeneration zu vollziehen, versucht Brezniks Protagonistin, sich diesen Fremden vertraut zu machen und ihn in ihre biographische sowie in die Familienerzählung zu integrieren.
In diesen Roman ist, gleichsam als Spiegelgeschichte, die katastrophale Kindheit und die Vatersuche des sogenannten Deutschenbastards Giske eingewoben. Sie wurde von ihrer Mutter nach Abzug der Besatzer weggeben, wuchs bei einer Pastoren-Pflegefamilie auf, die an jene in Ingmar Bergmanns „Fanny und Alexander“ erinnern mag. Ihre Odyssee durch Erziehungsheime und Psychiatrie ist eine erschütternde Schilderung schwarzer Pädagogik und ist gleichermaßen eindrucksvolle literarische Psychiatriekritik. Erst als sie nach 50 Jahren ihrer Mutter wiederbegegnet, erlangt sie einige Anhaltspunkte, die es ihr möglich machen, Nachforschungen über ihren leiblichen Vater anzustellen. Der Roman führt in raffinierter und spannender Parallelkonstruktion zwei weibliche Lebenslinien zusammen, und die Art des Umgangs mit ihrem Schicksal sowie ihre Selbstregenerationskraft macht Anna und Giske zu außergewöhnlichen literarischen Frauenfiguren.   \ GH

„Zweifellos“ vielversprechend

Christof Huemer: „Zweifellos“. Graz: Edition Keiper 2008. 272 Seiten, 17,90 Euro

Nachdem das Verlegen belletristischer Texte aus Graz bereits ein weitgehend ausgereiztes Unternehmen schien, belehrt die „edition keiper“ (Mathias Grilj „So geht Leben“, Martin Wanko „Bregenzer Blutspiele“) viele Leser eines Besseren. Auch „Zweifellos“, der erste Roman des Grazer Literaten und Journalisten Christoph Huemer passt nicht schlecht in dieses Programm lebendiger, unpräteniöser Texte, die bei durchaus überregionalem Ansatz im Regionalen angesiedelt sind.
Schon das Sujet von „Zweifellos“ – ein vorübergehend berühmter DJ, der  aus Berlin nach Graz heimkehrt, einerseits eines Musikprojektes wegen, andererseits um eine Verflossene wieder zu gewinnen und prompt in eine Verschwörung gerät – verdient das Interesse der heimlichen Literaturhauptstadt. Dass Huemer mit der Geste der Coolness sein Buch mit Stilelementen der klassischen Moderne ausstattet, immer wieder „hohe Literatur“ einfordert und lustvoll mit Paratexten (Überschriften, Zwischentitel) operiert, macht „zweifellos“ sehr respektabel. Darüber hinaus bricht er, dem selber popagierten Zeitgeist entgegenlaufend,  die Chronologie auf und entwirft immer wieder lang sich hinziehende Bewusstseinsaugenblicke. Huemers Erstling segelt also (bewusst?) unter falscher Flagge. Zudem hätte er ein handlicheres Design und einen besser lesbaren Druck verdient. Immerhin: Da wo Huemer vielleicht scheitert, gelangen „volatilere“ Schreiber erst gar nicht hin. Interessant, ausbaufähig.   \ wh

Indische Sinnsuche

„Freud lesen in Goa. Spiritualität in einer aufgeklärten Welt“. München: C.H. Beck Verlag 2008, 187 Seiten, 19,90  Euro
Wanderer in den Hochtälern von Bhutan bringen die auf Hausmauern gemalte Riesenphalli gern mit einem bäuerlichen Fruchtbarkeitskult, seltener mit dem im Himalajastaat praktizierten „Nationalem Brutto Glückskoeffizienten“ in Zusammenhang. Tatsächlich beziehen sich die Darstellungen aber, wie der indische Psychoanalytiker Sudhar Kakar in seinem neuen Buch ausführt, auf den in der gesamten Region verehrten Drukbar Kunley. Der buddhistische Kulturheld und Heilige zwischen dem 16. und 17.Jahrhundert instrumentiert seine Sexualität nicht nur als eine Art zenbuddhistische Läuterung, sondern greift damit auch auf subversive Tendenzen des hinduistischen Tantrismus zurück. Mit seinem „Donnerkeil eines jungen Tigers“ bändigt er nicht nur Dämonen sondern bringt auch Jungfrauen spirituelle Erlösung. Der in Goa lebende Sudhir Kakar analysiert in seinem neuen, bei  C.H. Beck erschienenem Buch „Freud lesen in Goa“, die Entwicklung spiritueller Persönlichkeiten wie Bhagwan bzw. Osho, Sai Baba und sogar Gandhi. Der Psychoanalytiker Kakar – indisches Erbe – will dabei nicht eindeutig zwischen Heiligen- und Krankengeschichte entscheiden.
Pflichtlektüre für Sinnsucher mit weiterem Horizont. Robusteren Lesern sei das Buch „Die Inder. Porträt einer Gesellschaft“, empfohlen, das der Autor gemeinsam mit seiner Frau Katharina Kakar verfasst und 2006 ebenfalls im C.H. Beck Verlag veröffentlicht hat. Vermutlich das brauchbarste Buch zur indischen Mentalität.   \ wh

Steirische Radlergeschichten

Wolfgang Wehap: Radlerleben. Ansichten steirischer RadfahrerInnen, vom Sattel aus notiert
Graz: Leykam Verlag 2009, 173 Seiten, 16,90 Euro
Wenn der leitende Redakteur der Grazer Dependance der Austria Presse Agentur Wolfgang Wehap ein Buch über die steirische Fahrradkultur plant, hierfür eine Schar an Menschen mit unterschiedlichen Zugängen zum Glück auf zwei Rädern befragt, ist das Resultat eine vielschichtige und teils erheiternde Anekdotensammlung zum Erlebnisreichtum des selbst verdienten Fahrtwinds. So beschreiben Martin Orthacker und Angela Pilz den Schaffensbereich einer/-er Fahrradboten/-in, skizziert Standard Redakteurin Collete M. Schmid das Psychogramm eines Fahrraddiebes im Sinne des Profilers Thomas Müller währenddessen Kabarettist Jörg-Martin Willnauer Lyrisches beisteuert („Spuren von Salz auf der Stirn. Trockene Lippen. Jeden Windhaus und beide Lungenflügel wahrgenommen.“) und Kleine-Zeitung Redakteur Ernst Sittinger das Hochleistungsfahrrad auf seine Alltagstauglichkeit abklopft. Verkehrslandesrätin Kristina Edlinger-Ploder reflektiert ferner das „Dilemma mit dem Chic am Bike“.
\ gis

 

Manuskripte 183. Nachrufe, Reiseliteratur, Tierisches.

Manuskripte. Zeitschrift für Literatur 183/2009. 148 Seiten, 10,-.

Ein gutes Fünftel der aktuellen „manuskripte“ ist dem zu Jahresbeginn verstorbenen Gert Jonke gewidmet: Elfriede Jelinek, Gustav Ernst, Bodo Hell, Günther Freitag, Klaus Amann und Jochen Jung schildern Begegnungen mit dem Universalpoeten, dem die Sprache ein eigenes Universum war und der die romantische Ironie in die Gegenwart gerettet hat. Oder war er doch eher ein Barockmensch, wie Arnold Stadler insinuiert, der ihn mit Abraham a Sancta Clara vergleicht?
Es folgt Reiseliteratur: Kathrin Röggla schreibt ihr Tokioter Tagebuch rückwärts und geht dabei in die Exotismus-Falle (notiert wird das, was so ganz anders ist als in unsren Breiten). Willi Hengstler kontrastiert in Dytiko, dem kretischen Paradies für übriggebliebene Hippies, Filme der Brüder Dardenne mit der 60er-jahre-Musik Musik dieser „Zeitreisenden“, die er mit dem Blick des Regisseurs seziert; ein Text von extrem nüchterner und gerade deswegen besonders ansprechender Poesie. Barbara Frischmuth widerspricht mit „Sechs Tiergeschichten“ dem Vorurteil, ihre Texte dufteten zunehmend nach Astern und Lavendel; die „Tiergeschichten“ entpuppen sich als Fabeln voller Saft und Kraft, die das Tierische im Menschlichen mit sprühendem Wortwitz auf die Schaufel nehmen – unter besonderer Beachtung aktueller Krisenerscheinungen.
Mathias Grilj beweist aufs Neue, dass er einer der Sprachmächtigsten in unseren Breiten ist: Seine Miniaturen, die er, obwohl Prosatexte, nicht zu Unrecht „Gedichte“ nennt, sind irgendwo an der Schnittstelle zwischen einem empfindsamen Ich und einer Außenwelt angesiedelt, deren Existenz sich dieses Ich immer wieder erst aufs Neue versichern muss.
Schließlich: Lyrik von Hansjörg Zauner, Walter Thümler, Tom Schulz, Arild Vange, der nahezu gleichzeitig mit Gert Jonke verstorbenen Inger Christensen und von Andreas Unterweger (besonders berührend sein ,Kaddisch‘); drei interessante Feuilletons über das Übersetzen (Hans Grössel, Florian Voß, B. S. Orthau) eine Abhandlung über Reinhard Priessnitz (Franz Kaltenbeck).und eine (sich wenig über ihren Gegenstand erhebende) über das „Lolita-Syndrom“ (Roberto Calasso) ergänzen eine manuskripte-Ausgabe, deren Lektüre dem Schreiber dieser Zeilen großes Vergnügen bereitet hat. Unbedingt lesen: Den abschließenden Aufsatz von Felix Philipp Ingold über „Handwerk und Dichtwerk“, in dem er Richard Sennetts Diagnose vom Untergang des „Craftsman“ auf den Schriftstellerberuf anwendet: Denn auch in diesem Metier sind „Handwerkliche Präzision und Unverwechselbarkeit … zu einer raren Qualität geworden.“    \ cs

 

Sach- und Fachbücher

Kapitalismus, Verwertung, Expansion

Peter Jirak: NEKROPHILER KAPITALISMUS Vertreibung oder Triumph der Bestie. Wien: Promedia Verlag, 2009. 192 Seiten, 17,90 Euro

Der Kapitalismus ist am Ende. So hört man es plötzlich allerorts als Reflex auf die im September 2008 sichtbar gewordene Finanz- und Wirtschaftskrise. Peter Jirak denunziert in seinem neuen Buch die Identität des auf Verwertung und Expansion basierenden Gesellschaftssystems, das seit mindestens dem 16. Jahrhundert die Welt umklammert hält, als nekrophil. Die bürgerliche Ordnung ist ihm seit je todessehnsüchtig und todbringend. In der technischen Methode der im Paris der bürgerlichen Revolution aufgestellten Guillotine, auf möglichst rasche Art möglichst viele Menschen umzubringen, ortet er den Kulminationspunkt einer Mechanik, die auch das Vorbild für die kapitalistische Produktionsweise mit ihren tayloristischen Teilungen abgibt. Der Autor widmet sich dem Thema philosophisch, ist einer der wenigen, der weiß, wie sich die Aussagen der griechischen Mythologie mit dem im Materiellen fußenden Marxismus verbinden lassen und setzt sich mit Zweiflern an der Legalität des kapitalistischen Systems wie Jürgen Habermas auseinander.    \ pm

KORSO verlost in Kooperation mit dem Promedia Verlag 5 Exemplare des Buches „Nekrophiler Kapitalismus“ beim Kulturquiz unter www.korso.at

 

Steirisches Jahrbuch für Politik 2008

HerausgeberInnen: Beatrix Karl, Wolfgang Mantl, Hildegunde Piza, Klaus Poier, Manfred Prisching, Bernd Schilcher; Gesamtredaktion: Klaus Poier
Verlag: schnider’s offene gesellschaft, graz 2009. 272 S., Euro 25,--

Zum neunten Mal erscheint das Analyse- und Nachschlagwerk der steirisch Politik und Zeitgeschichte, das auch die österreichischen, europäischen und internationalen Entwicklungen skizziert. Einleitend blickt der Beitrag des bekannten österreichischen Wirtschaftsforschers Karl Aiginger, Leiter des WIFO „Finanzkrise: Anlass, Ursachen, Strategien, inklusive Blick nach vorne“ im Kapitel „Perspektiven der Zeit“ auf die aktuelle wirtschaftliche Situation und in die Zukunft. Nach den Kapiteln „Steiermark und Österreich live“, „Nationalratswahl und Regierungsbildung 2008“, „Grazer Gemeinderatswahl und Bildung der Stadtregierung 2008“ sowie „Finanz- und Wirtschaftskrise“ in denen etwa 50 AutorInnen, darunter Heinrich Kopetz, Wolfgang Pucher, Eva Glawischnig, Wolfgang Riedler, Franz Küberl, unterschiedliche Sichtweisen zu den jeweiligen Themen darlegen, tragen der von Klaus Hatzl und Thomas Strohmeyer erstellte Jahresrückblick, ein umfangreicher Bildteil und mehrere Register zum Informationswert dieses Werkes bei.  
\ dw

KORSO verlost in Kooperation mit dem Verein für Politik und Zeitgeschichte in der Steiermark 3 Exemplare des „Steirischen Jahrbuch für Politik 2008“  beim Kulturquiz unter www.korso.at

 

Der „vergessene“ Sohn des weiß-grünen Erz­herzogs

Charlotte Keil-Meran: Franz Meran. Der Sohn im Schatten von Erzherzog Johann, Graz: Stocker Verlag 2009, 120 Seiten, 24,90 Euro.

Das heurige Jahr steht ganz im Zeichen von Erzherzog Johann und dessen Leistungen für die Steiermark. Gleichzeitig ist es aber auch ein kleines Jubiläum für seinen 1839 geborenen einzigen Sohn aus der Ehe mit Anna Plochl, die später in den Adelsstand erhoben wurde. Das Andenken an Franz Graf von Meran, der von seinem Vater in jungen Jahren ein reiches Erbe an Verpflichtungen übernahm und früh starb, ist später in der Öffentlichkeit weitgehend in Vergessenheit geraten. Als Vater von sieben Kindern wurde er zum Stammvater der heute rund 1.000 Mitglieder umfassenden Familie Meran. Seine Nachfahrin Charlotte Keil-Meran hat sich jahrelang eingehend mit der Person ihres Urgroßvaters beschäftigt und nun in einem schön bebilderten Band die wichtigsten Stationen aus seinem Leben vorgelegt. Ergänzt wird die Darstellung durch zahlreiche Zeitdokumente, die verwandtschaftlichen Beziehungen im weitläufigen Familienstammbaum sowie nicht zuletzt durch Anekdoten der Verfasserin.    \ js

KORSO verlost in Kooperation mit dem Stocker Verlages 3 Exemplare des Buches „Franz Meran. Der Sohn im Schatten von Erzherzog Johann“ beim Kulturquiz unter www.korso.at

Respekt, nicht Toleranz

Robert Reithofer (Hg.) Korrektur der Bilder. Lokale Herausforderungen durch Migration im internationalen Kontext.“ ISOP zur regionale08 - Diwan. Verlag CLIO Graz 2009. LIO  Historische und gesellschaftspolitische Schriften, Band 7

Eine ältere Frau mit Kurdenkopftuch hält ein Feuerzeug in den Händen und will sich die Zigarette, die schon im Mund steckt, anzünden; der jüngere Mann im Sessel neben ihr – er könnte ihr Sohn sein - lächelt sie an, ohne sich die Mühe zu machen, ihr zu helfen. Emanzipation mit Kopftuch! Dieses Umschlagsfoto von Meta Krese ist die beste Werbung zum Buch, das die Projekte von ISOP (Innovative Sozialprojekte, Graz) im Rahmen der steirischen Ausstellung „regionale 2008 – Diwan“ dokumentiert. Vor allem die oststeirische Stadt Feldbach mit ihrer relativ großen Gemeinde von Zuwanderern aus der Türkei stand im Mittelpunkt von Veranstaltungen zu den Themen Migration und Integration. „Ohne Angst verschieden sein“ (Theodor W. Adorno) und nicht ein abstraktes Modell von Gleichheit postulieren, ferner nicht nur ein sicherheitspolitisches Problem in der faktischen Einwanderung sehen, das liegt dem Konzept dieses Buches zugrunde.
Nicht Toleranz, sondern Respekt wollen sie, die zu uns kommen. So stellt etwa die aus Tunesien stammende, in Graz lebende Autorin Sihem Bensedrine zurecht fest: „Die muslimische Identität an sich wird schon als Bedrohung gesehen.“ Warum? In ihrem Beitrag stellt sie den Zusammenhang von Kolonialismus und falschen, gefälschten Bildern vom Orient heraus, wie Edward Said dies schon kritisiert hat. Weitere Beiträge beschäftigen sich mit konkreten Anliegen in der Oststeiermark – Beratungsstelle für Integration und gegen Diskriminierung in Feldbach, Sprachkurse und anderes. Der aus dem Iran stammende Schriftsteller Navid Kermani lebt in Deutschland; er fragt, warum er sich auf eine einzige Identität festlegen sollte, wenn er sich doch den beiden Regionen zugehörig fühl, der europäischen und der iranischen. Da denkt man sich: Noch vieles ist im Einwandererland abzuarbeiten an nationalistischen Vorurteilen, und seien sie unbewusst.
Dieser Veröffentlichung gingen bereits Artikel im KORSO voraus (Gespräch Josef Schiffer mit Robert Reithofer und Christian Stenner mit Sihem Bensedrine, im Juni und Juli 2008). Der Weg muss demnach zu einem dialogischen Umgang mit Konflikten führen, statt dass Emotionen (Ängste, Arroganz) künstlich geschürt werden, wie es leider immer noch in unserem Land geschieht. Die Ausstellungen sind vorbei, diese wichtige Publikation bleibt. Sie ergänzt den bereits 2008 (bei Leykam, Graz) erschienenen Band „Ohne Angst verschieden sein“, den Maruša Krese, Robert Reithofer und Meta Krese editierten. \ hw

 

Fluchtgeschichten

Christian Ehetreiber, Bettina Ramp, Sarah Ulrych: „...und Adele Kurzweil und ... Fluchtgeschichten(n) 1938 bis 2008“.  Graz: Clio 2009.  200 Seiten, 16,-- Euro

Nachdem sich die Arge Jugend gegen Gewalt und Rassismus gemeinsam mit dem Grazer Zeithistoriker Heimo Halbrainer bereits einmal mit dem Schicksal der Adele Kurzweil beschäftigt hat (Christian Ehetreiber, Heimo Halbrainer, Bettina Ramp: Der Koffer der Adele Kurzweil. Auf den Spuren einer Grazer jüdischen Familie in der Emigration, Graz, Clio, 2001) , verstärkt man in der aktuellen Publikation „…und Adele Kurzweil und…“ den Gegenwartsbezug in Bezug auf Handlungsspielräume, die sich unter repressiven Zwangsbedingungen eröffnen respektive verschließen. Neben der Rekonstruktion der tödlich endenden Fluchtgeschichte der Adele Kurzweil von Graz über Paris in das Vernichtungslager Ausschwitz fokussiert der Beitrag von Heimo Halbrainer den systematischen NS-Terror, der die Handlungsspielräume konsequent einengte. Der Erziehungswissenschafter Peter Gstettner nähert sich mittels biografischer Relikte der Ermordung von Kindern und Jugendlichen in der NS-Zeit,  Franz Stangl porträtiert eine Fluchtgeschichte, die nicht im KZ mit dem Tod endete: Die in jeder Hinsicht atemberaubende Fluchtgeschichte von Paul Hirsch vor den Nazis führte ihn von Wien über Zagreb nach Nordafrika und in der Folge bis nach Amerika und nach Paderborn. Herbert Langthalers Beitrag zur Geschichte von Flucht und Migration seit den 1960er Jahren ist auch ein Sittenbild der Abschottungsstrategie der Festung Europa. \ gis

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