Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Das menschliche Antlitz und die Wertegemeinschaft
Mittwoch, 13. Mai 2009

Wimmlers Demontagen - von Karl Wimmler

Die Wortschöpfung vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ wird üblicherweise dem Politiker Alexander Dubček zugeschrieben. Im Jahr des „Prager Frühlings“ 1968 vertrat er als Parteivorsitzender der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei den damaligen demokratischen Aufbruch in diesem zum Block der Sowjetunion gehörigen Land. Heute weiß auch der allerletzte dahergelaufene Schlaumeier, dass dem Sozialismus/Kommunismus sowjetisch-stalinistischer Prägung nicht zu helfen war. Er ist ebenso von der Bildfläche verschwunden, wie seine Variante mit dem menschlichen Antlitz. Das damals allerdings die Antisozialisten im Westen als Punze kreierten. Von Dubček stammte das Wort nicht. War ihm doch Sozialismus und Menschlichkeit kein Gegensatz.

Man könnte vermuten, dass es um die Zukunft des übriggebliebenen erweiterten „Westblocks“ inzwischen ähnlich schlecht bestellt ist, wie 1968 um jene seines östlichen Pendants. Grassiert doch neuerdings das „menschliche Antlitz“ auch hier. Allerdings in Verbindung mit dem Wort „Globalisierung“. Keine Ahnung, wer damit anfing. Bei einem Treffen der Arbeitsminister der angeblich wichtigsten Industrieländer (G8) im Jahre 2003 war jedenfalls bereits davon die Rede. Bücher mit diesem Schlagwort im Titel gibt’s, unter manchen sogenannten kritischen Geistern ist es bisweilen in Verwendung, und die deutsche Kanzlerin Merkel beschwor im Mai 2007 ebenfalls „die Globalisierung mit menschlichem Antlitz“. Bei jenem G8-Gipfel in Heiligendamm in Norddeutschland, bei dem sich die Staatslenker hinter Stacheldraht kilometerweit von allem Normalmenschlichen abzusondern geruhten. Sehen wir von der Verwendung des Allerweltswortes von der Globalisierung einmal ab – das „menschliche Antlitz“, mit dem sie geschmückt wird, soll offenbar dem dumpfen Gefühl entgegenwirken, das sich heute bereits beachtlich stark ausgebreitet hat. Wonach das, was Konzerne, internationale Wirtschaftsorganisationen, EU-Führung und andere vorantreiben, dem Wohlergehen der Menschheit insgesamt, wie der Durchschnittsbürger auch der reicheren Länder nicht eben frommt. Könnte dieses Gefühl jenem vergleichbar sein, das im Ostteil Europas vierzig Jahre davor nicht nur in der Tschechoslowakei vorherrschend zu werden begann? Gerade noch zwanzig Jahre dauerte es, bis das von Stagnation und Fäulnis befallene Ostblocksystem implodierte. Wie lange wird es brauchen, bis die übriggebliebene Alternative so weit ist?
Frau Merkel jedenfalls hat schon entdeckt, dass mit dem Wort vom „menschlichen Antlitz“ kein Staat zu machen ist. Sicherlich haben ihr Einflüsterer bedeutet, dass dadurch der auf positiv getrimmte Klang des Wortes Globalisierung entwertet wird. Jedenfalls habe ich es von dieser Kanzlerin schon lange nicht mehr gehört. Tatsächlich klingt es bereits heute ziemlich abgeschmackt. Unangefochtener Spitzenreiter und jedenfalls durchschlagskräftiger im europäischen Sprechblasengetöse bleibt da jedenfalls die Wortschöpfung von der „westlichen Wertegemeinschaft“. Die oft auch im Gewand der „christlichen Wertegemeinschaft“ daherkommt. Nachdem das Wort vom „Abendland“ schon reichlich abgelutscht klingt. Auch wenn es die Strache-Partei im aktuellen Wahlkampf aufwärmt. Obwohl es zusammen mit seinem Pendant vom „Morgenland“ allzu klar ins Reich der Märchen verweist. Da bleibt mir nun nichts übrig, als in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass am 23. Mai Karlheinz Deschner seinen 85. Geburtstag feiert, der „bedeutendste Kirchenkritiker des Jahrhunderts“ (des vergangenen wie des gegenwärtigen), wie bedeutendere Geister als ich schon lange wissen. Und der hierzulande noch immer weithin unbeachtet ist. Seit Jahrzehnten ist Karlheinz Deschner akribisch der „christlichen Wertegemeinschaft“ und ihrer Geschichte auf der Spur, auch abseits seines Hauptwerks  „Kriminalgeschichte des Christentums“. Vor vier Jahren gab er beispielsweise der Zeitschrift „Kunst + Kultur“ der deutschen Gewerkschaft „ver.di“ zu diesem Thema ein Interview, das es verdient, hier zitiert zu werden.

„Unter all den Schlagwörtern des Christentums“, argumentiert er, „gehört die ‚christliche Wertegemeinschaft’ zu den kuriosesten Konstrukten. Sie wird denn auch von den Wertegemeinschaftlern selbst selten näher erkärt – schließlich sprechen die schöne ethische Ausstrahlung und das irgendwie vornehm Abstand Gebietende des Begriffs für sich. (…) Unmittelbar auf der Spur ist man unseren Wertegemeinschaftlern in der sogenannten Profan- und Heilsgeschichte.“ Und er fasst (von mir abgekürzt) zusammen, was er in den bisher neun Bänden seiner Kriminalgeschichte penibel nachweist, „angefangen von dem ersten christlichen Monsterverbrecher, dem heiligen Kaiser Konstantin, von den Völkermorden an den Goten, den Wandalen … über die jahrhundertelange ‚Ostkolonisation’, die Vernichtung der Templer, die Kreuzzüge, die Scheiterhaufen der Inquisition … die ewigen Judenjagden bis zu dem in enger Kooperation mit allen heiligen Kirchen geführten Ersten und Zweiten Weltkrieg …, um nur an einige ‚Highlights’ der Historie zu erinnern.“ Und Deschner spricht nicht nur vom Christentum: „Aggressive Staaten brauchen Gegner, suchen Gegner, schaffen sie. Ein Prinzip nicht nur der ‚christlichen Wertegemeinschaft’, wenn auch ihr vielleicht besonders gemäß. Gegenspieler, Erbfeinde, Glaubensfeinde, Gottesfeinde, kurz ‚Böse’ sind unerlässlich in einer ewig brutal konkurrierenden Gesellschaft, unerlässlich, um Krieg machen, um Ressourcen gewinnen zu können, begehrte Territorien, strategisch wichtige Basen, Höchstprofite der Rüstungsindustrie. Die Religion, Christentum, Islam, das ist, wer wüsste es nicht, zumal auf christlicher Seite, allenfalls zweitrangig, ein Vorwand. ‚Mit Gott’ kämpft es sich an allen Fronten immer etwas leichter, mit besserem Gewissen.“

Die „Züricher „Weltwoche“ nannte Deschner einmal „den wohl kompromisslosesten Autor und Denker im deutschsprachigen Raum“. Vor knapp zwei Jahren hielt er in der Aula der Goethe-Universität in Frankfurt/M. die Festrede anlässlich der Verleihung des nach ihm selbst benannten Preises der Giordano-Bruno-Stiftung an Richard Dawkins (britischer Biologe und Autor von „Der Gotteswahn“). Darin ergänzte er seine oben zitierten Gedanken so: „Wir meinen immer, meine Damen und Herren, die Ära des Kannibalismus sei längst vorüber. Tatsächlich frisst keine Epoche mehr Menschen als unsere. Tatsächlich sind heute die fatalsten Schlachtfelder nicht die tradierten, sondern jene, auf denen man Kriege im Frieden führt, die globalen ‚Vernetzungen’ der Industrie, was weniger geographische Fronten betrifft als den uralten Kampf zwischen oben und unten, ehe dieser dann doch wieder ins heiße Inferno übergeht.“ Und wieder zurück beim Gewerkschaftsinterview lese ich: „Jetzt rückt gerade ‚der Moslem’ ins Visier. Aber er ist austauschbar, bei passender Gelegenheit wird ihm ein anderer folgen, ‚der Russe’ etwa, ‚der Chinese’ oder was immer die weltpolitische Konstellation hergibt.“ – Die Wertegemeinschaft wird dann sicher wieder zur Stelle sein. Das menschliche Antlitz eher nicht.

Karl Wimmler ist Historiker und Kolumnist des KORSO.
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