Zwei Drittel der Bevölkerung Indiens lebt am Land, jedoch wird nur ein Fünftel des Sozialproduktes in der Landwirtschaft erwirtschaftet.
Mahatma Gandhis Liebkind – er wollte den jungen indischen Nationalstaat in mehr als 500.000 Dorfgemeinden dezentral organisiert und regiert wissen – war nach der Unabhängigkeit den Fortschrittsvorstellungen von Jawarharlal Nehru zum Opfer gefallen. Modernisierung in Form von Industrialisierung war die wirtschaftspolitische Agenda – und ist es bis zum heutigen Tag geblieben. Dürrekatastrophen der Jahre 1965 und 1966 zeigten aber, dass eine Industrialisierung ohne stabile und expandierende Landwirtschaft nicht möglich ist. Statt Dorfentwicklung, Landreform und Ausweitung der Anbauflächen wurde nun der Einsatz neuer Agrartechnologien in besonders erfolgsversprechenden Regionen wie dem Punjab von staatlicher Seite gefördert, um eine Intensivierung der Flächenerträge zu erreichen. Norman Borlaugh bekam 1970 als „Vater der Grünen Revolution“ dafür den Friedensnobelpreis verliehen, seine Initiativen wurden in Indien von M.S. Swaminathan weiterentwickelt. Als Vorsitzender der „National Commission on Agriculture, Food and Nutrition Security of India“ hält Swaminathan noch heute die Fäden der indischen Agrarpolitik fest in seinen Händen. Die Industrialisierung der Landwirtschaft – und ihre Folgen. Die Mehrerträge in den auserkorenen Gebieten bedingten neben dem Einsatz von Düngemitteln, Pestiziden und hybridem Saatgut auch einen enormen Anstieg des Wasserbedarfs, somit stellten sich binnen weniger Jahre Probleme wie u.a. Grundwasserabsenkung und die Versalzung der Böden ein. Vandana Shiva, promovierte Physikerin, war eine der ersten, die diese „strukturelle Gewalt“ der Grünen Revolution aufzeigten. Zudem machte sie auf den Zusammenhang einer Industrialisierung der Landwirtschaft und der schrumpfenden Artenvielfalt aufmerksam. Die Zahl der angebauten Reissorten in Indien war von etwa 50.000 in den 60er Jahren auf etwa 50 Ende der 90er Jahre gesunken. Der „Vater der indischen Grünen Revolution“, wie Swaminathan allgemein genannt wird, wird mittlerweile von der dritten bzw. vierten Generation der Nehru-Gandhi-Dynastie protegiert. Sonia Gandhi und ihr Sohn Rahul Gandhi sind die lebenden Mitglieder einer immer wieder vom Volk gewählten Familiendynastie. Sie wirken wie Reproduktionen der Konterfeis der früheren Premierminister Nehru, Indira und Rajiv Gandhi, die noch heute jeden Parteitag schmücken, und führen deren Fortschrittsvorstellungen weiter.
Aufgabe der Nahrungsmittelsouveränität. Weder die bestehende Koalitionsregierung der UPA (United Progressive Alliance) unter der Kongress-Partei noch „Shining India“, die 2004 ausgeträumte Perspektive der NDA (National Democratic Alliance) unter der hindu-nationalistischen Volkspartei BJP, haben es geschafft, die einfache, ländliche Bevölkerung, die das Gros der EinwohnerInnen Indiens darstellt, in das Boot von Wohlstand und wirtschaftlichem Wachstum zu holen. Mumbai, die finanzielle Metropole und Industriehauptstadt, führt zwar Wohlstandsindexe an, im umliegenden Bundesstaat Maharashtra verhungern aber jährlich Hunderte von Bauern nach Ernteausfällen, ausbleibendem Monsunregen oder Preisverfall ihrer exportbestimmten Produkte. Im Zuge einer fortschreitenden Globalisierung hat auch Indien seine Nahrungsmittelsouveränität für eine Integration in internationale Welthandelssysteme aufgegeben. Mittlerweile importiert es jährlich „Dal“ im Wert von 382 Mio US-Dollar, Hülsenfrüchte, welche die vegetarische indische Bevölkerung mit dem lebensnotwendigen Eiweiß versorgen.
The „Great Transformation“ auf Indisch. Als weitere Folge von Monetarisierung und Monokulturen in der Landwirtschaft ist in Indien in den letzten zehn Jahren ein neuartiges Phänomen zu beobachten: Bauernselbstmorde. Im Zuge von Missernten in der Baumwollproduktion und der damit verbundenen Verschuldung von Kleinbauern war es im südindischen Bundesstaat Andhra Pradesh zu einem signifikant vermehrten Auftreten von Selbstmorden unter der männlichen Landbevölkerung in den Jahren zuvor gekommen, Eine neue Studie des Ökonomen K. Nagaraj stellt vor allem den Bundesstaaten Maharashtra, Chhattisgarh, Andhra Pradesh und Karnataka ein schlechtes Zeugnis aus und zeigt eine klare Relation zwischen Bauernselbstmorden und der Produktion von exportbestimmten Agrargütern. Zur Verelendung der einfachen landwirtschaftlichen Bevölkerung, die sich meist aus Mitgliedern unterer Kasten bzw. kastenloser Dalits zusammensetzt, kommt die katastrophale soziale und wirtschaftliche Lage der Adivasis, der UreinwohnerInnen Indiens. Armut, Ausbeutung und Unterdrückung, aber auch die oftmals entschädigungslose Enteignung der von ihnen besiedelten Ländereien, generieren ein Heer an Entwurzelten. Offiziellen Angaben zufolge wurden allein zwischen 1950 und 1990 mehr als 8,5 Millionen Adivasis durch Staudämme, Bergwerke und Industrieanlagen sowie die Einrichtung von Nationalparks aus ihrer Heimat vertrieben.
Widerstand: Naxaliten, NGOs. Proteste entwickeln sich auf verschiedenen Ebenen. Politisch bekamen vor allem die Naxaliten dadurch regen Zuspruch. Ein Aufstand armer Landarbeiter gegen Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung im Dorf Naxalbari (Unionsstaat Westbengalen) im Jahre 1967 gab der linksextremen Bewegung ihren Namen. Landreformen, die Umverteilung der Besitztümer und die Einführung von Grundrechten für Adivasis und Dalits gegenüber der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung durch die hinduistische Gesellschaftsordnung sind wichtige Forderungen der im Untergrund agierenden maoistischen Bewegung. Einem Bericht des indischen Innenministeriums zufolge sind sie in neun von insgesamt 28 Unionsstaaten aktiv, in mehreren Distrikten üben sie Verwaltungsmacht aus. Eine basisdemokratische, unparteiliche Initiative als Antwort auf Verelendung und Entrechtung von Kleinbauern mündete im Bundesstaat Rajasthan in die Gründung der „Mazdoor Kisan Shakti Sangathan“ (MKSS), „Bewegung zur Stärkung der Landarbeiter“. Der Zugang zu Fördermaßnahmen und Krediten, zu Beschäftigungsprogrammen und monetären wie ideellen Ressourcen war oft durch informelle Netzwerke, bürokratische Hürden und schiere Nicht-Information den einfachen Menschen am Land verwehrt. Die MKKS-Mitbegründerin Aruna Roy, eine frühere Beamtin aus Delhi, hat sich mit wenigen MitstreiterInnen karg im Dorf Devdungri eingerichtet; das Büro dient auch als Versammlungs- und Treffpunkt für die ständig steigenden Mitglieder. Sie gehen in die Dörfer und informieren die Landbevölkerung Rajasthans mit Methoden wie Marionettentheater oder Musik über ihre Rechte.
Mit traditionellen und ökologischen Methoden zur Ernährungssicherheit. Vandana Shiva gründete ein privat finanziertes Forschungsinstitut, die „Research Foundation for Science, Technology and Ecology“ (RFSTE), welche die internationale Aufmerksamkeit auf die Gefahren der Grünen Revolution, die Biopiraterie und den Verlust der Biodiversität sowie der Gemeingüter in Indien lenkte. Die ebenfalls von Shiva gegründete Bewegung Navdanya (Hindi für „neun Samen“) betreibt organisch-biologische Lebensmittelläden in Delhi, zudem eine Ausbildungsstätte und die ökologische Samenbank „Bija Vidyapeeth“. Eine ökologische Schaulandwirtschaft in Dehra Dun steht KleinbäuerInnen offen, damit sie ökologischen Landbau erlernen und sich durch Tausch an der Samenbank beteiligen. Ich war mit Navdanya hoch oben in den Bergen von Gharwal, einen ganzen Tag Jeepfahrt von Dehra Dun entfernt, und habe dort an Versammlungen von Frauen teilgenommen, bei denen es darum ging, ihr Wissen zu erhalten und vor internationalem Zugriff in Form von Patentrechten zu schützen. Sie haben mir ihre Registrierbücher gezeigt, in denen sie Samen, Pflanzen und Rezepte vermerkten, und mich stolz auf ihre Terrassenfelder geführt, wo wieder der traditionelle Zwölffrüchtefeldbau aus lokalen Samen betrieben wird. Navdanya sichert die Verarbeitung und Vermarktung zu fairen Preisen, vielen Familien ist damit der Weg in die Migration oder der Verkauf des Landes ob der hohen finanziellen Aufwendungen für konventionellen Landbau erspart geblieben. Lokale KoordinatorInnen helfen bei der Umstellung auf ökologische Landwirtschaft und begleiten diese Prozesse. Regelmäßige Versammlungen verbessern den Austausch, fördern gegenseitige Weiterbildung und regeln gemeinschaftliche Aktivitäten wie beispielsweise die artgerechte Lagerung. Mittlerweile sind ganze Täler und Gebirgszüge im Gharwal Mitglied von Navdanya.
Mindestbeschäftigung. Eine staatliche Maßnahme, Abwanderung und Verelendung in den ländlichen Gebieten Indiens zu drosseln, stellt eine kürzlich verabschiedete Gesetzesnovelle dar: der National Rural Employment Guarantee Act (NREGA). Diese gesetzlich garantierte Mindestbeschäftigung für 100 Tage im Jahr für eine Person pro Haushalt zum bundesstaatlichen Mindestlohn impliziert das Recht auf Arbeit und die Einbindung in den monetären Kreislauf für einen größeren Kreis der indischen Landbevölkerung. In der Umsetzung gilt es noch viele Widrigkeiten zu beseitigen, etwa lokale strukturelle Hierarchien zu brechen und Korruption auszuschalten. Aber gerade Initiativen wie die MKSS in Zusammenarbeit mit engagierten ForscherInnen wie Jean Drèze und seinen Studierenden beteiligen sich intensiv an der Kontrolle der Implementierung und der Verbesserung des Gesetzes, indem sie mit partizipatorischen Methoden, sogenannten „Social Audits“ (Sozialverträglichkeitsprüfungen), die DorfbewohnerInnen einerseits von ihrem Recht informieren und andererseits Zustandserhebungen durchführen. Das hier abgedruckte Foto habe ich am ersten solchen „Social Audit“ in Dungarpur, im Süden Rajasthans, im April 2006 aufgenommen. Vor mir saßen zwei Mitglieder der MKSS, zwei ältere Männer in ihrem traditionellen dhotis (Hosen gebunden aus einem Stück Stoff) und kurtas (langes, gerades Hemd). Sie waren zwei Wochen lang von einem Wüstendorf zum anderen gezogen; jetzt streiften sie ihre Schuhe von den müden Füßen, legten ihren farbenprächtigen Turban ab, der sie vor der Sonne schützte, und lauschten den Berichten der anderen Hunderten MitstreiterInnen für ein Recht auf bezahlte Arbeit im ländlichen Indien.
Mag.a Dr.in Margit Franz ist freie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Zeitgeschichte der KFU Graz . Margit Franz lebte von 2002 bis 2007 in Indien und arbeitete am Alternative Development Center in Jaipur, Rajasthan.
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