Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Lears Welttheater – tragisch oder absurd
Mittwoch, 11. März 2009

Fußfrei – Theatertrips und -tipps - von Willi Hengstler

Wenn es wahr ist, dass überregionale mediale Präsenz für eine Stadt bare Münze bedeutet, dann gebührt Intendantin Anna Badora vermutlich das Goldene Ehrenzeichen von Graz – hat sie doch den Regiestar Peter Konwitschny, der auch durch seine Grazer Operninszenierungen international bekannt geworden ist, dazu gebracht, Shakespeares „König Lear“ am Schauspielhaus zu inszenieren. Interesse fand das Inszenierungsvorhaben des Opernmeisters nicht zuletzt wegen seiner Jahrzehnte währenden, nun gebrochenen Abstinenz vom Sprechtheater. Zur Lear-Premiere am
24. 2. wurde Graz also, wie schon lange nicht mehr, von der Kritikerprominenz des Deutschen Feuilletons heimgesucht, das überregionale Medienecho war gewaltig.

Die Geschichte um König Lear, der ohne vernünftigen Grund sein Königreich an die schmeichlerischen Töchter Goneril und Regan verschenkt, und die Lieblingstochter Cordelia verstößt, die ihm eben nicht nach dem Mund redet, ist düster und absurd. In Graz spielt das der genial „fehlbesetzte“ Udo Samel: Ein kleiner, dicker Mann, mal im Hermelin, mal mit Papierkrone, der im Vollbesitz seiner Macht diese verhöhnt, indem er sie wegschenkt und dabei glaubt, sie weiter besitzen zu können. Dieser König, der als sein eigener Herold Beschlüsse mit misstönenden Trompetenstößen bekräftigt und sein Alter Ego als Puppe vom Balkon stürzen lässt, tanzt zwar im Watschelschritt über alle Zwänge, aber die Leutseligkeit des Unberechenbaren schlägt schnell in Gnadenlosigkeit um, sobald ein anderer als er selber die Macht hinterfragt.
Das auf den Machtverzicht folgende Vakuum setzt ein Mahlwerk in Bewegung, in dem die Shakespearschen Protagonisten – womöglich wegen seiner totalen Sinnlosigkeit – noch ein bisschen abstoßender zermalmt werden, als sonst. Die zwei Erbtöchter verweigern dem Vater die ausbedungene Gefolgschaft, treiben ihn in den Wahnsinn und jagen ihn hinaus in die Heide. Und Lears Spiegelbild, dem getreuen Glocester, der seinen guten Sohn Edgar verstoßen hat, reißen Regan und ihr Mann die Augen heraus, nachdem er von seinem bösen Bastardsohn Edmund verraten worden ist. Selbst die Versöhnung Cordelias mit dem geheilten Lear, oder dass sich der gute Sohn Edgar und der geblendete Gloster wieder finden, bringt wenig Erleichterung. Unklar ist, was mit dem „Lear“ eigentlich gemeint ist, grade weil er so viel umfasst: Den Versuch eines Mannes, der in der Kumpanei mit Jüngeren (seinen 100 Rittern) dem eigenen Alter zu entfliehen sucht, die zwischen Eltern und Kindern unvermeidliche Grausamkeit, eine Erzählung über die Lust am Morden, ein von Altersdüsternis (blut-)durchtränktes Memento Mori.

Und wie war Konwitschnys Inszenierung? Jedenfalls Shakespeares Drama angemessen, gewaltig. Es gibt Minimalisten und Generalisten. Konwitschny scheint letzteres zu sein, indem er über die zahlreichen Narren und Schurken „Lears“ ein unübersehbares Bühnen
(-konzept) gleichsam als weitere Hauptperson setzt. Dem polnischen Shakespearespezialisten Jan Kott folgend, dreht er die Tragödie zur Groteske und zum absurden, Beckett vorwegnehmenden Endspiel um. Gleichzeitig präsentiert Konwitschny diesen Ansatz in historischen Theaterräumen und macht damit die Theater- zur Weltgeschichte. Dafür stellt ihm Jörg Koßdorff für die erste Halbzeit ein halbes „Globe Theater“ auf die Bühne, in dem ein Teil der Zuseher zum fabelhaften Bühnenbild wird; außerdem baut er einen weit ins Parkett hineinragenden Bühnensteg und öffnet zwei Logen für Fürsten und Narren.
Der zweite Teil nach der Pause bringt den Wechsel ins Regietheater. Eine kahle Bühne erzählt von der sprachlosen Rationalität der Moderne: Am eindringlichsten sind Dominik Maringer als Tom der Bettler bzw. Edward und Götz Argus als sein blinder Vater Gloster mit ihrer berühmten, tragisch-absurden Doppelconférence; Businessfrauen, die ihre Schlüpfer für ein taktisches Quickie unter dem Rock hervorziehen, ein lachhafter Friedhof, ein Balkandorf unter Tarnplanen plus eine nicht sonderlich imaginative Tonkulisse; Interferenzen zwischen Cordelia und dem langsam aus seinem Wahn erwachenden Lear und seinen Videobildern, die die Verwandlung von echten Gefühlen in Soap – oder umgekehrt? – zeigen.
Nach dem Hochziehen der Projektionswände fällt der Blick aus der Zeit hinaus auf die vom Publikum entblößte Bühne des Anfangs. Die Schauspieler, die es bis zu diesem metaphysischen Show-down ohne Gott geschafft haben, werden zum Publikum ihres eigenen Endes. Das Finish ist konsequent, aber die starken Kürzungen, die große Entfernung der Spieler zum Publikum und ein etwas vages Timing reduzieren den Impact. Das Grazer Ensemble schlägt sich wacker angesichts der großen Herausforderung. Unter den Töchtern überzeugt Jaschka Lämmert als Regan im Codeswitch zwischen blutverliebter Königstochter und emanzipierter Geliebten, Frederike von Stechow spielt die ordnungssüchtige Goneril mit schöner Direktheit und Sophie Hottinger ist als Cordula eine akzeptable Besetzung. Jan Thümers tückischer Kraftprotz Edmund zeigt die üblichen Späßchen und mehr Kondition als Profil.

Konwitschnys Konzept geht auf und bietet, indem es wie „die Welt“ selbst ziemlich viele Deutungen zulässt, einen eher wuchtigen, als atmosphärisch-dichten Abend. Wenn fast alles logisch wird, kippt das Detail leicht ins Zufällige. So kann zwar argumentiert werden, dass der beeindruckende Gerhard Balluch als Kent ins Salonsteirische verfällt, aber andererseits ist es auch ein matter Scherz. Das angespielte C-Dur Klavierkonzert KV 467 von Mozart zeigt einmal kurz, wie sehr Konwitschnys assoziativer und interpretativer Materialreichtum in den Opernarbeiten durch die Musik atmosphärisch gebunden wird.

Die bisher interessanteste Aufführung der Ära Badora. Unbedingt ansehen. Und ein zweites Mal hingehen. Noch am 12., und 24. März sowie am 2., 18., und am 30. April.
» Keine Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.
» Kommentar schreiben
Nur registrierte Benutzer können Kommentare schreiben.
Bitte melden Sie sich an oder registrieren Sie sich.
 
< zurück   weiter >