Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Urbane Moderne – zwischen Cyberabad und „Slumdog Millionaire“
Mittwoch, 11. März 2009

Moving India – Brüche & Kontinuitäten. Teil I

Die Grazer Indien-Expertin Margit Franz beschreibt in dieser und in den beiden nächsten Ausgaben des KORSO die Aktualität eines Landes zwischen jahrtausendealten Traditionen und der Realität des globalen Kapitalismus. Drei Bilder – drei Essays aus einem sich schnell verändernden Indien.

Als ich vor nunmehr elf Jahren das erste Mal in Indien landete, war ich erschüttert, in der Nacht durch ein Meer von Häuserbaracken, Hütten vor offenen Kanälen, mit einfachen Planen zugedeckter Zeltsiedlungen, schlafender Menschen am Straßenrand und umherstreunender, bellender Hunderudel zu meinem einfachen Hotel im „Traveller-Viertel“ gefahren zu werden. Noch während dieses ersten Aufenthaltes lernte ich, nicht mehr in diesem Teil der Stadt eine Unterkunft zu suchen, wollte ich meine Interviews mit indischen Regierungsbeamten führen. Er war unter Indern als Umschlagplatz von Drogen und Prostitution verrufen, bei uns Reisenden beliebt, da es in der Millionenstadt Delhi alle Annehmlichkeiten an einem Ort bot, die eine westliche Reisende brauchte: saubere Zimmer, „sicheres“ Essen, Reisebüros, die Nähe zum Bahnhof, Klopapier und andere westliche Kulturgüter, wie sie beispielsweise die „German Bakeries“ bieten.

Delhi: Segregation. Früher ein wichtiger Markt für Gemüse und Obst hatten fortschreitende Kriminalisierung und Differenzierung das Viertel nördlich des Connaught Places, des früheren Geschäftszentrums unter den viktorianischen Viaduktbauten, zu einem Außenseiterdasein gezwungen, in das gegebenenfalls indisches Hauspersonal geschickt wurde, aber kein Bewohner von Süddelhi selbst einen Fuß setzen wollte. Delhi – Alt- wie Neudelhi – sind stark segregiert, es gibt viele Viertel, die an bestimmte Einkommensstufen, Religionszugehörigkeiten oder Volksgruppen (wie beispielsweise die der zugewanderten Bengalen) gebunden sind.
Wir haben dann drei Jahre in Nizzamuddin East gewohnt, eine sehr grüne Kolonie, die zudem eine gute Strom- und Wasserversorgung besaß, weil die Bürgermeisterin hier ihr Privathaus hatte. Das ehemalige Künstlerviertel wurde einerseits von Staatsbeamten bevölkert, die den Grund für ihre Villen vom Staat gratis zur Verfügung gestellt bekamen und heute zu stetig steigenden Preisen mindestens eine Etage ihrer Häuser an AusländerInnen – Botschaftsangehörige, MitarbeiterInnen internationaler Firmen und Nachrichtenagenturen – vermieten, andererseits von den BewohnerInnen mehrerer unbefestigter Elendsviertel, die sich rund um den Bahnhof Nizamuddin bildeten. Die befestigten Häuser verfügen oft über Wachpersonal, zumindest aber meist über Einfriedungen und schwere Eisentore, zudem ist das ganze „Häuserviertel“ von einer Art Schutzmauer zur Straße hin, die zum Bahnhof führt, umgeben; nach 23 Uhr gibt es nur eine Möglichkeit, in das gesicherte Viertel zu gelangen: Gate Nr. 2 (von 9) mit zwei Wachposten, die nach Adresse und Name der Familie fragen, bevor sie Einlass gewähren.

Mumbai: Arm lebt neben Reich. Während die  Regierungszentrale New Delhi durch Segregation in diverse Viertel – oft durch einfache Hütten- und Zeltsiedlungen voneinander getrennt – gekennzeichnet ist, so widerspricht Mumbai vollkommen diesem Bild. Der enge Raum der Finanz- und Wirtschaftszentrale auf dem schmalen Landstreifen der Halbinsel bietet ein diffuses Bild von Arm und Reich, die nebeneinander existieren.
Einige Straßenzüge in Mumbai prahlen mit Boutiquen mit Luxus- und Konsumgütern, seine 5-Sterne-Hotels sind Treffpunkt und luxuriöse Burgen zur Abschottung der wirtschaftlichen Elite des Landes und des gesamten Kontinents zugleich. Die Ambanis, Tatas und Birlas – einige der Wirtschaftsbarone Indiens – dirigieren von hier aus ihre globale Präsenz in verschiedenen Industriebereichen. Aber zugleich ist die Armut allgegenwärtig. Schon der Anflug auf Mumbai bietet ein seltsames Bild: ein Meer von Wellblechdächern, die eng aneinandergefügt fast wie ein kubistisches Gemälde wirken. Unter nur vier Quadratmetern Wellblech leben ganze Familien. Armut ist gegenwärtig auch in unmittelbarer Nähe von sehr Privilegierten. Meine gelegentliche Gastfamilie in Mumbai bewohnt eine wunderschöne alte Steinvilla am Bandra Band Stand. Der Urgroßvater der Familie, ein aufstrebender Parse, hat auch das Nachbarhaus im damals noch eigenständigen Dorf Bandra mit einer Fassade nach Art eines Pantheon-Tempels errichten lassen. „King Khan“ wie ihn einige nennen, der weltweit bekannte Schauspieler und Tänzer Sharukh Khan, bewohnt mit seiner Familie seit ein paar Jahren dieses Anwesen.

Das tägliche Bad an der Strandpromenade. Überquert man die Strasse vor den beiden Häusern, erreicht man rechts eine Strandpromenade – ein betonierter Spazierweg, der viele Leute aus Central Mumbai anlockt. Die Bewohner Bandras sind sehr stolz auf ihre mit jungen Bäumen gesäumte Promenade und bitten auf diversen Hinweisschildern um Reinhaltung der gemeinschaftlich finanzierten Erholungsmeile. Ältere Frauen in weißen Markenturnschuhen und bunten Salwar Kameez, der bequemen traditionellen Kleidung, bestehend aus einem längeren Hemdkleid (= Kameez) und einer Hose (=Salwar), Männer ab 40 mit der selben Markenschuhware, aber oft mit Jogginghose oder zunehmend dem internationalen Nivellierungstrend durch die USA folgend mit Shorts und T-Shirts, begehen hier das national indische Fitnessprogramm, einen Morgen- oder Abendspaziergang. Sie genießen das Meer, die Sonne und die Bewegung. Kleine Becken und Wannen, die vom Ozean ausgewaschen wurden und in denen sich brackiges Meerwasser sammelt, dienen den BewohnerInnen des benachbarten Elendsviertels (biegt man links vom Band Stand ab) als Toi-letten, Badezimmer und Waschküche. Ganze Familien putzen sich im Licht der untergehenden Sonne die Zähne mit dem brackigen Wasser oder nehmen nach Geschlechtern geteilt in den von den Schwerindustrien verunreinigten und übel riechenden Fluten ihr tägliches Bad, während auf der Promenade die obere Mittelklasse ihren Abendspaziergang absolviert.

Die Vorwegnahme unserer Zukunft? Grenzziehungen werden verstärkt von der Ökonomie vorgegeben, wobei die beiden Welten sich physisch zu begegnen scheinen, aber in der Wahrnehmung der einzelnen Gruppen tun sie das nicht mehr. „Die Stadt der Armen ist wieder am Leben. Die Stadt der Reichen auch: zur selben Zeit, ohne einander zu sehen, eine für die andere unsichtbar“,1 beschreibt die französische Schriftstellerin Danièle Sallenave ihre Erfahrungen in Mumbais Straßen, die sowohl von Obdachlosen bewohnt wie von Bankern und Beamten als Fußwege zur Arbeit in klimatisierte Bürogebäude benutzt werden. Sie verbindet damit auch eine Art globaler Prophezeiung: „Ist Indien nicht die perfekte Vorwegnahme dessen, was bald das eigentliche Angesicht der Erde sein wird? [...] Da liegt unsere Zukunft, in dieser tödlichen Nachbarschaft von extremer Technisierung und extremem Überleben der Vergangenheit, von extremem Reichtum und extremer Armut.“

Kampf um Raum. Dies dürfte einer der Gründe für die Terroranschläge vom 26. November 2008 gewesen sein. Die Wirtschaftsmetropole Mumbai gilt in Indien als Symbol eines westlichen Lebens. Obwohl zur selben Zeit und am selben Ort verstärkt Traditionen und Religionen ausgeübt und nicht selten politisch indoktriniert werden. Wie es beispielsweise in Mumbai die ultra-konservative hindu-nationale Gruppe Shiv Sena tut, die den Kampf um Raum mittels fremdenfeindlichen und religiös fanatischen Agierens gegen alle Nicht-MarathInnen (Mumbai ist die Hauptstadt des Bundesstaates Maharashtra) als ihr Anliegen ausgerufen hat.
Raum ist ein hohes Gut in Indien, nochmals kostbarer in Städten, die von der infrastrukturellen Ausstattung und Energieversorgung gegenüber den ruralen Gebieten zwar bevorzugt behandelt werden, aber grundsätzlich unter allgemeinem Platzmangel und der steten Zuwanderung von verarmter ländlicher Bevölkerung leiden. Derzeit ist der Film „Slumdog Millionär“ durch die Zuerkennung von mehreren Golden Globes und Oscars international im Gespräch, in Indien hält sich die Euphorie in Grenzen. Zumal das Hinschauen auf die Realität von verarmten Menschen in Indiens Städten nicht der Stoff ist, aus dem Bollywood-Filme gemacht sind, zudem übt man Kritik am Blick des Westens, der Indien als Armenhaus sieht. Einige prominente Vertreter des indischen Kinos haben sich gegen diese Kritik ausgesprochen, so ließ jüngst Shahrukh Khan, der ja selbst am Rande einer solchen Ansiedlung lebt, mit der Aussage „poverty in ,Slumdog Millionaire‘ is reality“ aufhorchen.

Sanierung by Planierraupe. Die meisten indischen Großstädte eint die unzureichende Basisinfrastruktur: Es mangelt an Verkehrswegen, Kanalisation, Wasser- und Stromversorgung. Ausnahmen bilden jüngst errichtete Technologieparks wie Cyberabad, das neu errichtete IT-Viertel in Hyderabad, oder private Firmenanlagen wie die von Infosys in Bangalore. Während Dörfer in Maharashtra oft nur acht Stunden täglich Strom haben, wird die „Maximum City“ Mumbai ob ihrer wirtschaftlichen Bedeutung großteils 24 Stunden mit Elektrizität und Wasser versorgt. Zudem kann ein Trend beobachtet werden, (inter)nationale Standards und Kriterien zu implementieren. Nach vielen Jahren urbanen Wildwuchses kam es 2007 in Delhi zu Versuchen, Radikallösungen zur Durchführung einer städtebaulichen Planung (nachdem die Flächen schon verbaut waren!) einzuführen, man ordnete an, 180.000 illegale Häuser und Geschäfte dem Boden gleich zu machen. New Delhi war als Vorbereitung auf die Commonwealth Games im Jahre 2010 mit einem Masterplan überzogen worden, der am Reißbrett festlegte, wo gewerbliche Aktivitäten stattfinden dürften bzw. wo es sich um reine Wohngebiete handeln sollte. Es gab unzählige Proteste, viele Interventionen auf der korrumpierten politischen Ebene und eine Eingabe beim Obersten Gerichtshof. Bevor diese gewerblichen Zusammenschlüsse aber einen wirksamen Protest entfalten konnten, waren die Hütten der armen Gemüsehändler am INA-Markt schon ein Opfer der Bagger geworden. Die Menschen, die darin lebten, sind weiter gezogen worden – Gewalt, direkte, strukturelle wie normative, ist ein wichtiges Regelsystem des urbanen Lebens.

Elektrifizierte Götter. So unterschiedlich all die verschiedenen Grossstädte Indiens sein mögen, was sie vereint, ist eine Art von Konsumkultur, die sich an den Reichen orientiert und auf den Mittelstand herunter gebrochen wird – beispielsweise in Form von Kleinwägen wie des Maruti oder des Tata Nano als indischen Volkswagen. Der Besuch von Shopping-Malls verbunden mit Kinos und Restaurants, ist eine bevorzugte Art, die Freizeit mit der Familie oder Freunden zu verbringen. Der familiäre Kontext bleibt als wichtigster sozialer Bezugspunkt, vor allem bei der zumeist arrangierten Verheiratung und in der Anbahnung von Geschäftsbindungen. Und die alten Hindu-Götter bekommen einen modernen Anstrich und werden an Feiertagen in Form von großen, elektrifizierten Paneels ausgestellt.


Mag.a Dr.in Margit Franz ist freie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Zeit-
geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz (Schwerpunkte entwicklungspolitische und zeithistorische Forschungen, Regionalschwerpunkt: indischer Subkontinent, Forschungsarbeiten u. a. zu öster-reichisch-indischen Beziehungen und zum österreichischen Exil in Indien). Seit Jänner 1998 jährliche wissenschaftliche Forschungsreisen nach Indien; 2002-2007: Hauptwohnsitz in Indien (New Delhi & Jaipur), Mitarbeit am Alternative Development Center Jaipur (Rajasthan): Aufbau einer Forschungseinheit zu Tourismus und Entwicklung.

1    Sallenave Danièle, Indien oder die Verwüstung der Welt. Wien 1996, S. 84ff.
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