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Weltsozialforum, Belém: „Aktuelle Krise ist eine Krise der Zivilisation“
Mittwoch, 11. März 2009
„Wir sind mit einer Krise des Kapitalismus konfrontiert, und nicht nur mit einer des Neoliberalismus“, konstatierte der Soziologe und politische Aktivist Walden Bello beim diesjährigen Weltsozialforum (WSF) in Belém. In den Problemen, Widersprüchen und sozialen Kämpfen in Amazonien spiegelt sich wider, was sich als roter Faden durch eine großen Teil des Programms zog: Die oft als Finanz- und Wirtschaftskrise abgehandelte Krise ist tatsächlich eine der Zivilisation, so Roberto Espinoza, engagiert in der indigenen Bewegung der Anden. Die ökonomische Krise geht Hand in Hand mit der Hungerkrise, die wiederum nicht losgelöst von der Energie- und Umweltkrise verstanden werden kann.
Seit dem Auftakt in Porto Alegre 2001 hat das WSF mehrmals am Gründungsort stattgefunden. Zwischendurch ist es auch durch die Kontinente gewandert: Bombay (Mumbai) 2004 und Nairobi 2007 haben dem WSF im weltweiten Prozess des Austauschs sozialer Bewegungen und der gemeinsamen Entwicklung gegenhegemonialer Strategien wichtige Impulse gegeben.

Rund 100.000 Menschen aus 150 Ländern sind Ende Jänner nach Belém gekommen, die an der Mündung des Amazonas in den Atlantik gelegene Hauptstadt des Bundesstaates Pará im Nordosten Brasiliens, aus Österreich rund zwanzig. Besondere Anstrengungen wurden im Vorfeld unternommen, damit die VertreterInnen indigener Bewegungen beim WSF adäquat repräsentiert sind. Ein Tag des WSF wurde entsprechend dem Thema „500 Jahre indigener Widerstand“ gewidmet. Eine andere Welt ist möglich, lautet das übergreifende Motto des Zusammentreffens der sozialen Bewegungen, das wieder zeitgleich und als Kontrapunkt zum Weltwirtschaftsforum in Davos stattfand, dem Treffen der neoliberalen Eliten, die dieses Mal ironischerweise zur Rettung des Kapitalismus durch den Staat aufriefen.

Bewegungen gegen kapitalistischen Raubbau. „Wir richten unsere Stimmen als einen Appell an die Welt, vor allem an die reichen Länder, endlich aufzuwachen“, sagt Edmundo Omoré, Mitglied der indigenen Bewegung im brasilianischen Teil Amazoniens. Die Folgen der Klimaerwärmung werden die Völker Amazoniens als Erste spüren, obwohl gerade sie nicht Verantwortung für die ökologische Katastrophe tragen. Riesige Flächen in Amazonien, der Lunge der Welt, werden jährlich abgeholzt. Die Gier nach Rohstoffen bildet dafür den Hintergrund. Der multinationale Konzern Vale etwa erwirtschaftet mit Aluminium rund ein Fünftel der brasilianischen Devisen. Die Bevölkerung Parás hat davon aber kaum etwas, der Bundesstaat ist nach wie vor einer der ärmsten in ganz Brasilien. Die blutige Entsprechung dessen, was kapitalistische Wertschöpfung bedeutet, wird an den Menschenrechtsverletzungen in Amazonien sichtbar. MenschenrechtsaktivistInnen, GewerkschafterInnen, in der Landerarbeiter- und Umweltbewegung Engagierte stehen auf Todeslisten. Die Auftragsmörder und deren Verantwortliche im Hintergrund werden gerichtlich kaum einmal belangt. Menschen, die für ihre Rechte als Indigene eintreten, werden oft als Terroristen stigmatisiert, berichtete auch eine Vertreterin von SAPI (South Asian Peoples’ Initiative), einer Plattform südasiatischer NGOs, die im Rahmen des WSF in Mumbai initiiert wurde. Das Recht auf Selbstbestimmung und Würde werde vom indischen Staat in Abstimmung mit den Programmen der Weltbank systematisch verletzt, ein „Entwicklungsterrorismus“ praktiziert. Sich weltweit zu verbünden und auszutauschen, sei angesichts vieler ähnlicher Probleme und gemeinsamer Interessen eine der wesentlichsten Herausforderungen.

Den Markt mit Marktmechanismen zähmen? In Amazonien befindet sich das weltweit größte, in seiner Existenz allerdings massiv bedrohte Waldgebiet. Das ist der Hintergrund für politische Initiativen, die durch den Schutz des Waldes einen Beitrag zum Klimaschutz anstreben, ohne dass deswegen die Interessen der Industrieländer betroffen sind. Als technisches Kürzel für das umstrittene Projekt steht REDD (Reduzierung der Emissionen aus Entwaldung und Walddegradierung). Die Idee hinter dem Projekt: Dem Waldbestand soll ein ökonomischer Wert zugeordnet werden, ein weiterer Kohlendioxidanstieg dadurch vermieden werden. NGOs kritisieren, dass dadurch die notwendige Neuorientierung der Klimapolitik des Nordens behindert wird. Elmar Altvater stellte in einem Workshop weitere kritische Fragen. Wer wird von REDD profitieren? Bezahlt sollen ja jene werden, die nicht entwalden. Das aber sind nicht die indigenen Völker. Zudem sind die Abholzungen und Entwaldungen großteils illegal. Sollen also durch internationale Abkommen zum Waldschutz illegale Machenschaften finanziert werden? Ganz grundsätzlich bezweifelt Altvater, dass mit marktorientierten Mechanismen, die hinter REDD stehen, die ökologische Krise zu lösen ist, sind doch eben diese die Ursache der jetzigen Krise.

Vom Widerstand zu Alternativen. Im August 2008 ist die Ära des Neoliberalismus zu Ende gegangen, konstatiert Elmar Altvater. Daraus folgt allerdings nicht notwendigerweise ein Postneoliberalismus jenseits des Kapitalismus, denkbar wären auch neue Formen der kapitalistischen Hegemonie, die dem Staat wieder eine stärkere Rolle zuweisen. Daraus ergeben sich jene Fragen, die beim Weltsozialforum diskutiert wurden. Wie können Wege vom Widerstand zu Alternativen organisiert, wie soziale und ökologische Umwälzungen solidarisch organisiert werden? Wie können Allianzen für ein emanzipatorisches gesellschaftsveränderndes Projekt gebildet werden, die unterschiedliche AkteurInnen nicht gegeneinander ausspielen? Unter dem Titel „Postneoliberalismus – Der Beginn einer Debatte“ präsentierten die PolitologInnen Nicola Sekler und Ulrich Brand einen spannenden Essayband, der diese Fragen im weltweiten Kontext bearbeitet.
Keineswegs neu: Auch in Belém wurden wieder kontroversielle Diskussionen zum Selbstverständnis des WSF geführt. Soll dieses weiter primär als Raum für den Austausch sozialer Bewegungen fungieren oder aber konkretere politische Programme vorlegen? Damit in Zusammenhang stehen auch die Debatten um unterschiedliche politische Strategien, die ReformerInnen stehen dabei im Widerspruch zu jenen Kräften, die für die Notwendigkeit einer revolutionären Umwälzung und eines radikalen Bruchs mit dem Kapitalismus eintreten. Eric Toussaint vom Komitee für die Abschaffung der Schulden der Dritten Welt (CADTM) kritisiert jene, die sich lediglich für einen „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“ stark machen. Von zentraler Bedeutung ist für Toussaint, dass nicht lediglich Alternativen diskutiert werden, sondern gleichzeitig die Mittel und Möglichkeiten, diese auch politisch umzusetzen.
Damit ist die Frage des Verhältnisses sozialer Bewegungen zu linken Regierungen, aber auch zum Staat angesprochen. Immerhin fünf lateinamerikanische Präsidenten, Luiz Inácio Lula da Silva (Brasilien), Hugo Chávez (Venezuela), Evo Morales (Bolivien), Rafael Correa (Ecuador) und Fernando Lugo (Paraguay) versammelten sich in Belém. Rafael Correa kritisierte die bestehende Wirtschaftsordnung als „perverses System, das auf Gier basiert“; Evo Morales verwies darauf, dass seine Präsidentschaft das Resultat von Kämpfen sozialer Bewegungen in Bolivien darstellt.
Bei aller Sympathie für progressive linke Regierungen wurde auch verständliche Kritik formuliert. Lula und seine Arbeiterpartei wurden dafür kritisiert, dass im Vorfeld des WSF zwar in die Sicherheit investiert wurde, allerdings die Unterbringung Indigener schlecht war. Und so sehr Chávez in den Bereichen Gesundheit, Grundbildung und Armutsbekämpfung vorbildhafte Leistungen erbracht hat, wird gleichzeitig auch von linker Seite sein autoritärer Führungsstil kritisiert und darauf verwiesen, dass die venezolanische Energiepolitik keine Alternative zum vorherrschenden fossilen Modell darstellt.

Bei aller Divergenz, was Sichtweisen und Strategien anlangt: Voraussetzung dafür, dass nach dem „Selbstmord des Neoliberalismus“ (Boaventura de Souza Santos), linke emanzipatorische Bewegungen und nicht rechte wie in Italien und aktuell in Österreich mit seiner speziellen Kärntner Ausprägung, die Hegemonie gewinnen, ist, „dass der Kapitalismus auch im Bewusstsein geknackt wird“, sagt Christa Wichterich, die pointiert die feministische Perspektive in Erinnerung ruft: Das eherne Gesetz kapitalistischer Vergesellschaftung auf der Grundlage von Profit und Wachstum muss durchbrochen werden, eine radikale Umverteilung und Umbewertung kapitalistischer Produktions-, aber auch der Reproduktionsarbeit ist unabdingbar für eine demokratische und solidarische Wirtschaft und Gesellschaft.

\ Robert Reithofer

Robert Reithofer (ISOP) hat am Weltsozialforum 2009 in Belém teilgenommen.
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