Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Der erste Tag des Jahres
Montag, 12. Januar 2009
Die Gestaltung des ersten Vormittag des Jahres ist für viele ÖsterreicherInnen wenig variantenreich: Vorausgesetzt der aus den Feierlichkeiten rund um die Jahreswende resultierende Brummschädel soll mit Hilfe des hauseigenen Fernsehgeräts aus dem Bewusstsein verdrängt werden, so ergeben sich aus dem Programm der hiesigen öffentlich rechtlichen Fernsehanstalt Jahr für Jahr zwei Optionen: Entweder das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker aus dem Goldenen Saal des Wiener Musikvereines auf ORF2, in diesem Jahr dirigiert von Daniel Barenboim, oder das ebenso traditionelle Neujahrspringen der waghalsigen Adler rund um Wolfgang Loitzl und Gregor Schlierenzauer aus Garmisch-Partenkirchen auf ORF1.

In gewisser Hinsicht haben die Skispringer auf ORF1 den Trompetern, Fagottisten und allen anderen MusikerInnen – seit 1997 dürfen bekanntlich auch Frauen „echte“ Wiener Philharmoniker werden – auf ORF2 einiges voraus: So sind sie ohne Zweifel tollkühner, um nicht zu sagen verrückter. Immerhin donnern die vom Fleisch gefallenen Springer auf zwei verhältnismäßig langen Skiern mit einem ziemlichen Karacho über die Schanzentische dieser Welt, um gen Tal zu fliegen und per Telemark zu landen. Besonders die Königsklasse des Skispringens, das Skifliegen, beschert den todesmutigen Weitenjägern ein Flugerlebnis, das sich gewaschen hat. Die größte Skisprungschanze der Welt, die Letalnica im slowenischen Planica, sorgt für derlei Erlebnisse: Auf dieser Schanze wurde auch der aktuelle Weltrekord von Bjørn Einar Romøren gesprungen – der Norweger segelte im Jahr 2005 auf 239 Meter, eine Distanz, die übrigens der Entfernung zwischen dem Grazer Hauptplatz und dem Eisernen Tor entspricht. Dabei soll jetzt aber nicht der Eindruck entstehen, als hätte Skifliegen etwas mit Gehen, Bim-Fahren oder gar Shoppen gemein. Vielmehr bewegt sich der Skiflieger abgehobener (mit einem Luftstand von mehr als sieben Metern) und vor allen Dingen rasanter (in der Luft mit bis zu 140 Stundenkilometern), was wiederum zur Folge hat, dass er diese Distanz in nicht einmal acht Sekunden hinter sich lässt.  

Abgesehen von der sportlichen Performance wirken Skispringer originär, lassen sich demnach nicht so einfach mit anderen WintersportlerInnen in eine Schublade stecken. Auch untereinander herrscht im Zirkus der Normal-, Groß- und Skiflugschanzenbespringer alles andere als aalglatter Uniformität: In Erinnerung ist der bis heute spitzbübisch anmutende, weil noch immer bartlose Andreas Goldberger, der mit steinerner Miene bewaffnete, kauzige Janne Ahonen oder der traurig dreinblickende, in seiner Ausdrucksweise für Ostösterreicher schier unverständliche und stets einen viel zu kleinen Helm tragende Martin Höllwarth; nicht zu vergessen auch die tschechische respektive tschechoslowakische Weitenjägerarmada vergangener Tage, die eine Zeit lang weniger aufgrund ihrer sportlichen Leistungen, denn mehr durch ihre Langhaarfrisuren von sich reden machte: So verzauberte Frantisek Jez seine Anhängerschaft durch sein braunes Haupthaar gleichfalls wie sein Landsmann Jaroslav Sakala, der seine zum VoKuHiLa getischlerte Mähne mitsamt der einen oder anderen gefärbten Mèche allewege unter seinem Helm hervorlugen ließ – schön war das.

Dieser Tage scheint auch ein weiteres Detail die Skispringerunion zu Outlaws zu machen. Wie die größte norwegische Tageszeitung Verdens Gang (VG) jüngst zu berichten wusste, sollen sich unter den Skispringern nämlich auffallend viele Raucher befinden. Ein allemal überraschender Umstand, zumal mittlerweile hinlänglich bekannt sein dürfte, dass sportliche Höchstleistungen mit regelmäßigem Nikotinkonsum soviel gemein haben wie Red Bull Salzburg mit Rapid Wien. Ende November verlautbarte Janne Ahonen jedenfalls, dass rund die Hälfte der Weltcup-Springer rauche, er selbst hatte 2008 nach 16 Jahren aufgehört. Und Ahonen ist bekanntlich nicht irgendwer. Der Finne, der im Frühjahr 2008 seine aktive Karriere beendet hatte, ist der erfolgreichste seiner Zunft, zumindest was seine Generation betrifft: Seit 1997 gewann er nicht weniger als zehn WM-, zwei Olympia- sowie sieben Skiflug-Medaillen. Geraucht hat er dabei immer.
Kaum verwunderlich auch, dass sich die beiden singenden Songwriter Christoph&Lollo für ihre musikalischen Darbietungen justament die springenden Springginkerln ausgesucht haben, immerhin bieten die massig Projektionsfläche. So entstanden seit Mitte der Neunziger Jahre – protegiert von Christoph Grisseman und Dirk Stermann und dereinst verbreitet via Salon Helga auf FM4 – gut zwei Dutzend Balladen, die ausschließlich von bekannten wie unbekannten Skispringern erzählen: Dem Japaner Kazuyoshi Funaki streute man Rosen („Kazuyoshi Funaki ist längst legendär, er ist schön wie Schimanski und stark wie ein Bär, er hat Haare am Kinn aber nicht am Popo und Gespräche mit ihm haben immer Niveau“), mit dem chronisch erfolglosen Briten Michael Edwards, besser bekannt als Eddie the Eagle und allezeit ausgestattet mit einer aschenbecherdicken Brille, hatten Christoph&Lollo Mitleid: „Eddie warum hast du dir das angetan, warum bist du nicht bei Post oder Bundesbahn.“

Sportlich gesehen dürfte das Skispringen die tatsächliche Leistung der SportlerInnen wie kaum eine andere Sportart auf den Punkt bringen. Erstens beschränkt sich die Technik des Geräts auf Anzug und Skier, das Können der Adler tritt somit stärker in den Vordergrund. Dem entgegen gewinnt in der Formel 1 nicht immer der beste Fahrer, sehr oft aber der Pilot mit dem besten Motor oder den langlebigsten Reifen; das ist bei Schlierenzauer und Co. nicht so. Zweitens gibt es im Skisprungsport de facto kein Doping; Dimitri Vassiliev ist der einzige Athlet, der je des Gebrauchs unerlaubter Substanzen überführt wurde. Und das wohl aus gutem Grund: Skispringer benötigen eine außerordentliche mentale Stärke, eine überproportionale Sprungkraft in den Beinen (wenn der Steirer Wolfgang Loitzl aus dem Stand hüpft, befinden sich seine Fußballen 75 (!) Zentimeter über dem Boden) bei gleichzeitiger Schmalbrüstigkeit (wenn sich der 1,80 große Wolfgang Loitzl auf die Waage stellt, zeigt diese 65 Kilogramm an) sowie ein außergewöhnliches Balancegefühl in der Luft: das alles lässt sich nur schwer herbeidopen.

Für die nächste Jahreswende gilt jedenfalls: Sollte sich der ORF 2010 die beiden Highlights am ersten Tag des neuen Jahres weiterhin leisten können, sei all jenen, die auch in Krisenzeiten zwei Fernsehgeräte zur Verfügung haben, folgendes empfohlen: Kombinieren Sie doch das Bild der Skispringer auf ORF1 mit dem Ton der Wiener Philharmoniker auf ORF2. So wird dem öffentlich rechtlichen Fernsehen ausgiebigst Tribut gezollt und das Kopfweh verfliegt, versprochen…

 

Gregor Immanuel Stuhlpfarrer, Mag. phil., studierte Geschichte, Theologie und Soziologie in Graz und Zagreb. Für den Balkan hat er ein Faible, für Manner-Schnitten eine Schwäche und dem Tatort im ORF schenkt er Sonntag für Sonntag seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Veröffentlichungen (Auswahl): Der Standard, Wiener Zeitung, Die Furche.

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