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Moskau 71 Jahre danach |
Montag, 12. Januar 2009 | |
Karl Schlögel: Terror und Traum. Moskau 1937. München: Hanser 2008, 811 Seiten, 30,80 Euro
Karl Schlögel, intimer Kenner der russischen Geschichte, schrieb jenes Buch, das er „schon immer machen wollte“: über das Jahr 1937 in Moskau und seine „Hexenprozesse“, dem u.a. fast alle noch lebenden Mitkämpfer von Lenin zum Opfer fielen. In 40 Stationen beleuchtet er das Leben in der Stadt, ihre Menschen, die sozialen und politischen Umbrüche – und in diesem Kontext eben die inszenierten Schauprozesse: beginnend mit Bulgakows Schlüsselroman „Der Meister und Margarita“ über die „Baustelle Moskau“, also die Wandlung der Hauptstadt in eine moderne Metropole, über zentrale kulturelle Ereignisse wie das Puschkin-Gedenkjahr und eine Schilderung des berüchtigten Februar-März-Plenums der Kommunistischen Partei – bis hin zur Liquidierung Bucharins, des einstigen „Lieblings der Partei“. Schlögel verarbeitet eine Fülle von aktuellen Forschungsergebnissen, reißt neue Perspektiven auf. Klarer wird, warum der wahnwitzige Terror greifen konnte – weil er sich auch vor der Folie des „Traums“ abspielte: der rasante – gewaltsam erzwungene – soziale Wandel durch die Industrialisierung und die mit ihm verknüpften Hoffnungen, die (Bildungs)chancen für breite Gesellschaftsschichten, das Bedürfnis nach „Ruhe“ nach der Orgie der Zwangkollektivierungen und die nur allzu berechtigte Angst vor dem Krieg mit Nazi-Deutschland. Erschütternd das Kapitel über den „Schießplatz Butowo – Topographie des Großen Terrors“ (S. 603 ff.) – einen Ort des Massenabschlachtens; oder die Schilderung des tragischen Endes Bucharins, der in seiner Naivität im Falle einer Freilassung durch Stalin in den USA die Rolle eines „Anti-Trotzkis“ spielen wollte (S. 676). Schlögel wählt eine spezifische Methode der Darstellung, die Schilderung gleichzeitig ablaufender Ereignisse. „Der Ausgangspunkt ist nicht eine weitere These über das Wesen oder die Dynamik des ,Stalinismus‘, sondern der Versuch, den Moment, die Konstellation, die schon die Zeitgenossen als ,Geschichtszeichen‘ empfunden haben, wie in einem Prisma zu erfassen und zu vergegenwärtigen“. (S. 22 f.) Mit dieser Sichtweise gelingen sicher interessante Einblicke und Erkenntnisse. Sie ist aber auch der methodische „Pferdefuß“ des Buches - um es in der mephistophelischen Sprache von „Meister und Margarita“ auszudrücken. An manchen Schlüsselstellen wäre sehr wohl ein Mehr an begrifflicher Durchdringung angebracht. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die spezifische Erscheinungsform der Machtausübung in der Sowjetunion – die Herrschaft einer Bürokratie, die sich den nachrevolutionären Staat unter den Nagel gerissen hat und über die entscheidenden Produktionsmittel verfügt – aber sie eben nicht besitzt! – wird nur kursorisch behandelt. Solche Defizite sollten jedoch nicht von einer gründlichen, eben kritischen Lektüre des fesselnden Buches abhalten. Im Gegenteil: zu einem Zeitpunkt, wo der Kapitalismus weltweit seine schwerste Krise seit 1945 durchlebt, durch das Versagen sozialdemokratischer und kommunistischer Parteien die (ideologische) Krise der Linken evident ist und sogar neostalinistische Tendenzen auftauchen ist es unverzichtbar, klar zu machen, dass es keinerlei Rückkehr zu stalinistischer Nostalgie geben darf. Ein revolutionärer, emanzipativer „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ hat den fundamentalen Bruch mit der Schreckensherrschaft Stalins und seiner mörderischen Kumpane zur Grundvoraussetzung. Hermann Dworczak
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