Es gibt immer Dinge, über die wir nicht reden wollen, selbst die Gesprächigsten unter uns. Es sind die Dinge, von denen man kopfschüttelnd in den Zeitungen liest, jede Schlagzeile ein Tritt in die Magengrube, jeder Tropfen Druckerschwärze eine Träne, die du noch nicht geweint hast, und im Fernsehen gibt es dann abends die Bilder dazu: schonungslos, weil so real, und hoffentlich haben wir genug Popcorn zuhause.
Und natürlich reden wir dann doch darüber. Weil es uns keine Ruhe läßt. Weil uns diese Dinge in den Schlaf hinein folgen, uns in unseren tiefsten Träumen heimsuchen, und wenn wir morgens inmitten zerwühlter naßgeschwitzter Bettwäsche aufwachen, sind sie noch immer da: putzmunter und bereit uns durch den Tag zu begleiten, in eine Welt hinein, die mit einemmal nicht mehr die unsere zu sein scheint. Weil wir nicht verstehen können, wie ein Mensch einem anderen Menschen sowas antun kann. Weil man plötzlich das Gefühl hat, es gäbe keine Mitmenschen mehr. Und genau deshalb reden wir dann auch darüber, die ganze Zeit: weil wir uns diese Dinge gegenseitig erklären wollen, weil wir sie verstehen möchten, auch wenn es da womöglich nichts zu verstehen gibt. Und natürlich weil man erst dann wirklich weiß, wie gut es einem selbst eigentlich geht: weil wir unser Glück im Leid der anderen suchen. Und natürlich gehst auch du davon aus, daß dir diese Dinge nie passieren werden: niemals wirst du grundlos bluten, nie grobe Vergewaltigerhände an dir spüren, kein kühles Metall, das dich öffnet, keine sanfte Chemie, die dich willenlos macht. In deinem Leben gibt es diese Momente der Angst nicht: wenn du plötzlich in ein Auto gezogen und mitgenommen wirst in das stinkende Kellerverlies, das fortan dein Zuhause sein wird; wenn du erkennen mußt, daß der Mensch den du mit nachhause genommen hast, plötzlich keine Zärtlichkeit mehr kennt, sich, sobald die Wohnungstür sich hinter euch geschlossen hat als wilder Metzger entpuppt, ein Hobbychirurg, der ohne Narkose operiert; wenn du herausfindest, daß dein liebender Mann eure Kinder zu sehr liebt und du dieses Geheimnis mit ihm teilen mußt, weil er euch sonst alle auf einen Ausflug mitnimmt, von dem keiner zurückkehren wird. Nein, all das hat mit dir nichts zu tun. Weil solche Dinge immer den anderen passieren. Und vor allem: weil du mit niemandem darüber reden könntest. Weil alle plötzlich gegen dich wären: eine Gemeinschaft derer, denen diese Dinge nicht passiert sind. Ja, und dann gehst du eines Tages zu deiner Frauenärztin, und plötzlich ist nichts mehr so wie es sein sollte.
Angefangen hat es mit einem leichten Kribbeln. Du bist morgens aufgewacht und hattest das Gefühl, du müßtest dich kratzen: in dir drin, ganz tief hinten, dort wo sonst nur dein Freund und deine Frauenärztin hinkommen. Aber da hast du dir noch keine großen Gedanken darüber gemacht, weil: es kann ja schon mal vorkommen, daß es einen irgendwo juckt. Trotzdem hast du dich dort unten an diesem Morgen gründlicher gewaschen als sonst, und vielleicht hattest du auch ein kleines ungutes Gefühl dabei, das irgendwo hockte und noch nicht recht wußte, ob es raus durfte oder nicht. Du bist dann zur Arbeit gegangen wie du immer zur Arbeit gehst, und auch dort hat dir dein Unterleib noch keine Sorgen bereitet. Weil du genug zu tun hattest, nicht mal einen Moment lang hast du daran gedacht. Fast ist es so gewesen, als wäre alles ganz normal. Nur: als du dann am Abend nachhause gekommen bist, da wurde dieses Kribbeln plötzlich intensiver – vielleicht aber hast du es auch nur intensiver wahrgenommen, weil du nun Zeit hattest, dich darauf zu konzentrieren: auf dieses feine Kitzeln. Als würden Ameisen da drin herumlaufen. Und natürlich hast du dem Herbert nichts davon erzählt. Angelogen hast du ihn sogar, als er mit dir schlafen wollte: Kopfweh, meintest du, den ganzen Tag schon, deswegen auch keine Lust, und er solle bitte nicht böse sein, morgen wieder, ja? Aber schon in der Früh hast du gewußt, daß das auch heute nichts werden würde. Denn war das Kribbeln am Vortag noch zu ignorieren gewesen, so hattest du nun das Gefühl, deine Genitalien stünden in Flammen. Als würdest du innerlich verbrennen: solche Schmerzen waren das. Nur mit Mühe konntest du dich beherrschen bis der Herbert endlich zur Arbeit gegangen ist. Dann bist du wieder ins Bett zurückgekrochen, hast dir zwei Schmerztabletten in den pochenden Leib hineingespült und die Decke über dich gezogen, und als sie dann aus der Firma angerufen haben, was denn los sei, hast du gesagt, du seist krank und würdest erst morgen wieder kommen.
Richtig hineingewankt bist du in die Praxis, konntest dich kaum mehr an die Taxifahrt erinnern, die du dir gegönnt hast, weil du befürchtetest, du würdest es nicht zu Fuß schaffen, die paar Blocks. Der Schmerz hockte dir wie eine hungrige Ratte in der Muschi und fraß sich satt an ihr. Wären da nicht die Schmerztabletten gewesen, du hättest geschrien wie am Spieß. Normalerweise würde die Frau Doktor so kurzfristig niemanden annehmen, meinte die Sprechstundenhilfe zuerst, überlegte es sich, nachdem sie dich ordentlich gemustert hatte und ihr vorzimmerlicher Unwille allmählich echter Besorgnis wich, dann aber doch anders und schob dich zwischen zwei Termine. Wie du es geschafft hast zu warten, bis du dran warst, ohne großartig aufzufallen – kein unkontrolliertes Kratzen am Bauch, kein wildes auf dem Sessel Hin-und-Hergerucke, kein Schmerzgewimmer –, weißt du im nachhinein selbst nicht mehr.
Du hast schon oft auf diesem Untersuchungsstuhl gesessen, die kühlen Instrumente gefühlt, die warmen Hände – und dennoch ist diesmal alles anders: der ganze Raum scheint dir feindselig gesinnt, hinter jedem Regal lauert eine unangenehme Wahrheit, die Luft ist plötzlich voller Schicksal. Auch diese Hände fühlen sich heute anders an, oder besser: du fühlst dich anders an unter diesen Händen: Wie eine offene Wunde, für die man sich schämt, weil sie eitert und stinkt. Und ist da nicht ein kurzes Zögern des Instruments, das sie in dich schiebt, langsam, vorsichtig? Hält sie nicht für einen Moment den Atem an, so als würde ihr der Anblick deines Geheimnisses, das du selbst noch nicht kennst, sehr viel Beherrschung kosten? Natürlich versuchst du dir auch jetzt noch einzureden, daß das nichts Schlimmes sein kann, daß sie zu dir aufblicken und sagen wird: das wird schon wieder, sie sind umsonst gekommen, Frau Gabler, falscher Alarm. Aber da ist immer noch dieses Brennen in dir, das sich in die Scheidenwand hineinfrißt, wer weiß wohin. Und da ist das vertraute Gesicht deiner Ärztin, das dir heute so fremd erscheint, als ihr euch wieder am Schreibtisch gegenübersitzt. Einen endlosen Moment lang seht ihr euch in die Augen und die Welt schrumpft auf einen Klumpen entsetzlicher Möglichkeiten zusammen, der zwischen euch auf der Tischplatte liegt, gleich neben dem Telefon, als gäbe es keinen besseren Platz dafür. Du hast das Gefühl, sie müsse deinen Herzschlag hören. Aber sie lächelt nur voller Zuversicht und beginnt dir Fragen zu stellen, die du alle mit zittriger Stimme beantwortest, bis ihr bei der Frage angelangt seid, ob du in letzter Zeit Verkehr mit verschiedenen Sexualpartnern gehabt hättest, worauf du antwortest, daß du seit gut einem Jahr liiert seist, und ja, du habest nur mit diesem Mann Geschlechtsverkehr, aber du würdest nicht verstehen wieso sie dich das alles frage, und woher dieser Schmerz denn nun komme, und könne man da wohl etwas dagegen unternehmen, gegen dieses Brennen? Darauf antwortet sie mit ihrer Stimme, die wie Balsam ist: ja, man könne etwas dagegen unternehmen, und zwar sofort – nur müssest du ihr vorher bitte noch eine Frage beantworten. Und dann will sie wissen, welchen Beruf der Herbert hat.
Das Schlimme an der Wahrheit ist, daß man sie im Nachhinein oft gar nicht mehr wissen möchte – weil sie meist ein entstelltes Gesicht hat, das länger anzusehen die Stärksten von uns nicht ertragen können. Sie kann unbequem sein wie ein zu enger Schuh: dann reibt sie sich mit der Wirklichkeit und fördert Schmerz zutage wo zuvor kein Schmerz gewesen ist. Und sie bringt ihre Schwestern mit – Entsetzen und Verzweiflung –, die nicht minder häßlich sind. Alle drei tauchten sie nun auf und waren nicht mehr bereit zu gehen, und egal wohin du auch geschaut hast: sie waren überall. Und nicht einmal als du die Augen geschlossen hast, weil dir die Tränen darin salzig brannten, war das eine Erleichterung: weil sie durch jede noch so kleine Ritze in dich eingedrungen waren, überall. Deine Ärztin hat natürlich versucht dich zu trösten, aber sie kam einfach nicht gegen die grausamen Schwestern an. Und wie auch: was helfen Worte, wenn der Alltag versagt, wenn plötzlich nichts mehr Sinn macht? Obwohl: gewisse Dinge ergaben plötzlich Sinn. Stück für Stück setzte sich da etwas zusammen, das so schrecklich war, daß dir übel wurde davon. Nun gab es die Antwort auf all die Fragen, die du dem Herbert nie zu stellen gewagt hast: wieso du, wenn du mit ihm schläfst, ruhig daliegen und leise atmen sollst. Wieso es ihn anmacht, wenn du davor eiskalt geduscht hast. Wieso er am intensivsten kommt, wenn du den Atem anhältst und die Augen zumachst, die Arme seitlich an deinem bewegungslosen Körper liegend, kein Muskelzucken, das deine Erregung verrät: als wärst du komatös. Oder tot.
Maden? Auch als du nachfragst und sie das Wort noch einmal wiederholt, macht es keinen Sinn. Du mußt an die Biotonne denken unten im Hof, wie es da drin im Hochsommer wimmelt und wuselt. Sie ernähren sich von Abfall, denkst du. Und du fragst noch ein zweites Mal nach, obwohl die Botschaft längst angekommen ist, sich dein Hirn nur weigert sie zu verarbeiten und dir das zu zeigen was sie beinhaltet: die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit, so wahr dir Gott helfe. Du mußt ihn anzeigen, redet die Ärztin an dir vorbei, weil du schon gar nicht mehr da bist. Dein Körper sitzt zwar noch hier und wimmert und pocht und bereitet dir Schmerzen, aber in Wirklichkeit bist du schon weit weg. Aber dann faßt dich die Ärztin am Arm und wiederholt: Du mußt ihn anzeigen, du kannst auch gerne den Apparat hier benutzen, sie könne es nicht tun, weil sie ja der ärztlichen Schweigepflicht unterliege, und sie könne auch gerne draußen warten, während du telefonierst, aber du schüttelst nur den Kopf und meinst, du würdest das später tun, später, und sie meint: gut, dann würde sie dir jetzt eine Überweisung schreiben, weil du ins Krankenhaus müßtest, heute noch, um genau zu sein: jetzt gleich.
Es hat dann gar nicht so lange gedauert wie du erwartet hast, und es hat auch kaum weh getan. Gestört hat dich nur, daß sie alle so komisch geschaut haben – so als hättest du dir diese Dinger da selbst hineingeschoben, damit sie wachsen und gedeihen und sich nähren von deinem Fleisch. Dabei bist du das O p f e r, bist ja völlig ahnungslos gewesen, und wer bitteschön würde denn auf die Idee kommen, daß der Herbert sowas tun könnte, dieses dreckige Schwein. Trotzdem: diese Blicke haben dich seziert, bis auf den Knochen hinunter. Richtig froh bist du, als du aus dem Krankenhaus wieder rauskommst. Sie haben dir noch eine Spülung verschrieben, die du die nächsten paar Tage lang vornehmen sollst, nur zur Sicherheit. Und einen Rat haben sie dir auch noch mitgegeben: daß du die Polizei verständigen sollst, weil das kann ja wirklich nicht sein, daß so einer mit so was durchkommt! Und du hast nur stumm genickt, weil dir die Worte gefehlt haben. Du hättest sie sowieso nur in den Tränen ertränkt, die schon hinter deinen Augen warten. Aber du gestattest dir nicht hier zu weinen, nicht vor den Leuten, wie sieht denn das aus. Auch im Taxi, auf dem einsamen Weg nachhause, hast du dich noch beherrschen können. Aber kaum hast du die Wohnungstür hinter dir zugemacht, bist du schon zusammengeklappt wie ein Taschenmesser und hast dich an deinem Schmerz entzweigeschnitten: denn da gab es nur noch das alte Leben, das du nicht mehr aufzunehmen bereit bist, und dieses neue, das nicht zu dir zu gehören scheint. Wie lange du dort auf dem Vorzimmerboden gelegen hast: keine Ahnung. Aber als du dich aufrappelst und aus dem Küchenfenster siehst, ist es draußen schon dämmrig, und du tastest nach dem Lichtschalter. Ein kurzer Blick auf die Uhr sagt dir, daß er bald nachhause kommen wird, und bei diesem Gedanken zieht sich dir alles zusammen, wird es dir ganz heiß, schießt dir das Blut in die Hände, die mit einem Mal ganz geschäftig werden und Schubladen aufreißen, eine nach der anderen, als wüßten sie nicht wonach sie suchten. Keine Polizei, denkst du, während deine Hände weiter Schubladen aufziehen und wieder zuschieben. Die Polizei kannst du später auch noch anrufen. Bis dahin wirst du warten, daß der Herbert von der Arbeit nachhause kommt, erschöpft und nach diesen ganzen Mitteln riechend, die sie dort verwenden. Das beißt sich irgendwie in der Haut fest, meint er, eine Berufskrankheit, da könne er sich waschen sooft er wolle, das ginge nie ganz weg, dieser Geruch. Aber das sei wohl immer noch besser als der Leichengeruch, oder?, kicherte er dann, und als du nun an dieses Kichern denkst, wird dir ganz übel. Ekel überläuft dich, läßt dich würgen, beinahe übergibst du dich. Aber auch das geht vorbei, wie alles vorübergeht. Natürlich wird es in den Zeitungen stehen, die ganze grausame Geschichte Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr: weil das nichts mehr mit dir zu tun haben wird. Weil du gar nicht mehr existierst, weil ihr eure Zukunft längst aufgebraucht habt, ohne es zu merken. Weil da nur mehr diese Vergangenheit sein wird, die man nicht vergessen und über die man mit niemandem sprechen wird können. Seltsam, wie schnell das geht: das Vertrauen verlieren, den Sinn verlieren, sich selbst verlieren. Und so schnell die Liebe erblüht, so schnell verwelkt sie auch. Aber jetzt zählt sowieso nur noch eines: dass du tun wirst, was du tun musst. Und dass danach nichts mehr von ihm übrigbleiben soll, das sich zu lieben lohnen würde. Nicht einmal für einen wie ihn. Thomas Talger Merangasse 40/2, 8010 Graz E-Mail: ichbingog@hotmail.com
geb. am 2.5.1980 in Graz; studiert Geschichte an der KFU Graz; Sänger der Band Pack of Wolves (www.myspace.com/thedesperatewolves); Stipendiat des 11. Klagenfurter Literaturkurses (2007)
Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien – zuletzt: Der Luxus des Exils, in: Ich, StadtschreiberIn. Schossbergflash, Leykam 2007 Die Diktatur des Augenblicks, in: Lichtungen 110, 2007 Was übrigblieb, in: Glänzendes Graz, Edition Kürbis 2008
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