Fussfrei – Willi Hengstlers Theatertrips und -tipps Baumeister Solness, Penthesilea, Entschärfte Bohème, schönste Harmlosigkeit
Baumeister Solness
Im Grazer Schauspielhaus lag am 7.11. mehr Premierenduft als sonst in der Luft. Auffallend viele Damen – von Landeshauptfrau Waltraud Klasnic über Kathy List (AVL) bis zu Vera Russwurm – waren ins Grazer Schauspielhaus gekommen, um Peter Simonischek, den mit knapp zwei Metern vermutlich größten Schauspieler Österreichs, in Ibsens „Baumeister Solness“ zu erleben. Der aus der Südoststeiermark stammende Simonischek hat seine Karriere in Graz begonnen, dann jahrelang auf der Berliner Schaubühne mit den wichtigsten deutschsprachigen Regisseuren gearbeitet und ist nun Mitglied des Burgtheaters. Man konnte gespannt sein, ob der sympathische Superstar und Heimkehrer unter der Regie der Intendantin Anna Badora die schauspielerischen Erwartungen erfüllen würde.
„Baumeister Solness“ (nur Baumeister!) in Ibsens 1892 geschriebenem Altersdrama ist ein robuster Selfmademan, der für den Erfolg das Haus seines Glücks buchstäblich in Brand gesetzt hat, ein in die Jahre gekommener, jugendlicher Dynamiker, der seine Macht über soziale Kompetenz ausübt und Egoismus schon mal als Hilfsbedürftigkeit tarnt, ein umgänglicher Erfolgsmensch, der niemanden neben sich hochkommen lassen will. Logisch, dass er Ragnar, dem Sohn seines Mitarbeiters Knut Brovik, sogar das verweigert zu bauen, was er selber gar nicht bauen will. Irgendwann gibt Solness unter Hildes Einfluss nach, nur ist es dann zu spät für den Vater Ragnars, den Erfolg seines Sohnes noch zu erleben. Zwar verdankt Solness dem sterbenden Brovik vieles, wenn nicht alles, aber Dankbarkeit ist keine Kategorie in diesem (unserem) System. Solness ist die „Jugend“, und sie holt ihn in Gestalt Hildes ein. Vor zehn Jahren konnte der Baumeister als Herr des eigenen Schicksals seine Höhenangst noch überwinden und imponierte dem Mädchen damit, einen Kranz auf das gefährliche Gerüst hoch bis an die Spitze eines Kirchturmes zu bringen. Beim Remake mit der aus der Vergangenheit auftauchenden Hilde, mit der er zukunftslose Luftschlösser baut, wird er vom Turm seines eigenen, neuen Hauses stürzen.
Intendantin Anna Badora setzt diesen an „Jedermann“ (auch so eine Paraderolle Simonischeks) erinnernden Solness in ein kahles Atelier. Die leicht geneigte, perspektivisch konstruierte Bühne auf der Bühne (Paul Lerchbaumer) lenkt den Blick auf einen offenen, unbeteiligten Himmel, der sich im allmählichen Zeitraffervideo von Andreas Siefert verändert – sinnfällig, aber nicht unbedingt günstig für die seitlich Sitzenden. Der letzte, tödliche Akt spielt dann im Garten, der praktisch derselbe Kasten ist, und Verena Lercher als Hilde (oder bunter Troll) steigt eine senkrechte, gefährlich schwingende Leiter hoch, gleichsam die Verkörperung von Solness’ Todessturz, von dem nur per Turmschau berichtet wird.
Und wie war Peter Simonischek? Er spielte Solness als völlig jetzige Figur, ein Aufsteiger – im Hintergrund aktuelle Ahnungen von Grundstücksspekulationen, unverkäuflichen Wohnungen auf dem Erbe der Frau –, der über Leichen geht und die Lebenden mit Schwung an die Wand drückt. Sein Baumeister ist auch ein Meister der Rollen: einer, der nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst manipuliert; einer, der alle Spiele kennt und den eigenen Zornausbruch nur beobachtet, um übergangslos zum scheinbaren Gemütsmenschen oder zum melancholischen Luftschlossträumer zu werden; ein auf Sieg programmiertes Chamäleon, das vergessen hat (oder will), was es eigentlich ist. Mit eigenen Bewegungen und Gesten aus dem kollektiven Bewusstsein, alle gleich aus dem Bistro der Lokalpolitiker nebenan, verleiht Simonischek Ibsens Theatertext einen Überschuss an Lebensweltlichem. Er agiert wie ein Autoverkäufer, und die große, dampfende, schwitzende Maschine, die er unwiderstehlich verkauft, ist er selber. Hilde Wangel als Mädchen Hilde rackert sich wacker ab, um über ihren bewundernswerten physischen Einsatz zusätzlich psychologischen Mehrwert zu erspielen. Nur ist sie in ihrer papageienartigen, „unkonventionellen Gebirgstracht“ eigentlich mehr eine Projektion des Baumeisters Solness als reale Figur. Auch die anderen Mitspieler sind ausgezeichnet, aber eben innerhalb ihrer vorgegebenen Rollen. Steffi Krautz ist ganz bruchlos als erstarrte Frau Baumeister, Julian Greis stattet seinen Ragnar tadellos mit der Beleidigtheit und der Häme der Jugend aus, Therese Herberstein ist eine gerade noch brauchbare Sekretärin und Otto David als Knut Brovik illustriert am deutlichsten den Grundsatz, dass sich die wahre Qualität einer Produktion an der Besetzung der Nebenrollen messen lässt. Irgendwie nebenher (ähnlich wie die ausgezeichneten Kostüme von Uta Meenen) am interessantesten schien mir Alexander Rossi in der kleinen Rolle des Hausarztes. Doch selbst wenn sie alle den Mut zum „Bistro“ gehabt hätten, dürften sie überhaupt? Und wäre dann genug Platz für so viele unterschiedliche „Simonischeks“ auf der Bühne? Das Konzept „Großer Star, volles Haus“ ist jedenfalls aufgegangen. Ob „Baumeister Solness“ auch eine „große Inszenierung“ ist, soll jeder selbst beurteilen. Ausgezeichnet ist er auf alle Fälle. Schauen Sie, dass Sie noch Karten bekommen. Unbedingt!
Termine: noch am 11.12., 20.12., 27.12. und am 5.1., 6.1., 16.1. und 24. 1. des nächsten Jahres.
Penthesilea Es fing am 15.11. schon einmal gut an, mit „The End“ von den Doors, auf einer lässigen Bühne (Markus Boxler), die „Apocalypse Now“ mit aufblasbaren Palmen und ostasiatischen Motiven auf irgendwie schmuddeligen Wandbehängen zitiert. Aha, Troja ist überall und Claudius Körber als Odysseus im Tarnanzug resümiert dazu, ehe er sich um Achill sorgt, die berühmtesten Kriege der Menschheitsgeschichte. Bis dann Achilles auftaucht, und ihm, ganz weg von dieser „Penthesilea“, den Shit wegraucht. Auch die Amazonengirls – Jascka Lämmert als „Penthesilea“, Carolin Eichhorst als Protoe und Susanne Weber als Asteria – bieten im Tarnanzug, mit Colt und schwarzem Stetson jede Menge Reminiszenzen an Coppolas Film. Nur ihre geflochtenen Haare waren für die Kostümbildnerin vermutlich kein Honiglecken. Aber es kommt, wie es kommen muss. Heinrich Kleist wird bei aller Coolness irgendwann unvermeidbar. Leider wird der „Codeswitch“ zwischen der eiskalt glühenden Hochsprache des schwierigen Klassikers und dem coolen Viet-Slang den ganzen Abend über nicht und nicht gelingen. „Penthesilea“, Kleists vermutlich verrücktestes Stück über eine Kriegerin, die, um Achill zu lieben, sich selbst hassen muss und umgekehrt, ist für sich genommen schon ein schwerer Brocken paranoider Tiefenpsychologie (Ganz zu schweigen von der femininen Nachgiebigkeit, die Achill wieder einmal an den Tag legt). Aber die Anstrengung der Regisseuse Friederike Czeloth, diesem Seelenwirrwarr noch mit Geschichtsphilosophie respektive Kriegsphilosophie und Versatzstücken aus der Massenkultur beizukommen, führt dann zu gewissen Unausgewogenheiten: Small Talk und überlautes Leiden, Fastscherze und hemmungslose Verzweiflung werden mit diesen auf dem Theater immer mehr um sich greifenden, wie üblich ungeschickten Kampfsporteinlagen (Michael Moritz) aufgemotzt. Die Schüler werden sich in dieser Aufführung gefragt haben, ob dieser Kleist womöglich meschugge war. Wenn diese Kritik den Eindruck erweckt, sie lege es auf einen Verriss an, sollte das korrigiert werden. Zweifeln lässt sich allenfalls an der Dramaturgie, die die etwas blauäugigen jungen Leute in eine solche Schlacht begleitet. Aber, wie es bei „Roxy Music“, ebenfalls aus den Siebzigerjahren, schon heißt: „Nein! Das ist nicht das Ende der Welt…“
Termine: Für Liebhaber des Schrägen noch am 20.12., 29.12.2008 und am 15.1.2009.
Entschärfte Bohème, schönste Harmlosigkeit Über die Toten nichts Schlechtes: Dietmar Pflegerl, der 2007 viel zu früh verstorbene Intendant der Klagenfurter Bühnen, hat 2003 „La Bohème“ mit einigem Erfolg inszeniert. Seine Klagenfurter Inszenierung wurde nun für die Grazer Oper in der Einstudierung von Michael Eybl übernommen und verspricht auch hier (mit Recht), ein großer Publikumserfolg zu werden. Ausstattung und Bühne erinnern mit ihrem gefälligen Realismus an Disney-Produktionen, in der selbst das schlimmste Unglück dekorativer Teil einer letztlich positiven Welt ist; auch Mimis tragischer Tod im Kreis ihrer liebenswerten Wirrköpfe gerät da zur Einsicht, dass das Leben der Boheme gelegentlich bitter, aber im Prinzip doch von gelungener Fröhlichkeit ist. Ganz abgesehen davon, dass Künstler schon früh die Lebensformen des Neoliberalismus (hier: industrielle Revolution) – Ich-AG, Flexibilität, Selbstausbeutung – bis zu ihrer festen Verankerung im Prekariat vorleben. Während die tuberkulöse Mimi bei Puccini im Kreis ihrer lieben Wirrköpfe stirbt, nimmt ihr etwas anderer Tod schon in der gleichnamigen Buchvorlage von Henri Murger das moderne, anonyme Sterben vorweg. Rodolfo, der Dichter, will Mimi wie versprochen noch einmal besuchen, aber die ist verlegt worden. Sie stirbt wenig später, ohne ihren Rodolfo noch einmal zu sehen, während der, verzweifelt durch die Schenken streunend, die Nachricht vom Irrtum erst tagelang später erfährt. Die kompetente Harmlosigkeit, mit der der engagierte Pflegerl die gegenwartsträchtige Oper Puccinis abwickelte, nimmt doch wunder. Davon abgesehen ist die historisierende Inszenierung bis auf die hektischen Gänge des ersten Bildes flüssig, die Sänger spielen insgesamt auch überdurchschnittlich gut. Alberto Hold-Garrido steuert das von ihm das erste Mal geführte Grazer Philharmonische Orchester weit an jeder Gesellschaftsanalyse vorbei und erfreut dafür mit deftigem Wohlklang. Arturo Chacon-Cruz als Poet Rodolfo scheint sich stimmlich erst schwer durchzusetzen, kommt aber bald gemeinsam mit seiner stimmlich wie spielerisch überzeugenden Partnerin Adriana Damato als Mimi in Hochform. Margarete Klocubar ist eine souveräne Musette. Und auch die sie umkreisenden Herren, Carlo Kang als Maler Marcello, Ivan Orescanin als Musiker Schaunard und Wilfried Zelinka als Philosoph Colline, geben eine ausdifferenzierte Performance.
Termine: Unbedingt zu empfehlen für Opernfreunde. Noch am 18.12. und am 9.1, 16.1. und 25.1. des nächsten Jahres.
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