Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Damit Handlungsspielräume nicht unsichtbar werden
Dienstag, 9. Dezember 2008
Heimo Halbrainer, Gerald Lamprecht, Ursula Mindler: unsichtbar. NS-Herrschaft: Widerstand und Verfolgung in der Steiermark. Graz: CLIO 2008., 314 Seiten; 25,-- Euro, bestellbar unter www.clio-graz.net Die Geschichte als Lehrmeisterin findet keine Schüler, wie die Remakes von Armut, Arbeitslosigkeit oder Krieg täglich zeigen. Wozu wird Geschichte als Wissenschaft betrieben, wenn Nietzsches These der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ oder Hegels Metapher von der „Geschichte als Schädelstätte“ das weltweit Angerichtete plausibel beschreibt? Manche Bücher repräsentieren indes den Widerspruch zu dunkler Geschichtsmetaphysik. Das Werk „unsichtbar“ setzt dem steirischen Widerstand ein wissenschaftliches Denkmal im Sinne von denk mal nach über Widerstand und Verfolgung während der NS-Zeit.
Die Kernthese der AutorInnen zertrümmert den Mythos der Stunde null, der im „Glücklich ist, wer vergisst“ seine informelle Bundeshymne nach 1945 fand. Die NS-Herrschaft sei nicht als Elitendiktatur einer kleinen Nazi-Clique vorzustellen, sondern als von der Mehrheit mitgetragener Massenwahn. Goebbels´ Propaganda, Himmlers Terror, DAF und KDF als NS-Kürzel für „Brot und Spiele“ verzahnten die Volksverführer mit den Volksgenossen. Sie stilisierten Massenwahn und Massenmord zum kategorischen Imperativ einer sakralisierten Schicksalsgemeinschaft. Die Gleichschaltung der Presse erzeugte einen repressiven Einheitsdiskurs zwischen Graz und Berlin. Der Gleichschritt von SA, SS und Wehrmacht walzte (fast!) alles nieder, was sich in den Weg stellte. Gleichschaltung und Gleichschritt wurden in den Erzählungen der sogenannten Landsergeneration hermetisiert, um lückenlosen Befehlszwang ohne Handlungsalternativen zu suggerieren. Kurt Waldheims Betonung der „Pflichterfüllung“ benützte die Autosuggestion der Ausweglosigkeit als me absolvo von allfälligen Verantwortungsfragen.
„unsichtbar“ entzieht dem Landsernarrativ die Aura der Ausweglosigkeit und macht Handlungsspielräume gegen die Hermetik des NS-Terrors sichtbar: vom mutigen Widerspruch Irene Harrands gegen Hitlers „Mein Kampf“ bis zur Flucht des Arbeiters Franz Taucher vor dem rauschartigen Anschluss-Hype in Graz 1938; von der Kriegsdienstverweigerung der Zeugen Jehovas bis zum bewaffneten Widerstand der Partisanengruppe Leoben Donawitz oder des österreichischen Bataillons im Verband der jugoslawischen Armee. Nicht zu vergessen die parabelhafte Zivilcourage Franz Leitners, der im KZ Buchenwald 370 Jugendliche vor der Ermordung rettete und von Israel als „Gerechter der Völker“ ausgezeichnet wurde. „unsichtbar“ macht sie alle sichtbar, versieht sie mit mühsam rekonstruierten Lebensgeschichten, gibt ihnen Gesichter und Namen, errettet sie in seltenen Text- und Bilddokumenten für uns Nachgeborene. Ohne die neuere Zeitgeschichte hätten wir niemals diese Geschichte(n) des anderen Österreich erfahren können, weil der Gleichschritt und die Gleichschaltung nach 1945 jedes Gegennarrativ zum Verstummen bringen wollten.
Schicksalsgemeinschaften brauchten auch im NS-Staat eine Armee an Sündenböcken, gegen die alle Mittel zu ergreifen waren: Ob Juden, Roma, Homosexuelle, Bibelforscher oder Bolschewiken. Die Volksgenossen stifteten kollektive Identitäten, indem sie überzeugt waren, gegen all die „Untermenschen“ im höheren Auftrag vorgehen zu müssen. Der Todesmarsch Eisenstraße 1945 steht exemplarisch dafür, dass der Tod frei nach Paul Celan nicht nur ein Meister aus Deutschland war, sondern seine willfährigen Helfer in den Volkssturmeinheiten steirischer Gemeinden fand. Der Eisenerzer Volkssturm ermordete am 7.4.1945 über 200 ungarische Juden auf dem Präbichl. Heute erinnert ein Mahnmal von Eisenerzer Jugendlichen an diesen Massenmord auf steirischem Boden.
Dass es aus der Herde der Sündenböcke kein Entrinnen gab, verdeutlicht das erschütternde Beispiel des Polizisten Franz Baranyai, der an Gauleiter Uiberreither schrieb, er wolle seinem „Heimatland treu bis zum Tod“ dienen und dass er zudem einen „Ariernachweis“ besitze. Es half ihm alles nichts, weil ihn der Landrat von Fürstenfeld konsequent als Zigeuner diffamierte. Baranyai wurde im Juli 1943 in Auschwitz ermordet.
„unsichtbar“ macht selbst die Täter sichtbar. Eine Doppelseite porträtiert steirische GESTAPO-Schergen, die für ihre Kapitalverbrechen meist mit geringen Haftstrafen davonkamen.
Das versammelte Widerstandswissen besticht durch seine Vielfalt, fasziniert durch die unsterbliche Kraft all jener, die – wie Richard Zach es ausdrückte –, den Mut hatten, nicht „Demut zu hecheln“ oder zu fragen, „ob die Taten Zinsen brächten“, sondern die ihr Leben für die Freiheit geopfert haben.
Hitlers „Mein Kampf“ erhielt jedes Brautpaar. „unsichtbar“ müsste in jedem steirischen Haushalt stehen als Hausmittel gegen die Renaissance von Rassismus und der neuerlichen Prekarisierung der Arbeitswelt.
Christian Ehetreiber
» Keine Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.
» Kommentar schreiben
Nur registrierte Benutzer können Kommentare schreiben.
Bitte melden Sie sich an oder registrieren Sie sich.
 
< zurück   weiter >