Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Fussfrei – Willi Hengstlers Theatertrips und -tipps
Montag, 10. November 2008
„Nix wie weg“, ein maßgeschneiderter Liederabend des bekannten Bühnenkomponisten, Regisseurs und 68er Revolutionärs Franz Wittenbrink, präsentiert sich ohne falsche Prätentionen und kann schon deshalb empfohlen werden. Wittenbrink, der u.a. für Castorf und Minks gearbeitet hat, bietet auf einem eher anonymen Grazer Hauptplatz (aufgefettet mit der Marienstatue vom Eisernen Tor) einigen bestens disponierten Mitgliedern des Grazer Ensembles eine Plattform für verdienten Szenenapplaus. Diese sehr lockere „Stunde, als wir nichts voneinander wussten“ erinnert sympathisch an deutsche Musikfilme der Fünfziger- und Sechzigerjahre mit Silvio Franceso, Caterina Valente und Vico Torriani … Das triviale Genre lebt von der Sehnsucht nach einem richtigen Leben im falschen und damit der Kritik an den bestehenden, gelegentlich traurigen Verhältnissen. Aber da diese Kritik mit jeder Figur wechselt, wird die Systemkritik alsbald zum sentimentalen oder mitreißenden Typenreigen: Frederike von Stechow als geniale, sehnsüchtige Wurstverkäuferin („ein Schiff wird kommen…“) Dominik Maringer als böser Punk (Hass-Rap), ein dick- bzw. falschbäuchiger Franz Solar, der die  „Ballade von der Wurst“ singt und Andrea Wenzl, die als schwangeres, katholisches Steirerdirndl ein energiegeladenes „I wanna be evil“ gibt. Aber all die anderen (Julian Greis, Jaschka Lämmert, Susanne Weber, Eduard Wildner) die aus reinem Platzmangel nicht erwähnt werden, sind mindestens genau so gut. Einziger Schönheitsfehler: Bürgermeister Nagl, der doch dem Hollywoodstar Andy Garcia wie aus dem Gesicht geschnitten ist und als Schutzherr eines sauberen Hauptplatzes wirkt, findet keine Würdigung. Trotzdem. Nix wie hin!
Noch am 19. und 22. November und am 6., 18. und, gewissermaßen als Neujahrsprogramm, zweimal am 31.12.


„Desaparecidos“ ist das Pendant zur „Odyssee“ auf der Probebühne des Schauspielhauses und Teil eines Ad de Bont-Projektes zwischen dem TaO! Und den Vereinigten Bühnen. „Die Verschwundenen“ handeln von den unter der argentinischen Militärdiktatur während der Siebziger verschwundenen politischen Opfern und ihren Kindern, die von den Militärs zur Adaption angeboten wurden. Irgendwann trafen sich Mütter und Großmütter dieser Opfer und marschierten (Stehen war verboten) auf der Plaza Mayor von Buenos Aires stumm im Kreis, bis sie schließlich auch international wahrgenommen wurden. In dem vielschichtigen und dabei klar gebauten Stück von Ad de Bont wird der von einem Militär (noch dazu dem Mörder seiner Mutter) adoptierte 11-jährige Raul plötzlich stumm. Es endet damit, dass Raul seinen Großvater, den letzten Verwandten, findet und der Adoptivvater vor Gericht kommt. Was als Betroffenheitstheater Furcht erregen könnte, entwickelt sich unter der pragmatisch-sensiblen Regie von Manfred Weissensteiner zu einem großartigen Theaterabend, der den Vergleich mit den simultan laufenden herbst-Aufführungen nicht zu scheuen braucht. Der politische Terror und seiner Folgen werden bei Ad de Bont zu mythologischen Mustern: Die Folter der Frauen wird intensiviert, indem man die Kinder neben ihnen aufhängt und ebenfalls schlägt. Der Mörder adoptiert das Kind der Toten, das zehn Jahre später verstummt. Der verwitwete Großvater nimmt (inklusive weißem Kopftuch) die Rolle seiner Frau bei den „Müttern des Maiplatzes“ ein … Dass die Schauspieler in politisch gegensätzlichen Mehrfachrollen auftreten, illustriert die vielfachen Verflechtungen. In dem äußerst einfachen, aber dabei ironisch mit Alltagsbanalität operierenden Bühnenbild entfaltet der Regisseur eine gleichzeitig archaische und – ja, doch! – auch lustvolle Inszenierung. Und Pedro Gross, der den jungen Raul spielt, ist ein fabelhaftes Naturtalent. Ein Abend, der zeigt, mit wie wenig Geld wie viel ästhetischer und politischer Nutzwert erreicht werden kann.
Noch am 25. und 26. November und am 1., 2. und 3. Dezember
Wie man auch mit ziemlich viel Geld Kunst macht, zeigten die Grazer  Oper und der steirische herbst, indem sie Georg Friedrich Haas’ „Melancholia“, eine Produktion der Opera National de Paris und der Opera Vest zwei Abende  für Graz übernahmen und vom „Klangforum Wien“ interpretieren ließen. Das Libretto, einem Roman des norwegischen Erfolgsautors Jon Fosse und von diesem selbst nachgedichtet, erzählt das Schicksal des norwegischen Malers Lars Hertervig, der 1853 in Düsseldorf Malerei studierte, aber, da er sich in die fünfzehnjährige Nichte seines Vermieter verliebt, sein Quartier verlassen muss. In einer Schenke von „den anderen“ verhöhnt, nach einem weiteren Treffen mit der kindlichen Helene per Polizei des Hauses verwiesen, kehrt Hertervig nach Norwegen zurück , wo er in innerer Emigration ein solitäres Werk aus Landschaftsbildern schafft: zweifellos ein Künstlerdrama, so recht nach dem klassischem Operngeschmack. Der minimalistischen Inszenierung von Stanislas Nordey und der Bühne von Emmanuel Christophe Clolus genügen ein düster-kahler Bühnenraum, und bis auf die Kleidung des Malers und seiner kindlichen Helene, gedeckte Farben. Nur eine große, weiße Fläche – Malleinwand, Betttuch, Segel – glänzt hell in der Düsternis. Fosses Roman ist dem Vernehmen nach sehr umfangreich, aber schon sein Libretto arbeitet mit bemerkenswerten Wiederholungen, die es den Besuchern glücklicherweise ersparen sich beim Lesen der Textbalken über der Bühne einen steifen Nacken zu holen: „Chor: Hertevig der kann nicht malen….Hertevig: Die anderen, die können nicht malen….“ usw. , usw. Diesem aufrüttelnden Ideen-Minimalismus, in dem Innen- und Außensicht ineinander kippen, verleiht der sympathische Komponist Georg Friedrich Haas durch seine auf Obertonakkorden und Mikrotönen basierende Komposition eine zwar rauschhafte, aber dennoch eher herbe Wirkung. Tatsächlich glänzen das Klangforum Wien unter Emilio Pornarico bei ihrer Interpretation der schwierigen Partitur und Otto Katzameier in der Titelrolle. Auch Melanie Walz als Helene, Johannes Schmidt als Vermieter Winkelmann, Daniel Gloger als böser Freund Alfred und Annette Elster als Kellnerin beeindrucken ungemein. Aber die zeitlos-mythische Wucht, die den Ansatz rechtfertigen würde, stellte sich zumindest an diesem Abend nicht ein. Tolle Leistungsschau des musikalisch-pädagogischen Industriekomplexes, vermutlich aus Kostengründen nicht mehr zu sehen. Vielleicht als szenische Aufführung wieder einmal?
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