Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Georg Petz: Bildstill (Auszug )
Mittwoch, 8. Oktober 2008

Ab März 2008 veröffentlicht KORSO in jeder Ausgabe einen umfangreicheren literarischen Beitrag.

Wenn man die Augen schließt, gefriert das letzte Bild von der Welt in den Negativfarben vor den Augenliedern, ein trompe l‘oeil der letzten Reize auf der Netzhaut und alles das, was sich eben noch bewegt hat, was schiebt, was drängt bleibt als ein stilles Tableau vor der Finsternis, die langsam darüber hinauswächst. Das Armaturenbrett und das Lenkrad, die Uhr über dem Radio angehalten, der Kilometerstand arretiert und die Tachometeranzeige unveränderlich auf denselben Punkt gebannt: wir rasen reglos von Bild zu Bild und nur wenige von uns berührt der Schrecken, der ihr Stoff ist, dies könnte das letzte sein, das wir sehen.

Was wir als letztes voneinander sehen und nur mit geschlossenen Augen bleibt die Zeit, im Leinwandgewebe des Bildstills überhaupt nach einem solchen Gedanken zu fassen, durch seine Textur hindurch und ob es deshalb ist, womöglich, aus der Angst heraus, was uns alles einholen müsste wenn wir nur erst einmal anhalten, dass wir beständig wie auf der Flucht sind.

Alle die Ängste, und irgendwie müssen sie sich in der letzten Zeit multipliziert haben angesichts all der Doktrinen zu einem freieren Dasein: sei mobil. Sei flexibel. Sei anpassungsfähig. Sei ungebunden. Sei reisefreudig. Sei neugierig darauf, mit fünfzig noch einmal von vorne anfangen zu können. Sie neu im Job. Sei offen für all die Möglichkeiten, die sich für dich daraus ergeben, bis dreißig noch keinen Job gefunden zu haben, der dich auch versorgt. Sei dein eigener Herr und versorge dich selbst sei jung und lasse dich herumstoßen sei aufgeschlossen und mit allem einverstanden sei hip und hinterfrage nicht was sich verändert sei weniger kopflastig sei sozial kompetent stattdessen dann bemerkst du auch nicht ob sich überhaupt etwas verändert Hauptsache du bist immer vorne dabei und veränderst dich immerzu selbst und nur nicht darin zum Stehen kommen, Stillstand ist Rückstand und was passierte eigentlich, wenn wir nicht länger mobil wären? Was passiert eigentlich, wenn wir die Augen schließen? Und nur mit geschlossenen Augen ist das Ende der Bewegungsfreiheit nicht zeitgleich auch das Ende aller Freiheit, das ist nicht dasselbe mit geschlossenen Augen und da ist nicht länger dieses Gefühl einer Beklemmnis, das nach und nach nach Matthias fasst, das Gefühl eines Beklemmtseins eines Verklemmtseins eines Eingeklemmtseins und nicht mehr von der Stelle zu kommen zwischen der Stoßstange des Vordermanns und dem Kühlergrill des Wagens im Rückspiegel.
Irgendetwas muss geschehen sein, kommt es Matthias, dass sich der Stillstand nur noch mit geschlossenen Augen ertragen lässt. Irgendetwas, das anstelle der Menschen in die Penthäuser und Designerlofts der Skyline eingezogen ist und alles, was du dir mühsam erwirbst, stößt jene höhergestellte Einwohnerschaft schon wieder ab. Wo du hingehst, war man schon längst. Was du erst lernst, ist bereits zum Vergessen. Was du denkst, ist bereits gedacht: das steht bereits bei den Alten, als habe man dein eigenes Leben bereits über die Jahrtausende hinweg verlebt, immer in denselben Bildern, und willkommen darin aber denke daran das ist alles nicht dein eigenes! Hinter jedem Balkon, hinter jedem Fenster der Monolithbauten entlang des Donauufers vollzieht sich deinselbes Leben deinselbes Denken in der tausendfachen Kopie und was sagt dir eigentlich, dass du nicht die Kopie bist was sagt dir das außer wenn du allen voranläufst denn nur die Spitze vor dem Feld sticht hervor die ist sichtbar was sagt dir das?

Während du schläfst, schreibt jemand anderes vor dir deine Dissertation fertig. Während du an deinen Arbeiten sitzt, schläft ein anderer hinter dir mit deinem Mädchen und hast du dich schon einmal gefragt, weshalb dir in dem ganzen großen Markt da draußen keine ordentliche Arbeit bleibt das passiert weil sie ein anderer schon längst für dich erledigt hat und hast du dich schon einmal gefragt wenn du schon als einer unter den fünfzehntausend Bewohnern der Donaustadt wenn erst einmal eine Milliarde Chinesen und hast du dich tatsächlich einmal, für einen Moment nur gefragt, was mit uns passiert wenn wir plötzlich nicht mehr mobil sein können und was Sie waren noch niemals für ein Jahr in Amerika? das ist es: wir fallen unter anderes zurück. Wir fallen aus unserem Anderssein heraus. Wir werden überholt von all den anderen, die parallel mit uns dieselbe Straße entlangfahren.

Wenn man die Augen schließt, kommt es Matthias, kommt es über einen wie ein Schwindel und für einen Moment meint man, man würde unter der Stoßstange des Vordermannes hindurchtauchen und so, aus der Tiefe heraus, aufs Neue Fahrt aufnehmen, und wie das unerwartete Gefühl der Beschleunigung plötzlich beruhigt. Eine Kindheitserinnerung an das Gewiegtwerden als Einübung in ein bewegtes Leben und dann hat er wieder Sophia vor Augen, die entwächst den Kindheitserinnerungen und wie sehr sie ihnen entwachsen ist, erscheint es ihm plötzlich, als eine überdimensionale Figur, als eine Mutterfigur und da ist mit einem Mal auch an ihr alles das wieder, was an den Mutterfiguren so ängstigt.

Die schlichte Größe, zu der sie ihre Rolle aufgebläht hat: an den Waden und an den Oberschenkeln, die mit einem Mal breit über ihre Knie hinaus fallen und die dünnen Mädchenbeine sind nicht mehr als Erinnerung mit den Kniescheiben als ihrem breitesten Saum direkt dort, wo der Rock aufhört. Die Brüste sind geschwollen, aber es spricht keine Verführung mehr aus ihrer Vergrößerung. Überhaupt muss etwas passiert sein mit jenem Moment der Verschmelzung tief in ihrem Uterus, das seine Schrift ungewöhnlich rasch auch auf die Oberfläche getragen hat, eine sonderbare Art der Montogenese, die zwar da und dort ihr Gewebe hoch aufwirft, die es zugleich aber auch tief zerfurcht und brüchig macht. Wenn man mit Daumen und Zeigefinger beider Hände ein Trapez baut und Fingerspitze parallel an Fingerspitze führt, bis sie über ihrem Bauch oder über ihrem Hintern eine neue geometrische Figur zeichnen, ein Rautenwesen, und wenn man das dann in einer straff geführten Bewegung auseinanderzieht, dann ist da zwischen den aufgespannten Fingern wieder die glatte Haut von vorher, aufgespannt, und wie eine Ballonhaut schiebt sie sich wieder zusammen, kaum dass man mit den Händen weitergeht. Sophias dicken werdenden Mutterleib entlang, darin es nistet und wie ein Insekt schlüpft von Tag zu Tag unter all der aufgequollenen Weiblichkeit in einer sonderbaren Art der Metamorphose ein wenig Männlichkeit wie seine eigene Spiegelung. Kommt in unerträglich langen Schweißausbrüchen aus allen Poren und dringt an allen Stellen als ein dunkler und harter Haarwuchs durch die Haut. Wenn Sophia morgens neben ihm im Bett liegt, wenn das frühe Licht des Sommeranfangs ihr durch die heruntergelassenen Jalousien in den Rücken fällt und sie so tut, als schlafe sie noch, weil sie nicht und nicht aufstehen möchte und manchmal schläft sie dann tatsächlich wieder ein, macht es ihr einen Bart auf ihre Oberlippe und auf ihre Wangen. Es lässt Haare an ihren Unterarmen sprießen, von den Ellenbogen aufwärts und es hat wie ein Pilz die Innenseiten ihrer Schenkel befallen, von wo es immer weiter wächst. Ein ganzer Katalog der Hässlichkeiten: das ist das Männliche.

Und: irgendetwas muss passiert sein, unbemerkt, ein flüchtiger Wechsel in der Perspektive, wenn wir uns selbst abschätzen, wenn wir uns wägen und abzählen und mit einem Mal erkennen müssen, dass wir nicht länger unter denselben Taxa zu katalogisieren sind wie bisher. Wenn uns unversehens die Artikel verwandter erscheinen, die in den Drogeriemärkten – das sind die Enzyklopädien des Alltags – gleich am Eingang stehen, lastender mit uns verlinkt: Toilettenpapier und Windeln aller Art, Socken und die bequeme Baumwollunterwäsche. Hühneraugenpflaster, Stahlschwämme, halb transparente Plastikdöschen und kohlensäurearmes Mineralwasser und eigentlich müsste sich diese Liste doch anders fortsetzen lassen, eigentlich müsste da Netzstrumpfhose stehen und Lipgloss und Platinblond und Perlweiß und kalifornischer Rotwein, Smoothies, die Vogue und das Vitalfrühstück.

Irgendetwas muss passiert sein seit dem Moment, da wir uns auf den Weg gemacht haben. Seit wir die Augen aufgemacht haben und uns im Tag umgesehen, der noch alle Möglichkeiten für uns bereit gehalten hat: aufzustehen ebenso wie im Bett zu bleiben und wir haben uns für das Aufstehen entschieden und wir haben uns für eine Tasse Kaffee entschieden und für die Zeitung und dann muss es vielleicht zum ersten Mal passiert sein: dann stehen mit einem Mal andere Optionen bereit, aber eben nicht mehr die, sich mit Kaffee und Zeitung ins Bett zurück zu legen: Duschen und die Zähne putzen, oder Duschen und unter dem Brausestrahl onanieren und sich danach die Zähne putzen und sich anziehen, und so passiert es wohl: dann stehen mit einem Mal andere Optionen bereit, aber eben nicht mehr die, unbefriedigt unter die Dusche zurückzukehren und unter dem Brausestrahl zu onanieren und nicht mehr die, sich angezogen noch einmal zu duschen: In der Wohnung bleiben oder nach draußen gehen, und wir haben uns dafür entschieden, außer Haus zugehen, weil wir ohnehin nicht mehr ins Bett zurückkehren können: Der Joggerin im Stiegenhaus auf den Busen starren oder sie ansprechen oder an ihr vorbeigehen oder ihr im Vorbeigehen auf den Hintern fassen und wir haben uns dafür entschieden, einfach an ihr vorbeizugehen. Dann stehen mit einem Mal andere Optionen bereit: Nach links gehen in den Park oder zum Auto gehen oder mit der Straßenbahn in die Innenstadt fahren und wir haben uns für das Auto entschieden, weil es gibt keine Rückkehr ins Bett und das Treppenhaus hat die Joggerin auch schon längst aufgesogen. Dann stehen mit einem Mal andere Optionen bereit: Arbeiten gehen oder einkaufen gehen oder Musik hören oder sich für Kultur interessieren oder sportbegeistert sein oder Freunde haben und wir haben uns für das alles entschieden und dann stehen mit einem Mal andere Optionen bereit, das ist unsere große Seinskette: Kinder kriegen oder schwul sein oder Kinder kriegen und schwul sein und Haus bauen und am Abend fernsehen und am Sonntag spielen und am Monatsende Geld bekommen oder am Monatsende kein Geld bekommen oder einmal im Monat die Eltern anrufen und einmal im Jahr die Großeltern besuchen in ihrem Haus in Jedlersdorf oder am Friedhof von Jedlersdorf oder die Eltern oder Weihnachten feiern oder zu Weihnachten arbeiten müssen oder doch lieber arbeiten gehen oder doch lieber nichts arbeiten. Und für alles das haben wir uns entschieden, und dann stehen mit einem Mal andere Optionen bereit, aber eben nicht mehr die: keine Kinder kriegen, oder das Auto stehen zu lassen und der Joggerin auf ihren Busen zu starren und mit ihr in die Wohnung zurückzukehren und nicht zu onanieren und sich stattdessen mit ihr ins Bett zu legen.
Die schmerzvolle Erkenntnis, irgendetwas muss passiert sein, wenn am Ende unserer großen Seinskette nur noch diese Optionen offen bleiben: Toilettenpapier kaufen oder Windeln kaufen oder Baumwollunterwäsche kaufen oder Stahlschwämme kaufen oder halbtransparente Plastikdöschen und kohlensäurearmes Mineralwasser. Und wir haben uns für das alles entschieden, weil es keine Rückfahrtmöglichkeit mehr dahin gibt, sich für Kultur zu interessieren oder sich für Sport zu begeistern oder mit den Eltern Weihnachten zu feiern. Dann stehen mit einem Mal nur noch diese Optionen bereit: Toilettenpapier und Windeln in der Baumwollunterwäsche und etwas wie kohlensäurearmes Mineralwasser, das man schmerzvoll in halbtransparente Plastikdöschen pisst und die Erkenntnis vom Ende unserer Seinskette oder: vom Jedlersdorfer Friedhof.
Und wie glatt wir solcherart unserer Wege gehen, als wäre nie etwas passiert. Wie ruhig, wie ein sediertes Vieh, kommt es Matthias, und alles läuft wie auf Bahnen, wenn wir nicht vorübergehend im Stau stehen. Alles läuft wie geschmiert bis auf jenen Augenblick, da wir den Zündschlüssel zurückdrehen und der Motor abstirbt. Alleine die Musik, in der Stille, vermag uns noch zu erschüttern und selbst das nur vorübergehend, ihre Erschütterungen nicht mehr als unsere Unterhaltung, als die Hintergrundmusik zum Stillstand, yes, starcrossed in pleasure the stream flows on by und wo wir zusammengehockt in unseren Positionen verharren, festgefroren in dem Tableau von Dächern und Türmen, das die Stadt ist, geht alleine der Strom unserer Gedanken as we‘re sated in leisure we watch it fly, der Strom der Musik durch all die Starrheiten und Vermauerungen hindurch, die uns die Sicht aufeinander nehmen, und knüpft das eine ans andere, während wir auf das Ende der Stauwarnungen im Radio warten. Während wir argwöhnisch die Hitze auf unserer Loggia betrachten oder ein paar Flecken auf einem Konditoreikarton. Während wir dem Tod ins Gesicht sehen und uns fragen, wohin wir uns noch wenden sollen. Wohin wir gehen sollen, wenn wir aus dem Haus treten, und wer mit wem verknüpft ist, in derselben Musik, zu seiner Erzählung. Die schreibt sich unaufhörlich weiter, selbst wenn wir stehen bleiben and time waits for no one and it won‘t wait for me.

 

Georg Petz, geboren 1977 in Wien. Aufgewachsen in Hartberg (Oststeiermark), danach Studium der Anglistik und Germanistik in Graz. Seit 1992 Mitglied der Jugend-Literaturwerkstatt Graz, erst als Schreibender, später als Betreuer für die Werkstattgruppe der Über-14-Jährigen und für diverse internationale Werkstattwochen.
Prosatexte in Literaturzeitschriften (manuskripte, LICHTUNGEN, miromente etc.) und im Rundfunk, eigenständige Veröffentlichungen: Übernachtungen (Erzählung), Steirische Verlagsgesellschaft/Leykam 2003; Die Anatomie des Parasitären (Erzählungen) Steirische Verlagsgesellschaft/Leykam 2005 (erscheint 2008 in französischer Übersetzung bei Edition Absalom/Paris); Die Tausendjährige Nacht (Roman), Bibliothek der Provinz 2006; Die unstillbare Wut (Roman), Leykam 2007.
An den Übersetzungen einzelner Texte von Georg Petz ins Italienische, Slowenische und ins Weißrussische wird derzeit gearbeitet. Für seine Arbeiten erhielt der Autor zudem zahlreiche Preise und Auszeichnungen, darunter etwa die Auswahl als „Morgenstern – Künstler der Zukunft“ für Prosaliteratur der Kleinen Zeitung, den Literaturförderungspreis der Stadt Graz, die Ernennung zum Marktschreiber von St. Johann/Tirol sowie den ersten Preis im Literaturwettbewerb der Akademie Graz 2004 und den Förderungspreis für Literatur der Steiermärkischen Sparkasse 2007 für den aktuellen Roman „Die unstillbare Wut“. Staatsstipendium 2008/09 für die Arbeit am Manuskript „Bildstill“.

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