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Unruhen in Bolivien: Die Indizienkette führt nach Washington
Mittwoch, 8. Oktober 2008
Die USA sind das einzige Land Amerikas, das noch keinen Putsch erleiden musste, und dies nur deshalb, weil es dort keine US-Botschaft gibt; diese Weisheit gehört affirmativ oder ablehnend zum Standardrepertoire des/der LateinamerikaexpertIn abseits von hippen Rummixgetränken und Salsatanz. Tatsächlich ist die Gewaltwelle in Bolivien weder zufällig noch irrational, tatsächlich gibt es eine Indizienkette, die nach Washington führt. Gleichzeitig repräsentieren sowohl der „Präsident mit dem Nussknackergesicht“ (Copyright „Die Presse“) Evo Morales als auch die Aufständischen Autonomisten reale soziale Kräfte im Land.

Hochland gegen Tiefland, „Collas“ gegen „Cambas“, Weiße gegen Indigenas, Demokraten gegen Sozis; simple Schemata sind schnell aufgerissen – und die simple Lösung liegt auf der Hand. Der bolivianische Politologe Miguel Buitrago schlägt folgende Vorgangsweise vor: „Eigentlich sehr banal: Beide Seiten müssen verhandeln. Aus den zwei unterschiedlichen Vorstellungen muss eine gemeinsame entstehen. Das Problem ist, dass beide Seiten keine Kompromisse schließen wollen.“        

Nicht alles kann verhandelt werden.
Evo Morales wurde 2005 mit absoluter Mehrheit zum Präsidenten Boliviens gewählt. Seiner Wahl vorausgegangen sind zahlreiche Aufstände, beginnend in Cochabamba im Jahr 2002, zwei Regierungsstürze, Generalstreiks etc. Bolivien hat eine ausgesprochen kämpferische Tradition sozialer und gewerkschaftlicher Bewegungen. Die sogenannten „cabildos abiertos“ sind Volksversammlungen, die auf indigene Traditionen zurückgreifen, in Notzeiten schnell einberufen werden können und eine höhere moralische und politische Autorität genießen als bürgerliche demokratische Institutionen. Die Gewerkschaftsbewegung mit dem Zentralverband COB und der Bergarbeitergewerkschaft FSTMB steht in den militantesten Traditionen der internationalen Arbeiterbewegung, die Cocaleros, also die Bewegung der Kokabauern, ist eng mit dieser Gewerkschaftsbewegung verbunden. Morales steht unter ständigem Druck seiner sozialen Basis, der er sich nach seinem Wahlsieg auch, indem er sich einem traditionellen Ritual unterzog, symbolisch unterordnete.
Auf der anderen Seite steht eine europäisch geprägte Oligarchie, für die allein der Umstand, dass sie nun von einem „Indio“ regiert werden, eine Beleidigung darstellt. Die nach dem Sieg Morales’ im Abwahlreferendum vom 15. August angekündigte Beschleunigung der Nationalisierung der Erdöl- und Erdgasvorkommen, der Landreform und die Beendigung der Blockade der verfassungsgebenden Versammlung durch einen Volksentscheid im Dezember – die Reaisierung der zentralen Wahlversprechen Morales’ steht nun an. Damit aber auch ein konkreter materieller Eingriff in die Lebensinteressen dieser Oligarchie.

Wer ist die Oligarchie? Die bolivianische Oligarchie ist im fruchtbaren Tiefland der östlichen Provinzen beheimatet. Die Landreform von 1953 ging an diesem östlichen Teil des Landes völlig vorbei. Latifundien beherrschen die weite Landschaft, die indigene Arbeiterschaft ist völlig marginalisiert und lebt in einem feudalen Abhängigkeitsverhältnis zu den Großgrundbesitzern. Staatliche Institutionalität ist in diesen Ebenen noch nie durchgesetzt worden, etwa sind sogar Straßen in der Hand privater Grundbesitzer, auch Staatsbeamte können nur mit privat ausgestellten Passierscheinen diese Weiten durchqueren. Als Grenzgebiet nach Brasilien stellen diese Landstriche traditionell den Kokainumschlagplatz Boliviens dar. Die Oligarchie steht an der Spitze der Kokainpyramide und kontrolliert nicht nur die weiten Landschaften, sondern auch die staatlichen Institutionen. Der Gouverneur von Pando etwa, Leopoldo Fernández, regiert ununterbrochen seit dreißig Jahren. Persönliche und familiäre Freundschaften zum Präsidialpalast werden seit Jahrzehnten und darüber hinaus gehegt und gepflegt. Der Wahlsieg von Morales im Dezember 2005, die folgende Implosion traditioneller konservativer Parteien stellte für die Personen dieses bislang einflussreichen Umfelds ohne Zweifel eine Zäsur dar. Santa Cruz ist heute die am schnellsten wachsende Stadt Lateinamerikas. In der Region werden mehr als 30 Prozent des bolivianischen BIP erwirtschaftet, 54 Prozent der Exporterlöse, 80 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion (Soja-Monokulturen). Hier befindet sich das Zentrum der Ergasförderung, mehr als 40 Prozent der Auslandsinvestitionen sind hier angesiedelt. Das Stadtzentrum ist nach US-amerikanischem Vorbild gestaltet, eine autobarrierefreie Ansiedlung, die man in Bolivien nicht vermuten würde. Um die Stadt herum sind zwölf Stadtviertel gegliedert, in denen jene meist indigenen Menschen wohnen, die in den Küchen, Kellern, Häusern und Lagerhallen der Stadt werken. Die Mittelschichten der Stadt sind überwiegend Anhänger der rechten Opposition Boliviens. Die politischen und wirtschaftlichen Eliten der anderen Flachlandprovinzen orientieren sich an dieser Region.
Die politische Unterstützung der Mittelschichten wird über mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen organisiert: das Comité Cívico de Santa Cruz (Zivilkomitee), die Falange Socialista Boliviana (Bolivianische sozialistische Falange), das Movimiento Autonomista Nación Camba (Autonomistische Bewegung der Nation Camba) sowie die Union Juvenil Cruceñista (Heiligenkreuzler Jugend Union). Die organisatorische und finanzielle Basis dieser Organisationen sind kommunale Betriebe. Die Ideologie und Methoden dieser Organisationen sind offen rassistisch und faschistisch, gemeinsam ist auch ein Nationenkult um das mythische „Camba“, also die Einheit der Flachlandbezirke Boliviens.

Die Septemberereignisse. Am 8. September begann in Pando, Santa Cruz und anderen Städten der Ostregion eine Welle der Gewalt, die sich gegen öffentliche Einrichtungen der Zentralregierung, Medien, Infrastruktur richtete. Gleichzeitig wurden die Armenviertel von rechten Banden auf der Suche nach FührerInnen der sozialen Bewegungen durchkämmt. International bekannt wurde diese Gewaltwelle durch die brutale Ermordung von 50 BäuerInnen, die sich auf dem Weg in die Provinzhauptstadt der Region Pando befanden. Diese Bauern wurden in eine Falle gelockt und mit automatischen Waffen getötet. Die Täter sind nach Augenzeugenberichten Angestellte der lokalen Straßenmeisterei, die in den vergangenen Jahren von Gouverneur Leopoldo Fernández zu einer paramilitärischen Einheit ausgebildet und umfunktioniert wurden. Das Vordringen der rechten Opposition konnte durch Blockaden teilweise verhindert werden, am 12. September wurden die Ereignisse in einer Widerstandsresolution so geschildert: „Was in Bolivien passiert, speziell in Santa Cruz und anderen Regionen wie Tarija, Beni und Pando, ist eine Beleidigung nicht nur gegenüber dem Land, sondern gegen die ganze Welt, die schockiert die Bilder von Gruppen durchgedrehter Faschisten sieht, die von Gouverneuren und sogenannten Zivilkomitees, die Präsident Morales feindlich gesinnt sind, bezahlt und geleitet werden. Sie attackieren Frauen, alte Menschen und jeden, der ihnen im Weg steht. Und schlimmer noch, sie agieren völlig unbehelligt und straffrei in diesem Land, das, wenn es nach den Faschisten geht, ihres allein ist.“
Zu diesem Zeitpunkt gab es von den staatlichen Institutionen keinerlei Widerstand gegen den Aufstand. Die lokale Polizei stellte sich auf die Seite der Gouverneure, die Armee befand sich, wie der venezolanische Präsident Hugo Chavez es ausdrückte, „im Streik“. Chavez führte weiter aus, dass er Informationen besäße, dass der bolivianische Generalstabschef Luis Trigo an der Spitze dieser Verschwörung stehe; eine Aussage, die später von argentinischen Medien bestätigt wurde. Erst die Drohung, dass Venezuela einem Putsch nicht zuschauen würde, sondern auch militärisch zum Schutz der Regierung intervenieren würde, veranlasste die bolivianische Armee, ab dem 12. September zum Schutz von Leben und Eigentum auszurücken.

Der Anlass der Gewaltausbrüche.
Der unmittelbare Anlass der Gewaltausbrüche sind die Ergebnisse des Referendums zur Abwahl des Präsidenten;  67,41 Prozent der BolivianerInnen bestätigten den eingeschlagenen Kurs Morales’ abermals. Neben einem Erdrutschsieg in den Andenregionen konnte Morales auch in den von der Opposition kontrollierten Bundesstaaten eine Minderheit erobern und seinen Stimmanteil im Vergleich zur Präsidentenwahl vom Dezember 2005 deutlich erhöhen. In Pando erreichte Morales 52 Prozent Zustimmung, in Tarja unterlag er dem Oppositionskandidaten nur um 457 Stimmen. Auch in Santa Cruz, dem Herzland der Oligarchie, erreichte Morales trotz nachgewiesener Unregelmäßigkeiten 37 Prozent der WählerInnenstimmen.
Hinzu kommt, dass die amerikanische Botschaft in Bolivien ebenfalls nicht unwesentlich involviert gewesen ist. Die Regie stammt aus der Feder des States Departement, genauso der internationale Medienspin und die diplomatische Vorbereitung. Auch wenn die CIA-Archive erst in 30 Jahren geöffnet werden – die Indizienkette ist erdrückend. Der im Jahr 2007 in La Paz ernannte Botschafter Philip S. Goldberg ist kein Unbekannter. Der Spitzendiplomat war ab 1994 am Balkan im Dienst, zuerst in Bosnien-Herzegowina, zuletzt als Chef der amerikanischen Mission im Kosovo. Er gilt als Schlüsselfigur in der Entwicklung der UCK und der kosovarischen Unabhängigkeit. Goldberg gehört zum Netzwerk der Falkenfraktion der amerikanischen Außenpolitik und arbeitete seit Jahren mit deren führenden Köpfen Richard Holbrooke und John Negroponte zusammen. Als Direktor der Geheimdienste verstärkte und professionalisierte er die Tätigkeiten gegenüber Kuba, Venezuela und anderen Brandherden US-amerikanischer Außenpolitik. In diese Zeit fällt auch die Bestellung Goldbergs nach La Paz. Während man in den 80er Jahren auf brutale Militärs setzte, ist die Strategie heute eine differenziertere. Man setzt auf eine Strategie, die auch für eine Weltöffentlichkeit, die demokratie- und menschenrechtssensibel ist, genießbar ist. USAID, das Peace Volunteer Corps, Human Rights Watch und Reporters without Frontiers gehören zum zivilgesellschaftlichen Werkzeug dieser Politik. Zahlungen fließen über die der republikanischen Partei nahestehende NGO National Endowment for Democracy. USAID unterhält in Bolivien ein „Büro für Initiativen des Übergangs“, dessen Budget mit elf Millionen US-Dollar dotiert ist. Ziel dieses Büros ist die Beratung und Stärkung regionaler Staatsstrukturen. Wenige Tage vor Ausbruch der politisch motivierten Gewalt traf sich Goldberg mit den regionalen Gouverneuren zu Gesprächen. Diese Gespräche gingen auch nach Ausbruch der Gewalttaten weiter, was die Regierung schließlich veranlasste, ihn auszuweisen.   
Aus heutiger Sicht lässt sich sagen, dass die Gewaltwelle entfacht wurde, um ein Eingreifen des Militärs zu provozieren, was die Regierung delegitimieren sollte. Gleichzeitig veranstalteten die Gouverneure Demos, die zum Ende der Gewalt aufrufen. Während in Osteuropa pastellfarbene Bewegungen gepuscht wurden, hat man sich in Lateinamerika für die Farbe Weiß entschieden: Weiße Laken, weiße Hände und Gesichter – die Kräfte der Demokratie und Menschenrechte gegen sozialistisches Chaos sollen so sichtbar gemacht werden. Die Gasförderung wurde paralysiert, was die brasilianische Außenpolitik sofort auf den Plan rief: Bereits am 9. September wird der brasilianische Außenminister Celso Amorim in der Washington Post folgendermaßen zitiert: Man müsse, so Amorim, überprüfen, ob die nationale Integrität Boliviens haltbar sei, und sei bereit, diplomatische Kontakte mit regionalen Institutionen aufzunehmen, um die Gasversorgung Brasiliens sicherzustellen. Durch die Initiative der sozialen Bewegung konnten diese „Sorgen“ vorerst beseitigt werden. Morales kündigt nun einerseits an, die neue Verfassung rasch zur Volksabstimmung zu bringen, andererseits reicht er der rechten Opposition die Hand zu neuen Verhandlungen. Diese werden angesichts der diametral gegenüberstehenden Interessen wieder scheitern müssen. Soziale Bewegungen und Putschisten werden die kurze Ruhepause nützen, um ihre Kräfte in Stellung zu bringen.

Emanuel Tomaselli

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