Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
„Konkursreife“ Krankenkassen: zwischen Propaganda und Kostenwahrheit
Montag, 8. September 2008
Image Vor dem Sommer stand die vorhersehbare Pleite der Krankenkassen (geschätztes Defizit 2008: ca. 290 Mio Euro) noch im Zentrum der innenpolitischen Debatte – dann brach der Wahlkampf herein.

Damit rückten andere Themen in den Vordergrund: Die Aufrechterhaltung des Gesundheitswesens ist für das Sicherheitsbedürfnis der ÖsterreicherInnen offenbar weniger relevant als die Abwehr von AusländerInnen, die unserer Mehrheitssprache nicht mächtig sind.
KORSO hat die steirischen SpitzenkandidatInnen zur Nationalratswahl um eine Darstellung ihrer Sicht des Problems und um ihre Lösungsvorschläge gebeten. Zur Einstimmung zeichnen wir anhand konkreter Zahlen nach, woher die Finanznot der Krankenkassen wirklich stammt.
Die gute Nachricht vorweg: Das österreichische Gesundheitswesen müsste kein Finanzierungsproblem haben. Seine Kosten liegen nämlich seit 1997 bei knapp 9% des Bruttoinlandsproduktes. Die schlechte Nachricht: Da die Beiträge der Krankenversicherten an die Arbeitseinkommen gebunden sind, diese aber im Gegensatz zu Einkommen aus Kapital und Vermögen nicht steigen, bleiben die Einnahmen der Kassen hinter dem Bruttoinlandsprodukt und damit hinter der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung zurück. Sogar die Gesamteinnahmen der Kassen (also inklusive staatlicher Zuschüsse, Rezeptgebühren etc.) sind mit 42,9% zwischen 1997 und 2007 geringer gestiegen als das BIP. Da die Zahl der Versicherten und der Anspruchsberechtigten aber in diesem Zeitraum kräftig angewachsen ist, zahlte jede/r Versicherte 2007 durchschnittlich nur 25% mehr als 1997 – also um ca. 6 Prozentpunkte mehr als die Inflation in diesem Zeitraum betragen hat, aber deutlich weniger, als einer Orientierung am Wirtschaftswachstum entspräche, das nominell 46,3% betragen hat.

Nur die Medikamentenkosten explodieren wirklich. Die Ausgaben der Kassen pro Anspruchsberechtigtem sind zwischen 1997 und 2007 um ca. 30% angewachsen – also um 11 Prozentpunkte mehr als die Inflation, aber immer noch deutlich unter dem BIP. Ihre Gesamtausgaben sind 2007 wegen der gestiegenen Zahl an Anspruchsberechtigten und wegen zusätzlicher, von der Politik verordneter Ausgaben 50,1% höher als 1997.
Ein genauer Blick auf die Ausgabenstatistik bringt interessante Erkenntnisse: Die Heilmittel-Ausgaben sind pro Anspruchsberechtigtem/r während des genannten Jahrzehnts um ca. 70% gestiegen, jene für Ärztehonorare wesentlich bescheidener, nämlich um ca. 29% – deutlich geringer als das Bruttoinlandsprodukt und um 8 Prozentpunkte stärker als die Inflation. Jede Rede von explodierenden Ausgaben erweist sich im Licht dieser Tatsachen als schlicht  ideologisch motivierte Propaganda. Den Pharmakonzernen müsste allerdings jemand auf die Finger sehen: Satte Gewinne wie etwa jene der Lannacher Heilmittel (Gewinn 2006 laut Wirtschaftsblatt: 12,2 Mio Euro bei 50,8 Mio Euro Jahresumsatz) deuten in Verbindung mit den immens gestiegenen Heilmittel-Aufwänden der Kassen darauf hin, dass dieser Sektor Extraprofite auf Kosten der Beitragszahler erwirtschaftet.

Bürokratie wurde deutlich billiger. Der Verwaltungsaufwand, bei dem man angeblich noch einsparen könne, beträgt gerade mal 2,9% des Gesamtaufwandes – und ist pro Anspruchsberechtigtem von 42,9 Euro 1997 auf 43,6 Euro im Jahr 2007 gestiegen,  das sind 1,6%; angesichts einer kumulierten Inflation von 19% im genannten Zeitraum wurden die einschlägigen Kosten also real um mehr als 17% gesenkt. Und: Selbst wenn es noch möglich sein sollte, ohne Einschränkungen beim Service Einsparungen bei den Verwaltungsausgaben zu erzielen: In der Gesamtrechnung wären sie kaum bemerkbar. 

Neue Finanzierungsquellen. Die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben der Krankenkassen geht also wesentlich weniger auf überproportional wachsende Ausgaben als auf unterproportional steigende Einnahmen zurück. Das hängt wiederum damit zusammen, dass die Einnahmen von einem Bestandteil des Nationaleinkommens berechnet werden, dessen Anteil unter dem Druck neoliberaler Politik ständig sinkt: nämlich den Löhnen und Gehältern. Damit liegt auch die Lösung des Finanzierungsproblems klar auf der Hand: Die steigenden Anteile des Nationaleinkommens wie Kapitalerträge, Gewinne und Einkünfte aus Miete und Pacht müssten – wie dies etwa der Wiener Politologe Emmerich Tálos seit langem fordert – ebenfalls zur Finanzierung der Kranken- und der gesamten Sozialversicherung herangezogen werden. Und: Die anachronistische Höchstbemessungsgrundlage, die dazu führt, dass Bestverdiener prozentuell weniger Kranken- und Sozialversicherung zahlen als Bezieher mittlerer Einkommen, müsste ebenfalls fallen.
Private: 60% Prämiensteigerung. Dass all diese dringend notwendigen Maßnahmen von der Wirtschaftsseite und den mit ihr verbundenen Parteien offensiv bekämpft werden, kommentiert der Grazer Arzt und Experte für Gesundheitspolitik Dr. Rainer Possert mit einem einzigen Satz: „Das ,Kassendefizit wird bewusst herbeigeführt.“ Ziel sei die Privatisierung der Krankenversicherung, wie sie etwa der im EU-Auftrag konzeptiv tätige Salzburger Mediziner Felix Unger in einem Interview mit der Medical Tribune fordert. Unger wörtlich: „Unser Vorschlag: Die ganzen Versicherungen gehören auf Privatbasis umgestellt, und um die Versicherungen aufzufüttern, brauche ich das Steuergeld. Genau damit komme ich heraus, ich kann über einen Markt besser organisieren, ich kann schlagkräftiger organisieren, ich kann Wettbewerb einführen. Wettbewerb ist immer gut …“
Dabei fällt der Vergleich zwischen privaten und öffentlichen Versicherern bei weitem nicht zu Ungunsten letzterer aus. Laut FAZ vom 4. Mai 2007 haben die privaten Versicherer in Deutschland, wo das private Krankenversicherungswesen aufgrund einschlägiger gesetzlicher Bestimmungen weitaus entwickelter ist als in Österreich, ihre Prämien zwischen 1997 und 2007 im Schnitt um 60% für Männer und 50% für Frauen angehoben – doppelt so hoch wie die gesetzliche Krankenversicherung.
Christian Stenner

Die Zahlen aus diesem Beitrag, die z.T. eigenen Berechnungen zugrundegelegt wurden,  stammen von der Statistik Austria (BIP-Daten), dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger („Die österreichische Sozialversicherung in Zahlen“, 21. August 2008) und der WKO (Inflation).

» Keine Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.
» Kommentar schreiben
Nur registrierte Benutzer können Kommentare schreiben.
Bitte melden Sie sich an oder registrieren Sie sich.
 
< zurück   weiter >