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Clemens J. Setz: „Sommerfiguren“ (Auszug ) |
Montag, 7. Juli 2008 | |
Ab März 2008 veröffentlicht KORSO in jeder Ausgabe einen umfangreicheren literarischen Beitrag. Erstes Kapitel Herr Lierer wachte sehr früh auf und blickte in das schmale Gesicht eines Huhns. Er bewegte seine schweren Arme und Beine unter der Bettdecke, bis er genug Kraft beisammen hatte, um sich in seinem Bett aufzusetzen, dann schaute er sich schnell im Zimmer um, ob noch andere Tiere anwesend waren, von denen er wissen sollte, und stellte beruhigt fest, dass das Huhn das einzige war. Zischend atmete er aus. Er wollte schon die elektronische Glocke betätigen, damit jemand kam und ihm die Anwesenheit des Huhns erklärte, aber dann fiel ihm ein, dass es durchaus möglich war, dass er das Vieh im Fieberdelirium der letzten Nacht bestellt hatte. So wie letzte Woche, als er in einem Augenblick größter Verzweiflung und Atemnot nach dreizehn leeren Eimern verlangt hatte und Sarah, seiner Tochter, sogar eine Ohrfeige gegeben hatte, weil sie von ihm wissen wollte, wofür um Himmels Willen er mitten in der Nacht dreizehn leere Eimer benötigte. Er hatte so lange brüllend gekrächzt, bis alle seinem Wunsch entsprochen hatten. Und dann, als er mit den dreizehn Eimern allein war, wusste er nicht mehr, was er mit ihnen anfangen sollte, also steckte er sie ineinander, was nur sehr schwer ging, da es fast zylindrische Eimer waren, und stellte den fertigen Blechturm neben sein Bett. Das Gebilde strahlte eine große Ruhe aus und er fühlte er sich sicher und behütet. Aber trotz dieser Sicherheit hatte er in derselben Nacht einen entsetzlichen Traum über den geheimnisvollen Zusammenhang zwischen Grabsteinen und Leuchttürmen gehabt, der ihn noch tagelang beschäftigt hatte. Und nun dies: Mit äußerst vorsichtigen Schritten, als wollte es Herrn Lierer nicht aufwecken, stapfte das rötlich braune Huhn um seine Beine. Herr Lierer streckte eine Hand nach ihm aus und das Huhn besah sich seine Fingerspitzen mit einem wachen Auge. Dann kam es näher, sein Kopf zuckte dabei geschmeidig vor und zurück, und es kletterte auf seinen Schoß. Da Herrn Lierer nichts Besseres einfiel, begann er es zu streicheln. Es war warm und gab leise, nervöse Gurrlaute von sich. Er konnte sich an die letzte Nacht kaum erinnern. Seine beiden Töchter waren kurz da gewesen. Und dann hatte er seine Frau wegen irgendetwas angezischt. Genau. Wenn er das Huhn tatsächlich bestellt hatte, war die Tatsache, dass es jetzt da war, sehr erfreulich, denn das bedeutete, dass seine Befehle immer noch wahrgenommen und befolgt wurden. Wenn das Huhn aber durch reinen Zufall einen Weg in sein Schlafzimmer gefunden hatte, war das etwas anderes. Dann gab es irgendwo eine undichte Stelle in der Mauer zum Garten oder eines der Enkelkinder hatte sich einen Scherz erlaubt. Er überlegte, ob er etwas sagen sollte, wenn die anderen – wer immer an diesem Tag den Frühdienst übernommen hatte – gleich in sein Zimmer kommen würden. Wenn er sie fragte, was das Huhn hier zu suchen habe, würden sie ihn ohne Zweifel für verrückt halten, wenn er es wenige Stunden zuvor selbst bestellt hatte. Und wenn er es einfach ignorierte, so wie alle Dinge, die aus der Erfüllung eines seiner Wünsche resultierten, und das Huhn aber rein zufällig hier war, hielten sie ihn natürlich erst recht für verrückt. Er musste wohl oder übel pokern. Was ist wahrscheinlicher?, dachte er und seine Hand streichelte einen Flügel des ruhenden Huhns. Eine undichte Stelle in der Mauer oder ein Wunsch, von dem ich nichts mehr weiß? War es vielleicht möglich, beides auf einmal anzusprechen? Wenn er beispielsweise zu dem, der gleich in sein Zimmer kommen würde, etwas ganz Unverfängliches sagen würde, einen Satz, der so oder so ausgelegt werden konnte, wie etwa: Ist das nicht das schönste Tier, das du jemals gesehen hast? Er blickte nieder auf das Huhn, dem dieser Gedanke sehr zu gefallen schien. Die großen, schwarzen Vogelaugen zwinkerten. Herr Lierer machte einen tiefen Atemzug und fühlte, wie die kühle Morgenluft in seine Lungen strömte. Seine Nase aber blieb unerfrischt und fremd, ebenso sein Mund, der sich zu einem leeren, trockenen Gähnen verzerrte. Seit einem Jahr nun hatte er nicht mehr die Luft durch die Nase eingesogen. Er konnte es nicht mehr. Der Krebs hatte sich in seiner Kehle ausgebreitet, bis kein Platz mehr für durchströmende Luft geblieben war und die aggressive Strahlenbehandlung hatte das ihrige zur Zerstörung beigetragen. Eines Tages in der Bibliothek erlitt er einen entsetzlichen Erstickungsanfall und riss, als er mit hochrotem Kopf umfiel, einen Stapel aufflatternder Zeitschriften mit sich zu Boden. Noch im Krankenwagen wurde ein Luftröhrenschnitt vorgenommen und später, im Spital, ein Zugang gelegt, der von den Ärzten Stoma genannt wurde, was für Herrn Lierer wie der Name einer finsteren osteuropäischen Hauptstadt klang. In heiteren Momenten scherzte er, dass das wohl die Hauptstadt des Todes sein müsse. Er war jetzt fünfundvierzig, eine schöne Zahl, und dass er innerhalb der nächsten Monate sterben würde, hielt er für sehr wahrscheinlich. Er rauchte immer noch – weil es inzwischen ja egal war, wie jeder zugeben musste – und zwar tat er das durch den Atemzugang, der in seinem Hals angelegt worden war, genauer: durch die Innenkanüle, die aus einer seltsamen Laune medizinischer Terminologie heraus Seele genannt wird. Die Öffnung war gerade klein genug, dass man einen Zigarettenfilter hineinquetschen konnte. Die ersten drei vier morgendlichen Zigaretten, die man auf diese Weise rauchte, blieben immer abstrakt, aber dann, nach der fünften, hatte Herr Lierer die deutliche und sehr wohltuende Einbildung, er könne den Geschmack der Zigarettensorte noch irgendwie wahrnehmen. Manchmal leckte er sich dann mit der Zunge über die Lippen und war sehr glücklich. Seine Seele wurde jeden Morgen von seiner Ehefrau (in manchen Fällen auch von seinem Hausarzt) herausgenommen und im Waschbecken von Schleim, bräunlichen Zigarettenrückständen und anderen unappetitlichen Dingen gereinigt. Während der Seelenreinigung blieb er im Bett liegen und atmete vorsichtiger, obwohl es dazu gar keine Veranlassung gab. Das Stück Plastik unter seinem Adamsapfel zischte: ein, aus, ein, aus. Er war noch am Leben, er atmete. Anschließend wurde sein Hals mit der frisch geputzten Kanüle gefüttert und Herr Lierer machte sich an seine vorgeschriebene Morgengymnastik, die hauptsächlich aus hilflosen Flatterbewegungen bestand, welche ihn der Zimmerdecke keinen Millimeter näher brachten. Das Huhn auf seinem Schoß war inzwischen eingeschlafen. Vielleicht hielt es ihn ja für ein Nest und meditierte bereits über einem Ei. Trotz der zusätzlichen Seele, mit der er versorgt war, gewann sein Körper seiner Umwelt immer weniger Luft ab, weil Herr Lierer, wenn er sich aufregte, ständig seinen eigenen Speichel inhalierte. Erst seit kurzem ging es damit ein wenig besser, denn über dem Seeleneingang befand sich ein neuer, feinerer Filter; früher hatte er ein einfaches steriles Tuch verwendet. Ein Filter war unbedingt notwendig, allein schon aufgrund der Gefahr von Insekten, die in einem unbeobachteten Moment in seinen offenen Hals krabbeln konnten. Der Arzt hatte ihm damals von einem unglaublichen Fall erzählt, bei dem sich eine kleine Spinne in die Luftröhre eines Patienten verirrt und dort ein kompliziertes System sinnloser Netze entworfen hatte, in denen freilich nie etwas Essbares hängen geblieben war und so war das Tier irgendwann kläglich verhungert. Erst bei der Obduktion habe man die Ruinen der einsamen Spinnenstadt entdeckt und freigelegt. Diese Geschichte hatte Herrn Lierer zutiefst erschüttert. Er war für mehrere Minuten gelähmt auf dem Behandlungsstuhl gesessen und hatte in seine Handflächen geschluchzt. Aber das Leben mit dem Tracheostoma hielt auch seine kleinen, unerwarteten Triumphe für ihn bereit. Wenn er beispielsweise auf seine Frau beleidigt war, was relativ oft vorkam, verzichtete Herr Lierer für mehrere Tage einfach auf die Verwendung seiner Sprechkanüle, dann konnte sie ihn so lange um eine Antwort anbetteln wie sie wollte, er konnte ihr gar nichts mehr sagen, nur ein paar missmutige Kehlgeräusche kamen über seine Lippen – und streng genommen nicht einmal über diese. Das Hauptsignal in alltäglichen Gesprächen war dann ein leises Zungenschnalzen, dessen Bedeutung je nach Situation variieren konnte. Die meiste Zeit hieß es: Komm her! Wenn Herr Lierer beleidigt war, ging er schnaufend durch die Wohnung und schnalzte nach seiner Frau, die ihm mit einem kampfunfähigen Brummen antwortete. Es war fast so, als würden Autos miteinander kommunizieren, deren sinnloses Hupen sich in einem bestimmten Kontext in so unerwartet nuancierte Äußerungen wie Du hast mich geschnitten! Warum hast du mich geschnitten? oder Es ist wirklich nicht sehr nett von dir, diese Einfahrt zu verparken! verwandeln kann. Natürlich wurde ohne Sprechkanüle die Stille im Haus bisweilen unerträglich laut, als hätte jemand einen Lautsprecher bis zum Anschlag aufgedreht, bis dieses unangenehme statische Knisterrauschen ertönte, bei dem man ständig das Gefühl hatte, gleich fliege einem der ganze Kasten um die Ohren. Aber es war eine wirksame Technik, seine Frau in ihre Schranken zu weisen. Er selber, fand Herr Lierer, besaß so etwas wie Schranken längst nicht mehr, denn er würde ja bald sterben. Darüber machte er sich keine Illusionen. Und Todgeweihte brauchten, zumindest nach seinem Weltverständnis, so etwas wie Grenzen nicht mehr wahrnehmen, selbst dann nicht, wenn sie sehr versöhnlich gestimmt waren oder vor lauter Kraftlosigkeit nicht einmal mehr aggressiv atmen konnten. Er wusste: Nach allen Regeln der Kunst auszuufern, in körperlicher wie in geistiger Hinsicht, war das einzige Vergnügen, das ihm bis ganz zuletzt bleiben würde. Egal, wie schlimm es um ihn stand und wie kaputt sein Körper war, er konnte sich immer noch gehen lassen und die vielfältigen Reaktionen seiner Umwelt auskosten. Gerade als Herr Lierer die Sprechkanüle in seinen Hals führte, klopfte es an der Tür. Das Huhn öffnete die Augen und hob den Kopf. - Guten Morgen, sagte der Arzt, Dr. Wieser. Herr Lierer brachte keinen Ton heraus. Jetzt saß er wirklich in der Klemme, denn Dr. Wieser war ein Mann, dessen lange medizinische Laufbahn ihn darauf trainiert hatte, Gefühlen von Irritation niemals und unter gar keinen Umständen Ausdruck zu verleihen. Vor einer Woche war er eines Tages in der Früh zu Herrn Lierer gekommen und hatte ihn dabei angetroffen, wie er gerade versuchte, einen peinlichen braunen Fleck auf seinem Bettzeug unter einer halbdurchsichtigen Decke zu verbergen. Das ekelhafte Braun leuchtete allerdings immer wieder darunter hervor, also faltete er die durchsichtige Decke so oft, bis sie weiß und dicht war – währenddessen war Dr. Wieser mindestens zwei Minuten in der offenen Tür gestanden und hatte mit diskreter Neugier die Bemühungen des schwitzenden Herrn Lierer beobachtet. Keine Chance, dass Dr. Wieser etwas über das Huhn sagen würde. Es existierte für ihn genauso wenig wie Änderungen in der Zimmereinrichtung, Gemütsschwankungen seiner Patienten oder Tätowierungen an unerwarteten Körperstellen. Er war ein Profi. Und Herr Lierer hatte ihn dafür noch nie so sehr verabscheut wie in diesem Augenblick. - Aufrecht im Bett sitzend, in Erwartung des Doktors, sehr gut, sehr gut, sagte der Arzt und ging umständlicherweise einmal um das ganze Bett herum, um Herrn Lierer die Hand zu geben. Der Handschlag des Arztes war ohne Zweifel der eines Logenbruders, Herr Lierer spürte jedes Mal an denselben drei Stellen eine kurze Berührung durch eine Fingerspitze. Diese Tatsache war umso verwirrender, als Herr Lierer selbst Mitglied in verschiedenen höheren Kreisen war, aber ein solch komplizierter Handschlag war ihm noch nie untergekommen. Er fühlte sich beinahe musikalisch an, so schnell wie Dr. Wieser ihn ausführte. Herr Lierer hatte es bis jetzt immer vermieden Dr. Wieser darauf anzusprechen, aber heute, mit dem unerklärlichen Huhn auf dem Schoß, musste er irgendetwas sagen, wenn er nicht vor Peinlichkeit platzen wollte. - Was machen Sie da eigentlich immer? - Wie?, fragte Dr. Wieser, wusste aber offensichtlich ganz genau, was Herr Lierer meinte, denn er betrachtete seine eigene Handfläche mit naivem Gesichtsausdruck. - Dieser Handschlag. Ich meine, welcher – Welcher Grad?, wollte er fragen. Welcher geheime Grad oberhalb der ihm bekannten sieben Meistergrade konnte solch einen geradezu pianistischen Handschlag erfordern? - Ach das, sagte Dr. Wieser und streichelte mit der anderen Hand gedankenverloren über das glückliche Huhn auf Herrn Lierers Schoß. Akkupressurpunkte. Einfach damit sie wach bleiben, während ich bei Ihnen bin. - Akkupressur? - Die drei Konzentrationspunkte. Die bilden ein gleichschenkliges Dreieck. - Ein Dreieck... aber wofür... Herr Lierer blickte auf seine Handfläche. - Geben Sie her, ich zeig’s Ihnen, sagte Dr. Wieser und nahm Herrn Lierers dessen eigene Hand weg, als wäre sie ein von einem Kind falsch bedientes Spielzeug. Als wollte er seine Zukunft aus den Handlinien lesen, fuhr der Arzt langsam mit der Fingerspitze auf der alten, verschrumpelten Haut herum und blieb plötzlich irgendwo stehen. Er grub einen spitzen Fingernagel in die Stelle. - Da, sagte er. - Wo?, fragte Herr Lierer. - Fühlen Sie selbst. Dr. Wieser zeigte ihm die Stelle und Herr Lierer legte einen Finger darauf. Es fühlte sich nach rein gar nichts an. Glatter Betrug. Aber wenn der Arzt unbedingt daran glauben wollte, konnte ihm das im Grunde egal sein. - Fördert die Konzentration, wiederholte Dr. Wieser. - Wenn Sie das sagen, flüsterte Herr Lierer. Die Haut seiner Hand war wie Krepppapier. Jeden Moment konnte sie einreißen und alles, was sich mit den Jahren darunter angesammelt hatte, freigeben. Ein schrecklicher Gedanke. Herr Lierer spürte, wie sich seine Kanüle verstopfte und er versuchte, um sie zu reinigen, kräftig auszuatmen – der verkümmerte Rest von früheren Hustenattacken. Seltsam, er würde nie wieder im Leben husten oder sich beim Essen verschlucken können. Außerdem würde er nie wieder essen. Damit hatte er sich im Grunde schon seit einiger Zeit abgefunden. Er konnte ja noch kauen und schmecken, sagte er sich, nur schlucken durfte er nichts. Aber über die Hintertreppe der Unmöglichkeit zu husten und sich zu verschlucken (zwei an sich negative Körperfunktionen) kam nun auch wieder die ganze atemberaubende Trauer über den Verlust seines Mundes zurück. Ungeduldig bewegte Herr Lierer seine Knie unter der Bettdecke und das Huhn erhob sich. Er schob es vom Bett; leise gackernd landete es auf dem Fußboden. Dann trottete es unter den weißlackierten Schaukelstuhl und blieb dort unschlüssig stehen. Clemens J. Setz, geb. 1982 in Graz. Publikationen: „Söhne und Planeten“ (Roman, Residenz, Herbst 2007), „Die Frequenzen“ (Roman, Residenz, Frühjahr 2009). Übersetzungen: John Leake: „Der Mann aus dem Fegefeuer“ (2008). Auszeichnungen: Shortlist des akzente-Literaturpreises, Autorenprämie des BMUKK 2007, Staatsstipendium für Literatur 2008, Ernst-Willner-Preis 2008.
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