Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
„Demokratische Kräfte in der Türkei brauchen Solidarität der europäischen DemokratInnen“
Samstag, 5. Juli 2008
Am Rande der Veranstaltung „Türkei am Wendepunkt“ der Akademie Graz sprach KORSO-Herausgeber Christian Stenner mit dem Vortragenden Prof. Mithat Sancar über den EU-Beitrittsprozess aus türkischer Sicht.

Sie beschreiben das Projekt des EU-Beitritts der Türkei als ein „Impulsprojekt für die nachholende Modernisierung“ und orten zwei zentrale Hindernisse auf dem Weg der bisherigen Modernisierung.
Ja, das sind die Nationalitäten- und die Religionsfrage. Die Gründer der modernen Republik wollten eine einheitliche Nation bilden und das „Türkentum“ forcieren. Von diesem Vorhaben waren und sind die Kurden am meisten betroffen, daher haben sie sich dagegen immer wieder aufgelehnt.
Ebenso wurden die nicht muslimischen Minderheiten ausgeschlossen, wobei aber die Religion immer unter Kontrolle staatlicher Institutionen stand.
Seit ca. zwei Jahrzehnten sind diese beiden Bereiche in Bewegung. Die politischen Konsequenzen, die von Seiten der türkischen Regierung aus dem bewaffneten Kampf der Kurden gezogen wurden, haben das Modernisierungsprojekts der Türkei nachhaltig erschüttert.
Zweitens: Der sunnitische Islam ist in den letzten zwanzig Jahren weltweit ein politischer Faktor geworden. Diese Politisierung des Islam fand ihr Echo auch in der Türkei: Die religiös Gesinnten wollen ihre Autonomie vom Staat durchsetzen, bestimmte Verbote wie das Kopftuchverbot aufheben und die Rechtsvorschriften des sunnitischen Islam als bindend für das alltägliche Leben durchsetzen. So sind sie jetzt auch ein politischer Machtfaktor und damit auch eine Herausforderung für das Modernisierungsprojekt der Türkei.

Warum treibt gerade die als islamistisch betrachtete AKP den Prozess der Annäherung an die EU so voran?
Die Großunternehmer in Istanbul, die alten Herrschaften der türkischen Wirtschaft, sehen in der AKP eine Kraft für die Öffnung der türkischen Märkte zur Weltwirtschaft; deswegen unterstützen sie diese Partei, auch wenn sie sie manchmal kritisieren. Hauptunterstützer der AKP ist aber eine neue, aufstrebende Bourgeoisie, die aus Anatolien kommt, die nicht so urban ist wie die alte Bourgeoisie und mit einem Fuß sozusagen noch in der traditionellen Lebensart steht, aber gleichzeitig auch am Weltmarkt Fuß fassen will. Sie sind die eigentlichen Kernunterstützer der AKP und des Umbruchs.
Was die Landwirtschaft betrifft, sieht die Situation anders aus: Durch die Beschleunigung der wirtschaftlichen Modernisierung ist sie in eine Krise geraten, die Bauern wählen jetzt eher MHP oder CHP.

Ein EU-Beitritt würde die Rationalisierungsprozesse in der Landwirtschaft weiter beschleunigen …
Das sind wichtige Diskussionen, die aber ebenso wenig geführt werden wie jene über allgemeine wirtschaftliche Probleme oder über Armuts- und Klassenfragen, weil sie von anderen überlagert werden – etwa von der Kopftuchdiskussion oder von der Diskussion über das AKP-Verbot.
Dass die Politik der Symbole überhand nimmt und nicht die grundlegenden Fragen der Modernisierung diskutiert werden, hängt auch damit zusammen, dass es derzeit keine linke und liberale Kraft mit Masseneinfluss gibt. Es gibt aber Versuche, eine solche zu gründen, eine breitere Bewegung von den Sozialisten bis hin zu linken Sozialdemokraten.

Eine solche Bewegung würde sich positiv zum EU-Beitritt stellen?
Sicher, wir sind aus linker Perspektive für den EU-Beitritt, weil wir die EU nicht nur als Bund der Bourgeoisie, der Globalisierung, der Märkte sehen, sondern als ein breites Feld der sozialen Bewegungen, der gewerkschaftlichen Bestrebungen, der Solidarität.

Man hat den Eindruck, dass im Gegensatz zu den anderen Ländern, die der EU Bedingungen gestellt haben, bei der Türkei der Beitrittsprozess ein sehr einseitiger ist: Die EU stellt die Bedingungen und die Türkei bemüht sich, sie zu erfüllen.
Das ist richtig. Die Beziehung zwischen der EU und der Türkei hat eine gewisse Schieflage. Das hängt auch damit zusammen, dass die Gefahr eines Militärputschs und einer gewaltsamen Auseinandersetzung in der Türkei von vielen für so realistisch eingeschätzt wird, dass sie allein aus diesem Grund den EU-Beitritt befürworten.

Haben Sie den Eindruck, dass man sich auf EU-Seite über die Konsequenzen eines Nicht-Beitritts der Türkei bewusst ist, über die Gefahr, die ein Abgleiten der Türkei in ein autoritäres Regime für Europa bedeuten könnte?
Einige Gruppen schon, die Grünen und die Sozialisten erkennen die damit verbundenen Probleme. Ich finde es auch lächerlich, dass gerade die Konservativen, die sonst gar nicht so sehr an Fragen der Demokratie, der Frauen- und der Menschenrechte interessiert sind, immer wieder diese Fragen gegenüber der Türkei auf die Tagesordnung setzen. Die demokratischen Kräfte in der Türkei benötigen echte Solidarität von Menschen und Gruppen, die wirklich an Demokratie interessiert sind und sie nicht als Vorwand benützen.

Umgekehrt: Wie würde eine Volksabstimmung in der Türkei über den EU-Beitritt ausgehen?

Es muss keine Volksabstimmung stattfinden, nur das Parlament muss entscheiden. Aber die Ablehnung gegenüber der Türkei in vielen EU-Staaten hatte auch eine Enttäuschung in der Türkei zur Folge. 2002 lag die Zahl der EU-Befürworter zwischen 75 und 80 Prozent. 2006 ist ihr Anteil auf knapp 50% gesunken. Aber das kann sich drastisch und sehr rasch ändern, je nach der Entwicklung der Beziehung zur EU.

Mithat Sancar ist ordentlicher Professor für Rechtswissenschaften an der Universität Ankara, politischer Kolumnist und engagierter Vertreter multikulturellen Zusammenlebens. Einer seiner Schwerpunkte ist die Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungskultur in der Türkei.

» Keine Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.
» Kommentar schreiben
Nur registrierte Benutzer können Kommentare schreiben.
Bitte melden Sie sich an oder registrieren Sie sich.
 
< zurück   weiter >