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Doppelmoral oder: Das Becken und die antike Stadt |
Sonntag, 8. Juni 2008 | |
Als ich den Grazer Schloßberg zum ersten Mal erstieg, war ich beeindruckt von der Schönheit des Ortes, dessen erste Spuren bis ins 8. Jahrhundert vor Christus zurückreichen; der Winter neigte sich seinem Ende zu und die Bäume verliehen der Landschaft trotz ihrer Kahlheit einen besonderen Zauber. Wir stiegen die 120 Stufen hinab, die zwischen dem berühmten Uhrturm und den Wohnungen im Cerrini-Schlössel liegen, die für die Gäste der Stadt reserviert sind und wo ich meine Bleibe finden sollte; wir gelangten in den wunderschönen Garten, fanden die Knospen der Blumen noch nicht erblüht und kamen an die Türschwelle; das „World Heritage“-Zeichen der UNESCO auf der Eingangstür erfüllte mich mit Ehrfurcht: Ich hatte das Gefühl, einen Tempel zu betreten und ein Privileg zu genießen, das ich mir erst verdienen musste und dessen Gewicht mir in diesem Augenblick eine schwere Bürde schien. Wir betraten schließlich das Gebäude, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts für Karl Cerrini in diesem schönen Park hoch über der Stadt errichtet wurde, und man zeigte mir die zur Gänze renovierte Wohnung; das Highlight der Besichtigung waren nicht etwa der Arbeitsraum oder das Schlafzimmer, wie zu erwarten gewesen wäre; es war das Badezimmer: Neben der Dusche entdeckte ich einen alten Wasserhahn aus Messing, darunter befand sich ein hübsches, altes, steinernes ovales Becken; man erklärt mir in feierlichem Ton, dass es sich dabei um ein Objekt handelt, das von der UNESCO unter dem gleichen Titel wie der gesamte Schloßberg klassifiziert wurde, und dass ich darauf besonders aufpassen soll. Ein klassifiziertes Denkmal privat nutzen zu dürfen rief in mir gemischte Gefühle hervor: Zum einen Stolz, zum anderen aber auch Angst vor der Verantwortung, die da auf mich zukam. Ich untersuchte dieses Schmuckstück aus der Nähe: Es war einfach und wies Gebrauchsspuren auf und war dennoch von einer ergreifenden Schönheit, die es deutlich vom modernen Mobiliar des Badezimmers unterschied; ich empfand ein Gefühl des Stolzes, als Hüterin eines von der UNESCO klassifizierten Denkmals wirken zu dürfen, und mochte es noch so klein sein! Ich konnte die Bedeutsamkeit dieses Status umso mehr schätzen, als ich vor 20 Jahren als Journalistin zu den von der UNESCO in meinem eigenen Land, in Tunesien, zum Welterbe erklärten Denkmälern und Stätten gearbeitet habe – und so hatte ich schon eine gewisse Vorstellung davon, was mit dem Begriff „klassifizierte Stätte“ gemeint ist. Ein Bestreben, zwei Verhaltensweisen. Drei Monate später befinde ich mich in Tunis; ich mache eine Tour nach Karthago, um eine Kunstgalerie zu besichtigen, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Therme des Antonius Pius befindet, die zu den majestätischen Ruinen der alten punischen Stadt gehört, jenes Karthago, das ab dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert bis zu seinem Niedergang und seiner Zerstörung durch seine Rivalin Rom im ersten Jahrhundert vor Christus über das Mittelmeer herrschte. Auch heute hat Karthago noch immer nicht alle seine Geheimnisse preisgegeben, die mehrere Stockwerke tief unter der Erde liegen; die UNESCO hatte 1972 eine internationale Kampagne zur Rettung der Stadt ins Leben gerufen, in deren Folge es zur Entsendung zahlreicher Missionen kam, an welchen mehr als sechshundert Archäologen aus zehn verschiedenen Ländern teilnahmen, die zwischen 1973 und 1978 eine Anzahl von Grabungen unternahmen. Ihre Arbeit trug reichhaltige Früchte, wir schulden ihnen die Entdeckung mehrerer antiker Stätten wie des Hügels von Byrsa, der von der französischen, und der punischen Häfen, die von der britischen Mission ausgegraben wurden. Die gesamte Stätte Karthagos wurde 1979 in die UNESCO-Liste des Welterbes aufgenommen. Trotz der fruchtbaren Ergebnisse dieser von den internationalen Wissenschaftergruppen unternommenen Grabungen gibt es noch immer unerforschte Zonen, deren Gesamtfläche nahezu 600 Hektar beträgt. Dort sollte später ein den archäologischen Funden gewidmeter Nationalpark entstehen; der tunesische Staat bemühte sich also, die Stätte vor den Begehrlichkeiten der schleichenden Urbanisierung zu schützen – man darf nicht vergessen, dass die bewusste Region eine der schönsten im Golf von Tunis ist und auch der Präsidentenpalast dort steht – und erließ 1985 ein Dekret, das Sidi Bou Saïd, wo Karthago liegt, zur archäologischen Zone mit Bauverbot erklärte. Der dritte Artikel des Erlasses lautet: „Alle Arbeiten, Planungen und Bauten, die den Zustand der klassifizierten Stätte verändern, sind verboten.“ Das war ein schöner Sieg für all jene, die für die Erhaltung der antiken Stätte kämpften. Verschleudertes Erbe. Ich fahre durch die Zone von La Maalga und weiter, vorbei an den römischen Zisternen – und zu meiner Überraschung erblicke ich Bagger und Traktoren, die sich innerhalb des vom tunesischen Staat zur Non-aedificandi-Zone erklärten Gebiets zu schaffen machen. Diese Kriegsmaschinen lassen den nackten Boden zutage treten, sie haben dem geschützten Bereich auf einer Fläche von nahezu acht Hektar Gewalt angetan. Ich umrunde dieses weite Ruinenfeld bei Sidi Bou Saïd, um das Ausmaß der Katastrophe abzuschätzen, und entdecke ein Schild, auf dem steht: „Hannibal-Siedlung Karthago, Verkaufsbüro – alle Auskünfte unter Tel. 98 685 234/ 73 348 097“. Ich kann nicht glauben, dass der Raub an öffentlichem Gut so einfach vonstatten gehen kann. Das Bild des kleinen Beckens in Graz kommt mir in den Sinn, und mir wird bewusst, wie glücklich die ÖsterreicherInnen sind, in einem Rechtsstaat zu leben, wo das Gesetz respektiert wird und die Institutionen funktionieren! Wie konnte man ein solches Massaker erlauben? Ich erkundige mich und erfahre, dass durch ein Dekret, das vom Kultur- und Denkmalschutzministerium, vom Innenressort, vom Infrastruktur- und Wohnbauministerium und vom Ministerium für staatliche Liegenschaften und das Grunderbe in der Ausgabe des Amtsblatts vom 18. Februar 2008 veröffentlicht wurde, dieser Teil des Gebietes aus dem Welterbe herausgenommen wurde, um dort wieder Bautätigkeit zu ermöglichen; hierauf wurden diese acht Hektar Staatsbesitz um die bescheidene Summe von 60.000 Dinar1 (33.000,- Euro) einem Strohmann überlassen, der dem Schwager des Präsidenten Ben Ali2, Belhassen Trabelsi, nahesteht. In diesem Gebiet wird der Quadratmeter üblicherweise um mehr als 1500,- Euro verkauft, sofern man dort überhaupt ein Grundstück findet. So hat die Gier der Geschäftemacher, die den Mächtigen nahestehen, nicht einmal vor der UNESCO-klassifizierten Stätte Halt gemacht und der Staat hat geschütztes öffentliches Gut verschleudert; in rechtsstaatlich verfassten Ländern hätten die repräsentativen Institutionen reagiert und die Schuldigen wären bestraft worden; aber in Tunesien verkörpert eine einzige Person das Gesetz, den Staat und die Institutionen, Ben Ali! Und das Verbrechen wurde mit seiner Zustimmung begangen. Wer schweigt, macht sich zum Komplizen. Von Seiten der UNESCO, die von dieser Übertretung informiert wurde, gab es bis heute keine offizielle Reaktion, keine Maßnahme wurde eingeleitet, obwohl Tunesien das „Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturgutes der Welt“ unterzeichnet hat, worin festgehalten ist, dass „Teile des Kultur- und Naturgutes von außergewöhnlicher Bedeutung sind und daher als Bestandteil des Welterbes der ganzen Menschheit erhalten werden müssen“, und in dessen Artikel 6.3. es heißt: „Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, alle vorsätzlichen Maßnahmen zu unterlassen, die das in den Artikeln 1 und 2 bezeichnete, im Hoheitsgebiet anderer Vertragsstaaten befindliche Kultur- und Naturgut direkt oder indirekt schädigen könnten.“ Bis heute gibt es auch keine Reaktion von Seiten des Welterbe-Komitees, des Exekutivorgans, das mit der Umsetzung des Übereinkommens betraut ist. Vielleicht setzt auch diese UNO-Institution „volles Vertrauen in Herrn Ben Ali“, wie der französische Staatspräsident Sarkozy kürzlich anlässlich seines Staatsbesuches in Tunis vom 28. bis 30. April verkündet hat, nicht ohne hinzuzufügen: „Heute wird der Freiheit mehr Raum gelassen. Das sind ermutigende und begrüßenswerte Signale.“ Sarkozys Äußerungen fielen fünf Wochen, nachdem das UNO-Menschenrechtskomitee seine Schlussbeobachtungen veröffentlichte3, die es am 19. März anlässlich der Prüfung des Länderberichts über Tunesien angenommen hatte. Dabei sprach es eine ernste Warnung gegenüber den tunesischen Autoritäten aus, weil diese ihren internationalen Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte nicht nachkämen. Das Komitee erklärte, es sei „besorgt aufgrund seriöser und übereinstimmender Informationen, wonach Fälle von Folter und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung auf dem Gebiet des Vertragsstaates begangen werden […] Die Definition terroristischer Akte sollte nicht zu Interpretationen führen, die unter dem Vorwand terroristischer Akte Angriffe auf die legitime Ausübung der im UN-Menschenrechtspakt festgehaltenen Rechte erlauben […] Der Vertragsstaat sollte das Notwendige tun, um den direkten und indirekten Restriktionen der freien Meinungsäußerung ein Ende zu setzen […] Der Vertragsstaat sollte Maßnahmen setzen, um die Einschüchterungen und Belästigungen zu beenden, und die friedlichen Aktivitäten der Menschenrechtsorganisationen und aller Verteidiger der Menschenrechte respektieren und schützen.“ Dennoch verkauft Tunesien weiterhin das Ansichtskarten-Image eines modernen und demokratischen Landes. Aber zwischen dieser demokratischen Fassade und der realen Situation, die durch ein krasses Defizit bei den Bürgerrechten unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terrorismus charakterisiert ist, klafft ein tiefer Graben. Jede Form gewaltfreien Widerstandes wird kriminalisiert; die Justiz steht unter der Kontrolle der Geheimdienste und die Richter, die es wagen, ihre Arbeit zu tun, werden mit Sanktionen belegt. „Mit dem Lob, das er gegenüber dem Regime Ben Alis ausgesprochen hat, hat er [Sarkozy] den mutigen tunesischen Demokraten einen Bärendienst erwiesen“, schreibt der Leitartikler der Tageszeitung „Le Monde“4. In der Tat, was die Demokraten vor allem bekümmert, ist diese bedingungslose Unterstützung, die Europa – und an erster Stelle Frankreich – einem solchen despotischen Regime gegenüber an den Tag legt, welches das Land zu Schleuderpreisen verramscht, seine Wirtschaft schröpft und sein Erbe verschleudert. Hier die Wahrheit, dort der Irrtum: Die Europäer richten eine gefährliche Botschaft an die BürgerInnen des Südens, die von Verachtung zeugt. Sie lautet: Die Doppelmoral ist die Regel und die Araber sind nicht reif für die Demokratie. Das ist der Boden, auf dem Gewalt und extremistische Ideologien gedeihen. 1 Vgl. Bakchich.info: http://www.bakchich.info/article3558.html?var_recherche=visite%20de%20sarkozy%20%C3%A0%20Tunis 2 General Ben Ali gelangte im November 1987 im Zuge eines unblutigen Putschs an die Macht und regiert Tunesien nun seit mehr als 20 Jahren; bei den (gefälschten) Wahlen erzielt er Ergebnisse von 99,8%. Der nächste Urnengang wird 2009 stattfinden und Ben Ali wird wieder für seine eigene Nachfolge kandidieren. 3 UNO-Menschenrechtskomitee: Schlussbeobachtungen http://www2.ohchr.org/english/bodies/hrc/hrcs92.htm 4 Ausgabe vom 29. April 2008, http://www.lemonde.fr/afrique/article/2008/04/29/mauvaise-maniere_1039637_3212.html Übersetzung aus dem Französischen: Christian Stenner
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