Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Brasilien: Armut als Tourismus-Ziel
Sonntag, 8. Juni 2008
Rio de Janeiro: In keiner anderen Metropole der Welt ist Armut so sichtbar und wird so sichtbar gemacht.

Rio de Janeiro ist eine Metropole der Superlativen: Die Zwölf-Millionen-Menschen-Stadt rund um den Zuckerhut, der nicht nur Fußballstars wie Ronaldo, sondern auch Bestsellerautoren wie Paolo Coelho entwachsen sind, zieht jährlich über zwei Millionen Touristen an, die sich auch durch massive Warnungen vor Taschendieben und hohen Flug- und Hotelpreisen nicht davon abbringen lassen, auf den Spuren des „Girls from Impanema“ zu wandeln.

Freilich: Mit Auszeichnungen buchstäblich überhäufte Kinofilme wie „Tropa de Elite“ (Goldener Bär der Berlinale 2008) oder „Cidade de Deus“ (vierfach Oscar-nominiert 2004) prägen ein klares Bild der ehemaligen Hauptstadt Brasiliens: Gewalt, Drogenkriege, Folter – das sind keine Nomen, die gerne mit einer Touristenmetropole, die auf weltweit einzigartige Strände, eine überdimensionale Christus-Statue und den größten Karneval der Welt setzt, in Verbindung gebracht werden. Doch gerade die beiden genannten Filme sind zu authentisch, um einfach vergessen zu werden, wenn man am heruntergekommenen Flughafen Rios ankommt. Und die anschließende Taxifahrt zu den Touristenhotels an der Copacabana und Ipanema bestätigt auch bereits die cineastischen Voreindrücke: Entlang der Stadtautobahn vom Airport sieht man in alle Richtungen das Gleiche: die Favelas, die Zentren der Gewalt und der Armut. In ihnen wohnen Schätzungen zufolge zwischen einem Viertel und einem Drittel der Bewohner Rios, selbst liberale Reiseführer vergleichen sie mit „Krebsgeschwüren, die sich in Rio ausbreiten“, und sie offenbaren den Besuchern der Stadt gleich zum Auftakt ein Bild von Armut, wie sie sich in keiner vergleichbaren Metropole der Welt präsentiert.

Eigene Städte in der Stadt. Die Häuser der Favelas sind größtenteils einfache Ziegelhütten, teilweise aber auch simple Holz- oder Palmenbaracken. Dies ist freilich bereits ein infrastruktureller Fortschritt: Noch in den Siebzigerjahren, zu Zeiten der damals herrschenden Militärdiktatur, bestand ein Großteil der Favelas aus umgebauten Blechkanistern. Die Favelas im Jahr 2008 sind mehrheitlich quasi selbstorganisierte Städte in der Großstadt: Die offizielle Stadtverwaltung hat kaum Einfluss, sondern die Bosse der Drogenkartelle haben sich längst ihre Gebiete eingeteilt und herrschen über die Bevölkerung – sorgen aber gleichzeitig dafür, dass sich der Lebensstandard der Bewohner in den letzten Jahren ein wenig verbessert hat.
Frei von Armut sind hingegen weiterhin die Haupt-Touristenviertel: Hinter dem Ipanema-Strand (das zahlreich besungene „Girl from Ipanema“ gibt es übrigens wirklich, auch wenn die beschriebene Frau heute natürlich kein Girl, sondern längst erwachsen ist) findet man Rios Nobel-Gegend samt Pferderennbahn, gleich daneben liegt mit der Copacabana der berühmteste Strand der Welt, der in den brasi-lianischen Sommermonaten zu einer einzigartigen Showbühne wird: Die Strände Brasiliens sind nämlich verfassungsrechtlich vor Privatisierungen geschützt und daher im „Eigentum aller“ – und das heißt, dass der Tourismusverband von Rio de Janeiro damit werben kann, dass die Strände in Rio der einzige Ort sind, an dem es keinen Unterschied zwischen Arm und Reich gibt: Hier sind alle gleich.
Fast gleich, möchte man jedoch sagen. Denn hier zählt mehr als anderswo die Optik. Copacabana & Co. sind der Himmel auf Erden für körperbetonte Hedonistinnen und Hedonisten – und man muss auch gar nicht extra betonen, dass die Schönheitschirurgie zu jenen Branchen Brasiliens zählt, die am meisten boomen …

Fußball und Prostitution. Nichtsdestotrotz offenbart sich an den Stränden die Hauptfreizeitbeschäftigung der Brasilianer: der Fußball. Ohne Unterbrechungen wird im feinen Sand gekickt, von frühmorgens bis Mitternacht. In allen Altersgruppen – und auch aus Geschlechterperspektive gemischt: Burschen und Mädchen in einem Team sind hier eine Selbstverständlichkeit, genauso wie das beinahe klischeehaft anmutende Lächeln, das die sportlich gebauten brasilianischen Strandkicker beinahe unentwegt vor sich hertragen. Selbstverständlich werden freie, halbwegs gerade Flächen in den Favelas auch nur für den offensichtlich einzigen Sport Brasiliens genützt – wer die Begeisterung der jungen Menschen bei ihrer Jagd nach dem Ball sieht, versteht plötzlich, welche Lebensgeschichte hinter Weltklassefußballern wie Ronaldo oder Ronaldinho steht, die im Übrigen beide sehr viel ihres jetzt verdienten Geldes in Sozialprojekte in ihrer Heimat stecken.

Auch an den Touristenstränden wird allerorts vor Kriminalität gewarnt: Kinderbanden gelten als gefürchtet, die einer Horde gleich den Beach stürmen und alles mitnehmen, was sie aufschnappen können. Von Taschendiebstählen ganz zu schweigen. Viele dieser Geschichten spiegeln jedoch nicht ganz die Realität wieder – stattdessen werden den Touristen von unzähligen Einheimischen unnötige Souvenirs, diverse Lebensmittel oder verschiedene Dienste unterschiedlicher Art direkt an der Straße oder am Strand angeboten – vom Schuheputzen bis zur Prostitution. Letztere hat im Übrigen in Brasilien keinen schlechten Ruf: Prostituierte gilt als normaler Beruf und auch zu einer Prostituierten zu gehen sorgt nicht für skeptische Blicke. Aus dieser Sicht ist es auch nicht verwunderlich, dass der unlängst bekannt gewordene Besuch Ronaldos bei drei Prostituierten in Europa als Skandal galt – in seiner Heimat hingegen kaum, denn Rio ist stolz darauf, angeblich jene Stadt der Welt zu sein, in denen es die größte Dichte an Stundenhotels gibt.

Favela-Tourismus. Seit Beginn dieses Jahrtausends versucht Rios Bürgermeister César Maia von der Partido da Frente Liberal (PFL) konkrete Schritte zu setzen, um die Armut – zumindest ansatzweise – in den Griff zu bekommen. Bis 2010, so lautet das Ziel, sollen die Favelas an das Strom-, Kanalisations- und Wassernetz angeschlossen sein. Und: Man versucht die Favelas auch den Touristen und Besuchern der Stadt näherzubringen – und bietet seit kurzem „guided tours“ in (ausgewählte) Armenviertel an.
Rio-Besucher stehen damit plötzlich vor einer schwierigen moralischen Entscheidung: kommerzielle Streifzüge durch die Schattenseiten des Lebens, Unterstützung mafioser Strukturen (denn ein Gutteil des Geldes für die Touren fließt als Schutzgeld direkt an die Bosse der Viertel), Sozial-Voyeurismus der übelsten Art – oder doch ein Weg, Armengegenden als etwas Existierendes und nicht Abschreckendes zu sehen, als Teil der bitteren Realität jeder Großstadt. Eine Realität, die freilich auch eine eigene Subkultur geworden ist – eine Undergroundszene mit eigenen neuen Musikstilen und neuer Kunst. Leben in Favelas ist „the real life“ – sollen Stadt-Besucher davor die Augen verschließen (müssen)?
„Nach unserem Ausflug werdet ihr die brasilianische Gesellschaft viel besser verstehen“ steht auf den Flyern, die Werbung für die Favela-Tours machen. Umgerechnet nicht einmal 30 Euro kostet ein solcher „Trip“ – eine durchschnittliche Favela-Familie, die voller Hoffnung auf Arbeit und Lebensqualität meistens aus den tiefen Landesteilen Brasiliens „eingewandert“ ist, hat keine 200 Euro Monatseinkommen. Wer sich per Touristenbus in die Armenviertel begibt, kann sicher sein, dass ihm nichts passiert – im Rahmen solcher Touren wurde bis heute noch kein einziger Bus überfallen. Die einzige potenzielle Gefahr sei, in eine überraschende Schießerei zwischen Polizei und Drogenbanden zu kommen. Und diese finden regelmäßig statt. Immer wieder startet die brasilianische Polizei Schwerpunktaktionen, bei denen sie leider nicht dafür garantieren kann, dass „nur“ die gesuchten Ober-Drogenbosse in den Kugelhagel kommen. Zuletzt im April starb etwa eine unschuldige 90-jährige Brasilianerin bei einem solchen Polizeieinsatz. Im heurigen Halbjahr sind es bald hundert Menschen, die dem „Krieg“ zwischen Polizei und Drogenbanden zum Opfer gefallen sind.

Die Polizei, dein Freund und Helfer. Apropos Polizei: Zum Schutz der Touristen hat Rio de Janeiro nun eine eigene Tourismus-Polizeieinheit installiert. Sie patrouilliert an den Stränden von Copacabana und Ipanema mit Maschinenpistolen in den Badehosen – hundertprozentig verlassen sollte man sich jedoch nicht auf deren Einsatzfreudigkeit, da die Strand-Polizisten chronisch unterbezahlt sind und jeder von ihnen noch einen Zweit- und manchmal sogar Dritt-Job haben muss, um seine Familie ernähren zu können.

Rio de Janeiro bietet mehr. Egal, wie man sich nun als Besucher Rio de Janeiros entscheidet: Auch wenn man sich nicht auf Touri-Tour durch die Favelas begibt, bleibt bei einem Rio-Aufenthalt ein Kontakt mit dem Thema Armut, dem man nicht entgehen kann. Wie intensiv dieser Kontakt ist, muss schlussendlich jeder für sich selbst entscheiden. Unabhängig davon bleiben von der Metropole unvergessliche Eindrücke zurück – zum Beispiel jener von den unglaublich fröhlichen und freundlichen Einwohnern der Stadt. Und nur die bösesten Zungen behaupten, dass der Grund dafür am äußerst billigen Lieblingsgetränk der Brasilianer, den Caipirinhas, liegt.
Zu erleben, dass Rio de Janeiro mehr ist als bunter Karneval, Samba-Nächte, die Christusstatute und Sandstrände – das macht die Stadt eine Reise wert.
Bernd Hadler
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