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60 Jahre Volksbildungsheim Schloss Retzhof
Sonntag, 10. Februar 2008
Das Volksbildungsheim Schloss Retzhof in der Südsteiermark feiert in diesem Jahr sein 60-jähriges Bestehen. Aus diesem feierlichen Anlass widmet KORSO der bewegten Geschichte und den zentralen Akteuren der Institution, die im Laufe der Jahrzehnte zu einem nicht mehr wegdenkbaren Bestandteil der steirischen Bildungslandschaft gewachsen ist, ein ausführliches Porträt. Die zweiteilige Serie berichtet in ihrem ersten Teil über die Entwicklung der Einrichtung vom Fortbildungsheim für Lehrlinge in der unmittelbaren Nachkriegszeit hin zur modernen Bildungsinstitution der Gegenwart.


Geschichtsträchtige Gemäuer. Rund drei Kilometer östlich der Bezirkssatdt Leibnitz liegt das Schloss Retzhof: Bereits in antiker Zeit war dieser alte Kulturraum dicht besiedelt, worüber auch die nahen historischen Überreste der bedeutenden römischen Provinzmetropole Flavia Solva Auskunft geben.
Die erste urkundliche Erwähnung des Hofes stammt aus dem Jahr 1318, während die Namensgebung auf die Ministerialen Michael und Balthasar Retzer zurückzuführen ist. Das Lehen ging später vom Erzbistum Salzburg auf das Bistum Seckau über. Anfang des 17. Jahrhunderts verlieh der neue Besitzer Bischof Martin Brenner dem Schloss durch den großzügigen Ausbau zu einer vierflügeligen symmetrischen Anlage im Renaissancestil seine heutige Grundgestalt.
Nach weiteren Besitzerwechseln erfolgte unter den Herbersteinern und der Familie Trauttmansdorf im 18. Jahrhundert die weitere bauliche Ausgestaltung des Schlossgebäudes. In der NS-Zeit wurde das Haus während des 2. Weltkrieges für staatliche Schulungszwecke beschlagnahmt und ging im Jahr 1945 wieder für kurze Zeit in private Hände über.
Bildungshaus für gewerbliche Lehrlinge. In Anlehnung an das Wirken des Volksbildners Josef Steinberger, der in Schloss St. Martin eine Bildungsanstalt für die bäuerliche Bevölkerung einrichtete, wurde von Seiten der steirischen Landesregierung die Etablierung einer ähnlichen Institution für die Arbeiterjugend ins Auge gefasst. Zu diesem Zweck wurde 1948 das Schloss Retzhof für 350.000 Schilling vom Land angekauft um dort ein „Volksbildungsheim für die kaufmännische und gewerbliche Jugend“ unterzubringen. Dessen Aufgabe sollte es laut seinen Statuten sein, „die Lücken zwischen den Unterrichtsergebnissen der Berufschulen und den Anforderungen des praktischen Lebens“ möglichst zu schließen. Die Anfangsjahre waren von Geldmangel und teils noch desolatem Gebäudezustand geprägt. Der erste Leiter, DI Oskar Dlabik, sah es als seine Aufgabe vor allem „im Schaffen von sozialen Bindungen und der Bereitstellung von Lebenshilfe“ die jungen Menschen auf ihren weiteren Lebensweg vorzubereiten. Daraus resultierten „persönliche Begegnungen, die noch lange nachhielten“ sowie ein intensiver Kontakt zu den Arbeitgebern der Lehrlinge.

Lebensgestaltung und Lernen von Demokratie. Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss dürfte neben allen anderen Beweggründen der Gedanke der „Re-Education“, also der erzieherischen Beseitigung von NS-Ideologie in den Köpfen der jungen Menschen, gespielt haben. Das war insbesondere für den nächsten Leiter DI Hubert Lendl ein wichtiger Punkt, weil „eine große Ratlosigkeit hinsichtlich der Ablösung vom nationalsozialistischen Gedankengut sowie eine allgemeine Orientierungslosigkeit deutlich zu spüren war“. Daher wurde großer Wert auf die Schwerpunkte Sinngebung und gesellschaftspolitische Bildung gelegt. Aufgrund ihrer Ausbildung wurden maximal einwöchige Kurse abgehalten, in welchen ein entsprechend intensives, aber auch möglichst abwechslungsreiches Programm geboten werden sollte: Wanderungen, Musikabende, Gespräche, Ausstellungen und Lesungen verfolgten das Bestreben, die Kurse zu nachhaltigen Erlebnissen zu machen. Lendl formulierte 1953 eine „Grundsatzplanung für die Lehrgangsarbeit“ anhand seiner Erfahrungen über die zukünftige Bildungstätigkeit. Die fünfziger Jahre waren von „Lehrlingswochen“ geprägt, die straff nach diesen Grundsätzen organisiert wurden. Aus den Teilnehmern formierte sich im Laufe der Zeit der „Retzhofer Kreis“, dessen Mitglieder dem Haus auch später freundschaftlich verbunden blieben.

Hinwendung zur Erwachsenenbildung. In den darauf folgenden Jahren beschleunigte sich die gesellschaftliche Entwicklung jedoch zunehmend: In den späten fünfziger Jahren hatte der soziale Wandel der Nachkriegszeit auch in den ländlichen Regionen der Steiermark bereits sehr deutliche Züge angenommen, denn die Zahl der traditionellen Dorfhandwerker und -kaufleute ging kontinuierlich zurück. Angesichts dieser Situation beschloss der Landtag am 30. November 1964, dass sich der Retzhof fortan dem Zweck der reinen Erwachsenenbildung bilden solle. In Form von Seminaren, Kursen und Tagungen sollten Menschen aus allen Altersgruppen befähigt werden, im Sinne der außerberuflichen Weiterbildung „ihr Leben besser zu gestalten und zugleich negative Verhaltensweisen zu korrigieren“.

Gesellschaftlicher Wandel und Aufbruch. Ab Mitte der sechziger Jahre verlagerten sich die Schwerpunkte in der Bildungsarbeit weiter in innovative Bahnen: Mit dem neuen Leiter Dr. Dieter Cwienk entfaltete sich mit großem Elan eine verstärkte Hinwendung zu gesellschaftlichem Engagement. Er griff bildungs- und gesellschaftspolitische Themen auf, die wie Schulreform, politische Bildung und Fragen der Zeitgeschichte bis heute ihre Aktualität bewahrt haben. Experten von den Universitäten wurden an den Retzhof geholt, um gemeinsam „über Veränderungen nachzudenken und sich von den Fesseln ungeliebter Traditionen zu befreien“. In den aufmüpfigen Jahren rund um 1968 kam es daher selbstverständlich auch immer wieder zu Konflikten mit jenen politischen und gesellschaftlichen Kräften, die beharrlich am Bewährten festhalten wollten. Die Diskussionen über die brennenden Themen wurden auch zunehmend durch die Medien wie Zeitungen und Rundfunk an die Öffentlichkeit getragen und lösten einen Widerhall in der Gesellschaft aus.
Versuchsstation für Bildung, Kunst und Kultur. In den späten sechziger Jahren setzte in Österreich auf dem ganzen Bildungssektor eine rege Experimentiertätigkeit ein. Auch der Retzhof wendete sich nun verstärkt auch an Studenten, Arbeitnehmer, kritische Nachwuchspolitiker, Künstler und Wissenschafter. Diese waren in erster Linie an einen bewussteren Umgang mit Kunst, Wissenschaft und Gesellschaftspolitik interessiert, wie Cwienk später beschreibt: „Die Programme atmeten die Sehnsucht nach mehr Partizipation und Autonomie, … eine politische Aufbruchstimmung prägte die Denkmuster.“
Die Creme de la Creme von Vertretern der österreichischen Kunstszene aus der Literatur, dem Theater, der bildenden Kunst und der Musik waren in diesen Jahren regelmäßige Gäste, lebten und arbeiteten am Retzhof. Dabei übten sie mit ihren Werken einen maßgeblichen Einfluss auf das kulturelle Klima weit über die Grenzen der Region hinweg aus: Vorlesungen, Ausstellungen und auch experimentelle Formen moderner Kunst und des Aktionismus wurden zu einem fixen Bestandteil im Veranstaltungskalender des Volksbildungsheimes Retzhof, sodass alle steirischen Künstler zumindest einmal im Verlauf ihrer Karriere dort vertreten waren.

Überparteilicher Treffpunkt. Da es in der Steiermark zu jener Zeit nur wenige Institutionen gab, die ein solches Spektrum an Möglichkeiten boten, frequentierte auch eine ansehnliche Reihe von Politikern und Vertretern der Wirtschaft die Bildungseinrichtung Retzhof, um eine Weiterbildungs- bzw. Diskussionsplattform für ihre Ideen zu finden. Dabei spielte die Parteizugehörigkeit eine untergeordnete Rolle: Neben dem jungen Wolfgang Schüssel, dem späteren Kulturstadtrat Helmut Strobl, Josef Krainer jr. und Hanns Koren kamen auch Heinz Fischer, der heutige Wiener Bürgermeister Michael Häupl sowie Sozialstadträtin Renate Brauner an den Retzhof, um eine mitunter recht intensive politische Diskussionskultur zu pflegen.
In den späten siebziger Jahren prägte Dr. Wolfried Filek-Wittinghausen unter Mitwirkung von Dr. Markus Jaroschka, der später über zehn Jahre lang als pädagogischer Leiter des Retzhofs fungierte, das Programm am Retzhof. Der Schwerpunkt Gesellschaft – Wissenschaft nahm dabei einen wichtigen Raum ein, insbesondere die Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens sowie die Rolle von Macht und deren problematische Konsequenzen: Namhafte Persönlichkeiten wie Erwin Ringel, Max Halhuber, Lew Kopelew, Stephan Hermlin und Eva Senghaaas-Knobloch reisten aus Nah und Fern an und referierten ihre Theorien und Positionen, die unter den Zuhörern mitunter für lebendigen Diskussionsstoff sorgten.
Eine zentrale Rolle spielte seit diesen Tagen die Publikationstätigkeit des Bildungshauses: Im Herbst 1979 wurde mit der Herausgabe von Periodika begonnen, nachdem schon Cwienk als Herausgeber der „Retzhof-Schriften zur Politischen Bildung“ publizistisch tätig gewesen war. „Retzhof-Schriften zur Lebensgestaltung“ und 1980 „Retzhof-Schriften: Gesellschaft-Wissenschaft“ lauteten die Titel. Literarische Bildung als Schwerpunkt beinhaltete die Literaturzeitschrift „Lichtungen“, die sich vor allem der Aufgabe widmete, an vergessene Schriftsteller zu erinnern sowie jungen Autoren eine erste Veröffentlichung zu ermöglichen.

„Der Internationalität verpflichtet“. Eine zunehmend wichtige Rolle spielten bereits seit den sechziger Jahren die internationalen Dimensionen der Bildungsarbeit, deren Maxime der Pädagoge Max Wratschgo in dem Diktum „der Internationalität verpflichtet“ niedergelegt hatte. Über den Europäischen Erzieherbund haben schon lange Jahre vor dem Ende des Kalten Krieges rege Kontakte und Austauschprogramme mit Pädagogen aus Albanien, Bulgarien, Polen, Ungarn, Rumänien der Tschechoslowakei und Jugoslawien bestanden. Aber auch weit darüber hinaus gab es interessante Berührungspunkte: Kongolesische Studenten, die als erste Afrikaner in Graz studierten, waren 1963 ebenfalls im Retzhof zu Gast.
Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs haben sich insbesondere die Kontakte zu den Nachbarregionen im Osten und Südosten Europas wieder stark belebt. Dabei wird in einem neuen Selbstverständnis als „Bildungshaus an der Grenze“ seit den frühen neunziger Jahren v.a dem kulturellen Austausch mit Slowenien wie auch dem übrigen Alpe-Adria-Raum eine sehr wichtige Rolle zugeordnet.

Josef Schiffer

Fortsetzung in der nächsten Ausgabe

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