Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
ÜBER DAS EIS - Fast ein Roadmovie
Mittwoch, 12. Dezember 2007
„How far are y‘all going?"
Ruby asked us with a sigh.

„We‘re going all the way‚
til the wheels fall off and burn,

‚Til the sun peels the paint and the seat covers fade

And the water moccasin dies."

 

aus „Brownsville Girl" von Bob Dylan und Sam Shepard, 1986

Es hatte über Nacht zu schneien begonnen. Alles war ruhig. Ich musste wohl am Tisch eingeschlafen sein. Als ich die Augen aufschlug, war ich völlig zugeschneit. Ich schüttelte mich, um meinen Kopf vom Schnee zu befreien. Es schneite noch immer. Ich war in meiner Küche eingeschneit. Sie haben schon richtig gelesen. Der Wind musste das Hausdach abgetragen haben. Und die Zimmerdecke. Aber jetzt war es ruhig. Zuerst dachte ich, es sei die Morgendämmerung, die die Schneekristalle aufblitzen ließ. Aber es war das Weiß des Schnees selber, das einen magischen Glanz ausstrahlte. Ich musste lächeln. Der Nusskuchen, die angebrochene Flasche Wein, das Buch von Peter Handke, in dem ich gestern Abend noch gelesen: Alles war zugeschneit und ragte aus dieser weißgrauen Landschaft wie etwas, das seine Pflicht getan und nun Winterschlaf halten durfte. Eine verwunschene, gottverlassene Landschaft.

 

Ich war müde. Aber ich zwang mich, wach zu bleiben. Ich wischte mir nur den Schnee aus dem Gesicht und von den Schultern. Dann kramte ich in meiner Jackentasche nach der Schachtel Zigaretten und zündete mir eine an. Ich machte einen tiefen Zug. Eingehüllt von Rauch und Schnee, überlegte ich mir, ob ich mir einen Tee machen sollte, oder doch einen Kaffee. Ich entschied mich dafür, vorerst sitzen zu bleiben. Mir war auch nicht kalt.

 

Ich versuchte, mich zu erinnern, was ich gestern Abend gemacht hatte. Es war zwar durch nichts ersichtlich, dass ich Besuch gehabt haben könnte, aber ich war mir andererseits auch sicher, den Abend nicht allein verbracht zu haben. Außerdem war es merkwürdig, dass der Wind nur das Hausdach und die Zimmerdecke abgetragen hatte. Jedoch konnte ich nirgendwo Ziegel oder Dachbalken entdecken. Ich war auch nicht verletzt. Die Küchenwände waren in keiner Weise in Mitleidenschaft gezogen. Ja, schneebedeckt waren auch sie. Aber der Schnee bedeckte sie so zart und wie drapiert, dass ich das Frühstück auf jeden Fall hinausschieben wollte, um nur ja nichts von dieser weißen, unberührten Pracht zu zerstören.

 

Ich überlegte, wen ich anrufen und zum Frühstück einladen könnte. Vielleicht jemanden, der mir sagen würde können, was es mit dem gestrigen Abend für eine Bewandtnis gehabt hatte. Vielleicht hatte ich den Abend auch gar nicht zu Hause verbracht, sondern war erst spät nach Hause gekommen. Möglicherweise in trunkenem Zustand, was ja öfter vorkam. Das wäre vielleicht auch eine Erklärung für den Zustand der Küche. Blödsinn. Ich versuchte krampfhaft, irgendeinen roten Faden zu ergattern. Vielleicht war es so: Ich hatte wegen des Sturmes die Abkürzung über den See genommen und war halb erfroren in mein Haus, das ja eher ein Gartenhaus war, geflüchtet. Dabei hatte ich vergessen, die Haustüre hinter mir zu schließen, sodass der Wind die Möglichkeit hatte, in meine Küche, die freilich auch Schlafzimmer, Wohnraum und so weiter war, einzudringen. Hier konnte er sich zu einem Wirbelwind entfalten, weil vielleicht versehentlich die Haustür ins Schloss gefallen war, und im Kreisen hatte er an Geschwindigkeit zugelegt, dass man wahrscheinlich fast schon von einem Tornado hätte sprechen können. Tornado Michael, nach dem Erzengel, der da mit dem Feuer und dem Schwerte, oder hatten die nicht immer Frauennamen?, jedenfalls entwickelte er eine Kraft, dass er irgendwann mit der Zimmerdecke und dem Dachstuhl des Hauses abhob und sich so aus der Enge meiner kleinen Welt befreite.

 

Ich war beruhigt. Das könnte es gewesen sein. Und zugleich war ich überrascht, dass ich diese Situation als gegeben hingenommen hatte. Wahrscheinlicher aber war, dass ich nach Hause gekommen und von all dem gar nichts mitgekriegt hatte. Eingeschneit aufzuwachen war mir immerhin bis heute noch nie passiert. Andererseits passierten in meinem Leben, seitdem ich zurückdenken kann, immer schon merkwürdige Dinge. Meist war zwar ich dafür verantwortlich, wie sich herausstellte. Aber manchmal hätte man schon an übernatürliche Kräfte glauben können.

 

Ich glaubte nicht an solchen Schmonzes. Obwohl: als ich mich zurücklehnte und wieder genüsslich einen Zug von der Zigarette nahm, bemerkte ich, dass die Zigarette überhaupt nicht verraucht war. Hatte ich mir eine neue angezündet? Nein. Es war auch nicht heller geworden draußen. Und es schneite nach wie vor. Auch war ich nur mit einem T-Shirt und einer leichten Jacke bekleidet. Meinen Mantel hatte ich also nach dem Nach-Hause-Kommen ausgezogen. Ich wischte mir wieder die Schneeflocken aus dem Gesicht. Nein, ich war nicht betrunken. Ich sah weder doppelt noch stammelte ich, als ich zu mir selber sprach: „Hallo Ernst, Du bist aber heute wieder drüber oder was?!" Ich klopfte mir selbst auf die Schulter. Alles war, wie es immer war. Nur zugeschneit. Eine stille winterliche Klarheit. Nix daran war übernatürlich.

 

Wie hatte ich mich immer nach Ruhe gesehnt. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Ein wohliges Gefühl der Wärme durchflutete meinen Körper. Ich entschied mich dafür, meinen Zustand nicht mehr in Frage zu stellen. Ich ließ ihn gelten. Und ich ließ mich zu. Ich fragte nicht mehr, was an mir ICH war, und was an mir ich erdichtet, erfunden haben könnte. Ich stellte mich nicht mehr in Frage. Und es stellte sich auch nicht mehr die Frage nach Wahrhaftigkeit.

 

Ich erinnerte mich an eine Begebenheit vor 35 Jahren. Wie jedes Jahr seit meinem fünfzehnten Lebensjahr verbrachte ich die Sommerferien damit, als Tramper durch Europa zu reisen. Dieses Mal sollte mich meine Reise nach Skandinavien führen. Genau genommen wollte ich quer durch Deutschland und Dänemark nach Schweden und Norwegen. Mein Ziel war Spitsbergen. Fragen Sie mich nicht, warum gerade Spitsbergen. Ich kannte Spitsbergen nur von einem älteren Reiseprospekt. Ich hatte keine Ahnung, was mich dort erwarten würde. Auch nicht, wie ich das dort mit dem Übernachten regeln würde. Obwohl, darüber machte ich mir die geringsten Sorgen. Von April bis Ende August ging dort die Sonne nicht unter. Also weshalb über ein Nachtquartier nachdenken?

 

Wie immer auf diesen Reisen hatte ich ein kleines Reisebudget, das ich von Großmutter und der übrigen Verwandtschaft meiner Mutter zusammengeschnorrt hatte. Bei der Familie meines Vaters war ich nicht sonderlich beliebt. Das war so die Abteilung Mittelschulprofessoren, Aufsichtsräte, Bezirksjägermeister, Alpenverein, mit deren geschraubten Ansprüchen ans Leben ich nichts anfangen konnte. Außerdem befanden sie, etwas Besseres zu sein als der normale, durchschnittliche Mitbürger. Wenn sie mit einem ihrer Nachbarn sprachen, hatte ich immer das Gefühl, als würden sie von oben nach unten sprechen. Und es war nicht nur der geneigte Kopf, der diesen Eindruck entstehen ließ, es war auch die Art und Weise, wie sie zuhörten, wie sie gnadenhalber ein paar Augenblicke ihre Gedanken innehielten, um am Ende des Gesprächs sofort wieder in sich zu versinken. Sie schienen immer mit etwas unendlich Wichtigem beschäftigt zu sein. Jimi Hendrix, Janis Joplin oder Jim Morrison kannten sie natürlich nicht. Und würden sie, wenn sie erst wüssten, wer die waren, auch gar nicht kennen wollen. Die wären für Sie wahrscheinlich so etwas wie die ersten Boten des herannahenden Untergangs des Abendlandes gewesen. Über der Ledercouch im Wohnzimmer hing eine Landschaft, die vom geschnitzten, goldverzierten Bilderrahmen in ein Rechteck gepresst worden zu sein schien, und Natur als etwas Konsumierbares präsentierte, über das man verfügen konnte.

 

Natur. Mir fällt nicht ein, warum gerade Spitsbergen. Ich glaube, es war die Landschaft um Spitsbergen, und die Häuser, die sich wie verliebt an den Hang am Meer lehnten, was mich diesen Ort als Reiseziel jenes Sommers auswählen ließ. Oder war mein Vater im 2. Weltkrieg dort stationiert? Spitsbergen. Oder war es die Nähe zu Grönland? Andererseits habe ich damals einfach nach Intuition gehandelt. In Wirklichkeit war es mir nämlich egal, wo ich ankommen würde. Ich glaubte sowieso nicht an ein Ankommen im Sinn von: Da bin ich jetzt. Als geflügeltes Wort aber hat „Spitsbergen" Einzug gehalten in den Wortschatz vieler meiner Freunde und Bekannten von damals. „Forstå ikke spitsbergen", gebrauchen sie häufig im Gespräch. Auf Deutsch heißt das so viel wie: „Ich verstehe nur Bahnhof."

Außer dem schmalen Reisebudget hatte ich noch eine Umhängetasche bei mir, in der neben dem Geldbörsel so überlebenswichtige Gegenstände wie ein Messer, eine Gabel, ein Löffel, ein Nähzeug, der Reisepass, ein Buch, eine Taschenlampe, Tabak, Zündhölzer, Landkarten Platz fanden. An die Umhängetasche hatte ich mir zwei Riemen genäht, an denen ich den gerollten Schlafsack, zwei große dicke Plastiksäcke und einen Regenschirm befestigte. Das war es. Das genügte. Mich auf der Brücke einmal umzudrehen, den am Wohnzimmerfenster mir mit ernsten Mienen nachblickenden Eltern zuzuwinken, mich und die Schuhe in die Hand nehmen. Das erschien mir schon damals als die größtmögliche Form von Freiheit.

In zwei Tagen erreichte ich Hamburg, wo ich mir die Nacht auf der Reeperbahn um die Ohren schlug. Ich war eher überall nur Zaungast. Weder im Grünspan, der legendären Disco, noch in der „Ritze", noch in einem anderen Lokal kam irgendjemand auf die Idee, von mir Eintritt verlangen zu wollen, noch wollte mir jemand ein Getränk andrehen. Ich hing dort herum, bis ich das Gefühl hatte, alles gesehen zu haben, dann verließ ich die Etablissements wieder. Erleben hieß damals für mich, alles mit den Augen, den Ohren, den Sinnen wahrzunehmen. Der Körper beteiligte sich nur insofern, als er das Transportmittel für die Aufzeichnungsgeräte war. Etwa um drei Uhr morgens – ich schlenderte durch die Seitenstraßen beim Hafen – entdeckte ich eine winzige Kneipe, die durch ein Schild als FOLKCLUB gekennzeichnet war. Ich stieg die Stufen hoch und betrat den Laden. Ein langhaariger Gitarrist spielte grade irgendeine Nummer von Bob Dylan auf einer winzigen Holzbühne, während die übrigen Gäste – typische Hamburger in Lederjacken, Cowboystiefeln und mit ebenso langen Mähnen und Bärten - an der Bar lümmelten, Bier und Korn tranken und sich nicht darum scherten, was der Musiker gerade spielte. Ich fand das ungeheuerlich und setzte mich demonstrativ an einen Tisch direkt vor der Bühne. Er spielte nicht mal so schlecht. Ich hatte auch das Gefühl, dass er jetzt ganz speziell mir zeigen wollte, was er alles drauf hatte. Jedenfalls stellte der Kellner nach wenigen Minuten ein Bier vor mich auf den Holztisch mit der Bemerkung, das geschehe auf Anweisung des Musikers. Ich prostete ihm zu, er hob nur leicht den Kopf, was so viel hieß wie: „Schon gut, Alter. Freut mich, dass dir meine Musik gefällt." Irgendwann legte er die Gitarre auf seinen Sessel, und verschwand hinter einer Seitentüre, wo sich wohl so etwas wie ein zur Garderobe umfunktioniertes Getränkelager befand. Jedenfalls schleppte der Barkeeper immer von dort die vollen Bierkisten hinter die Theke. Nach einiger Zeit kam der Typ wieder mit einem rauchenden Ding in der Hand, das mehr einer Tüte als einer Zigarette ähnelte und reichte es mir rüber. „Siro Siro aus Marocco", bemerkte er. Ich nickte und nahm einen Zug, der mich binnen Zehntelsekunden ungefähr fünf Zentimeter über dem Boden schweben ließ. Ich hatte plötzlich Lust, auch Gitarre zu spielen. Ich hatte zu Hause auch eine, mit der ich mich zu meinen selbst geschriebenen Protestliedern begleitete. G-D-F waren die Akkorde, mit denen ich fast jedes meiner Lieder begleitete, und von denen ich in den Zwischenstrophen auf A-Moll und C wechselte. Ich fragte ihn, ob er mir die Gitarre borgen würde und ich ein paar eigene Lieder spielen dürfe. Er warf einen Blick zum Typ hinter der Theke, der nickte. Damit war alles klar. Ziemlich high, aber dafür mit umso mehr Überzeugung betrat ich die Bühne und begann zu singen. Und siehe da: Plötzlich kam Leben und Aufmerksamkeit in die Bude. War es mein steirischer Dialekt, oder meine Unverfrorenheit, oder beides zusammen, das die Gäste begeisterte? Ich weiß es nicht. Jedenfalls bekam ich Riesenapplaus und ein Krügel Bier und einen dampfenden norddeutschen Eintopf mit Würstchen auf den Tisch, als ich nach ungefähr fünf Liedern aufhörte, weil ich so stoned war, dass ich echt nicht mehr wusste, ob das ein Blumenstrauß oder eine Gitarre war, das ich da in der Hand hielt. „Du bist heute mein Gast", sagte der Barkeeper und verzog sich wieder hinter die Theke. Auch der Musiker – ich glaube, er hieß Bernd – haute bald darauf ab. Ich blieb natürlich hängen und schlief schließlich selig und rundum zufrieden mit der Welt zusammengerollt auf der Holzbank ein.

 

 

 

Fortsetzung in der nächsten Ausgabe


Ernst Marianne Binder geboren 1953 in Mostar, Steinmetz, Fensterputzer, Zeitungsausträger, Kellner, Olivenbauer, Autor, Musiker, Regisseur, seit 1987 Leitung des forum stadtpark theater / dramagraz

geboren 1953 in Mostar, Steinmetz, Fensterputzer, Zeitungsausträger, Kellner, Olivenbauer, Autor, Musiker, Regisseur, seit 1987 Leitung des forum stadtpark theater / dramagraz
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