Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
"Es ist ein schöner Slum, ich lebe gerne hier"
Mittwoch, 12. Dezember 2007
Von Michael Schaller

 

Oktober 2007. Dreharbeiten für die TV-Dokumentation „Menschenrechtsstädte dieser Welt" führen uns nach Korogocho, den drittgrößten Slum von Nairobi, der Hauptstadt Kenias. Koch, wie die Abkürzung für die „Ansammlung von Müll" lautet, ist eine lebendige, dicht bevölkerte Stadt. Auf rund einem Quadratkilometer – ungefähr der Fläche des Grazer Bezirkes Innere Stadt, leben tausende Menschen. Da es keine Volkszählung gibt, gehen die Angaben weit auseinander, realistische Zahlen liegen bei rund 300.000 Personen. Eine schmale Straße durchschneidet den Slum, links und rechts sind armselige Hütten und Verkaufsstände, Menschenmassen ziehen dahin: Kinder auf dem Weg zur Schule, Männer und Frauen, die zur Arbeit gehen, Vertreter von Kirchen, Religionsgemeinschaften und Sekten in ihren bunten Kleidern.

Das Leben in Korogocho pulsiert, die Eindrücke sind für einen weißen Europäer zwiespältig. Aufgrund der Hautfarbe fühlt man sich fremd - ähnlich müssen wohl die Gefühle eines Schwarzafrikaners sein, der in Graz das erste Mal versucht, das Megaphon zu verkaufen. Zahlen zu den Lebensbedingungen sind ernüchternd und erschreckend. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von weniger als US-$ 1 pro Tag, gilt also als absolut arm. Die Hütten sind großteils aus Lehm mit Wellblechdach, stehen illegal auf staatlichem Grund und könnten abgerissen und dem Erdboden gleich gemacht werden. Fließwasser ist nicht vorhanden, auch keine Kanalisation. Im ganzen Slum gibt es zehn „water points", große schwarze Tanks, bei denen sich die Bewohner gegen Bezahlung Wasser holen. 2-3 Eurocent kostet das Befüllen eines 20 Liter-Kanisters, ebenso viel ist für die Toilette zu bezahlen. Beträge, die einen Europäer nicht in Verlegenheit bringen - aber ein Problem sind, wenn man kein Geld hat. Der Ausweg sind für viele die so genannten „flying toilets", Plastiksäcke, in die die Notdurft verrichtet wird und die dann auf die Straße geworfen werden. Die Straßengräben sind voll mit Müll und die Auswirkungen der Zivilisation spürt man auf Schritt und Tritt. Rauch- und Duftschwaden der nahen Mülldeponie ziehen immer wieder über Korogocho und setzen sich in Kleidung und Lunge fest.

 

 

„Es ist ein schöner Slum, ich lebe gerne hier". Diese Aussage hören wir immer wieder und sie verwundert uns. Es ist die Aussage von Menschen, die auf der Suche nach Arbeit vom Land in die Stadt gekommen sind oder in Koch oder einem der anderen Slums von Nairobi geboren wurden. Für manche ist Koch nur eine Zwischenstation, bis sie Arbeit und einen anderen Ort zum Wohnen gefunden haben, für viele ist es aber ihre Heimat geworden. Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit würde man als Europäer erwarten, tatsächlich treffen wir aber viele Menschen, die ihre Situation verbessern wollen, die um ein Mindestmaß an Menschenwürde kämpfen. Seit Anfang 2007 ist diese Engagement noch stärker gebündelt und hat einen Namen: Human Rights City - Korogocho ist wie Graz eine von weltweit rund zwei Dutzend Menschenrechtsstädten.

 

 

„Human rights are the banks of the river in which life can flow freely. Thank you for being a strong bank, a Human Rights City!" (Menschenrechte sind wie Uferböschungen, zwischen denen das Leben frei fließen kann. Danke, dass Sie als Menschenrechtsstadt solch eine starke Uferböschung sind!) Mit diesen Worten trug sich Shulamith Koenig, Initiatorin der UNO Dekade für Menschenrechtsbildung und „Erfinderin" der Menschenrechtsstadt-Idee am 30. Oktober 2007 in das Goldene Buch der Stadt Graz ein. So unterschiedlich die Rahmenbedingungen sind, so ist Korogocho wie Graz und den anderen Menschenrechtsstädten doch eines gemeinsam: das aufrechte Bemühen um die Achtung der Menschenwürde und die Einhaltung der bald 60 Jahre bestehenden UNO Menschenrechtserklärung. Graz ist seit dem einstimmigen Gemeinderatsbeschluss im Februar 2001 die erste und bisher einzige europäische Menschenrechtsstadt, Korogocho ist seit knapp einem Jahr eine Menschenrechtsstadt.

 

 

Ein junges, engagiertes Team um Rozy Nyawira und Jared Awatt kämpft darum, die alltäglichen Probleme in Koch anzugehen. Sie stützen sich dabei auf ein Komitee, in dem analog zum Grazer Menschenrechtsbeirat die wichtigsten Organisationen von Koch versammelt sind. Es trifft sich monatlich, Projekte werden koordiniert und gemeinsam realisiert. Die Aufgaben scheinen unüberwindlich zu sein, die drängendsten werden angegangen:

• Frauen allen Alters sind von Vergewaltigungen betroffen, selbst Kleinkinder zählten zu den Opfern. Mit einer Aufklärungskampagne wird gegengesteuert. Für Mädchen und Frauen gibt es Selbstverteidigungskurse, Burschen lernen im Rollenspiel den Umgang mit dem anderen Geschlecht. „No means no" (das Nein einer Frau ist zu respektieren) lautet ein Prinzip, aber auch die Erwartungen der Frauen werden artikuliert: „Frauen möchten Gentlemen". Gemeinsam mit anderen Maßnahmen hat dies dazu geführt, dass die Anzahl der Vergewaltigungen zurückgegangen ist.

• Mit Frauen der katholischen Pfarre werden AIDS-Kranke besucht, Medikamente vorbei gebracht und Beistand geleistet. Bei Infektionsraten von bis zu 40%, wie in einer Erhebung vor wenigen Monaten festgestellt wurde, ist dies eine Aufgabe, für die es wohl so schnell kein Ende geben wird.

• Eine Gruppe von Jugendlichen reinigt wöchentlich die Straßengräben mit den Händen und einfachen Werkzeugen vom gröbsten Mist. Obwohl die Slumbewohner Steuern zahlen, gibt es weder Straßenreinigung noch Müllabfuhr.

• Zu den gravierendsten Problemen zählt die fehlende Gesundheitsversorgung. Hier kämpft das Team der Menschenrechtsstadt um die Fertigstellung eines Krankenhauses, dessen Bau vor 10 Jahren eingestellt wurde.

 

 

Probleme ansprechen, den Sprachlosen eine Stimme geben, das ist das Ziel der seit zehn Jahren monatlich erscheinenden Slumzeitung Korogocho Mirror. Missstände, politische Verflechtungen und Skandale werden aufgezeigt und das aktuelle Leben kommentiert. Dieses Engagement hat seinen Preis: Herausgeber und Chefredakteur werden bedroht und so findet das Interview mit ihnen nicht wie vorgesehen im Gemeindezentrum, sondern in einer Privatwohnung statt - zu deutlich waren die Drohungen und der Aufmarsch der Anhänger eines Lokalpolitikers.

 

 

Edutainment, d.h. den HörerInnen Bildung in unterhaltsamer Form näher zu bringen, will KochFM, das erste Slumradio Afrikas. Seit eineinhalb Jahren strahlt KochFM aus einem knallig roten Container ein Programm für Jung und Alt aus und erreicht damit bis zu 500.000 Menschen rund um die Uhr. Zu den Inhalten zählen Sport, Religion, politische Bildung, Bildungsprogramme für Kinder, Frauen und Kleinunternehmer, vor allem aber Menschenrechte.

Etwas länger zurück liegt die Wahl der ersten Miss Koch, der ersten Schönheitskönigin aus dem Slum. Dieser Schönheitswettbewerb geht in der Zwischenzeit über die anfängliche Jugendinitiative weit hinaus: es gibt Jugendprogramme, einen Gemeinde-Kulturwettbewerb und Fundraising-Events, mit denen Geld für Bildungsprogramme gesammelt wird. Die Gewinnerinnen erhalten Stipendien und können ihre Schule abschließen.

 

 

Die Bilanz nach einer Woche Dreharbeiten im Slum? Die Lebensbedingungen sind ernüchternd und teilweise weit von dem entfernt, was man im 21. Jahrhundert als menschenwürdig ansieht. Die Initiativen der Basisorganisationen sind beeindruckend. Sie zielen auf die Lösung oder zumindest Linderung der gravierendsten Probleme ab und sehen im Konzept der Menschenrechtsstadt einen Weg, die Lebenssituation durch die Einbindung der Bevölkerung zu verbessern. Und es stellt sich die Frage, ob nicht auch wir in Graz, der ersten Menschenrechtsstadt Europas, von Korogocho, der bisher jüngsten Menschenrechtsstadt in Afrika, etwas lernen könnten.

 

 

Hinweis: Der ORF strahlt „Graz – Stadt der Menschenrechte" als ersten Teil der zweiteiligen Dokumentation „Menschenrechtsstädte dieser Welt" am Sonntag, 9. Dezember 2007 um 18.25 Uhr als Österreichbild am Sonntag in ORF 2 österreichweit aus, auf 3sat wird die Sendung am Sonntag, 13. Jänner 2008 um 18.30 Uhr wiederholt.

 

Weitere Informationen zu Korogocho und zum Filmprojekt „Menschenrechtsstädte dieser Welt" gibt es auf www.menschenrechtsstadt.at


Dr. Michael Schaller ist Unternehmensberater mit den Schwerpunkten Nachhaltigkeit, Umwelt und Entwicklungszusammenarbeit. Seit mehr als 20 Jahren engagiert er sich für Entwicklungspolitik und Menschenrechte, zur Zeit realisiert er mit dem ORF Landesstudio Steiermark das von ihm initiierte Filmprojekte „Menschenrechtsstadt".

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