Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Gegen den Mythos von den Überzeitlichkeit des Marktes.
Donnerstag, 18. Oktober 2007
Wolfgang Reinhard, Justin Stagl (Hrsg.): Menschen und Märkte. Studien zur historischen Wirtschaftsanthropologie. Wien: Böhlau 2007. 502 Seiten, 59,- Euro

Apologeten der Marktwirtschaft in ihrer aktuellen kapitalistischen – vor gar nicht so langer Zeit hieß es: spätkapitalistischen – Ausformung sind ungläubig bis empört, wenn sie damit konfrontiert werden, dass der Markt keine überhistorische Kategorie ist.
Die Meinung, zumindest seit der neolithischen Revolution seien die Repräsentanten der Gattung homo sapiens damit beschäftigt gewesen, sich gegenseitig auf Märkten das Bärenfell über die Ohren zu ziehen, dürfte ja inzwischen von breiten Mehrheiten auch in akademischen Kreisen geteilt werden. Auf einer Arbeitstagung des Instituts für historische Anthropologie im vergangenen Jahr gingen ExpertInnen genau dieser Frage nach: Wie gestalteten sich Wirtschaftsverhalten, Wirtschaftsethik und wirtschaftlicher Wandel zu anderen Zeiten und an anderen Orten? Die Ergebnisse vermögen den Apologeten des freien Marktes zumindest eines entgegen zu halten: In der Natur des Menschen liegt eine Wirtschaftsform, die ökonomische Rationalität nur a posteriori über irgendwelche „unsichtbaren Hände" herstellt, sicher nicht. Ganz zentral ist in diesem Zusammenhang der Beitrag des Wirtschaftshistorikers Werner Plumpe, der nachweist, dass die Vorstellung vom homo oeconomicus als „eigennutzorientiertem Wirtschaftsmenschen" selbst erst mit der Entstehung des Kapitalismus ab dem 16. Jahrhundert das Licht der Welt erblickt. Der Soziologe Axel T. Paul leitet aus der Geschichte des Geldes ab, dass die neoklassische Tauschmitteltheorie zu kurz greift – als pures Tauschmittel wäre Geld überflüssig; mit Keynes postuliert er Geld als ein Derivat des Kredits, das zur Erfüllung seiner Funktion auch Vertrauen benötigt – eine Kategorie, die eindeutig über jene des Marktes hinausgeht. Claus Wilcke weist in seinem Beitrag über Markt und Arbeit im Alten Orient eine Vermischung vom Markt- und redistributiver Wirtschaft im alten Sumer des Endes des 3. Jahrtausends vor Christus nach; Egon Flaigs Artikel „Mit Kapitalismus keine antike Stadtkultur" beschreibt den Euergetismus im alten Griechenland: Nicht etwa erwartete materielle Profite, sondern gesellschaftliche Ehrung oder (im Falle des Zuwiderhandelns) Ächtung waren das Motiv der Investititionen, die von den Honoratioren der Polis für das Gemeinwesen getätigt wurden. Der Beitrag von Gerold Blümle und Nils Goldschmidt trägt den programmatischen Titel „Die historische Bedingtheit ökonomischer Theorien und deren kultureller Gehalt". Ihre Feststellung: „Dass die moderne Wirtschaftswissenschaft als ungeschichtliche Theorie konzipiert ist, lässt sich systematisch erklären, bezieht sie doch ihren methodologischen Status aus einer aprioristischen Struktur" führt sie zur Erkenntnis, „dass lediglich ein geistesgeschichtlicher Zugang zur Dogmengeschichte es erlaubt, die historische Bedingtheit und Vermittlung ökonomischer Theorien in ihrer ganzen Breite auszuloten" – pure Häresie in einer Phase, wo Vulgärökonomismus zum universitär gelehrten Fach geworden ist.
Ebenfalls spannend zu lesen: Die Beiträge von Norbert Schindler über „Ländliche Schacherwirtschaft am Ende des 18. Jahrhunderts" – worin der Nachweis geführt wird, dass persönliche Beziehungen auch im Wirtschaftsleben über die Pseudo-Rationalität des Marktes triumphieren – und jener von Raimund T. Kolb über den organisierten Bettel im Peking des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der zeigt, dass ökonomisches Handeln auch in völlig ritualisierten und gleichzeitig marktabgewandten Formen ablaufen kann – und ihm dennoch Rationalität nicht abzusprechen ist. cs

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