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Krise der Arbeit ist Krise der Gesellschaft |
Donnerstag, 11. Oktober 2007 | |
Am 1. Oktober sprach der deutsche Sozialphilosoph Oskar Negt auf Einladung des ÖGB-Bildungsrates in Graz vor steirischen Betriebs-rätInnen. Von welcher Arbeit wir wohl sprechen sollten, wenn diese eine große Anzahl der Beschäftigten nicht mehr nähren kann – das Syndrom „working poor“, in den USA bereits ein pandemisches Ausmaß erreichend, breitet sich auch in Europa rasch aus. Von Hannah Ahrendts These ausgehend, dass, wenn einer Gesellschaft die Arbeit ausgeht, sie diese Krise nicht mit reinen Arbeitsbegriffen bewältigen kann, ist für Negt die Krise der Arbeit eingebettet in die Krise des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs in den neokapitalistisch organisierten Sozietäten überhaupt. Die Krise betrifft also neben der existenzsichernden Arbeit genauso Politik, Staat, Familie, Wertesystem und kulturelle Zusammenhänge. Der Verlust der „alten Bezüglichkeiten“ lässt selbst neoliberale Denker wie Ralf Dahrendorf ein „Erschrecken über die Haltlosigkeit in der Gesellschaft“ empfinden. Wenn der Markt alle gesellschaftlichen Prozesse steuert, kann aber dieses System nicht dauerhaft stabil bleiben, sagt Negt. Helmut Schmidts Credo „Die Gewinne von heute sind die Arbeitslosen von morgen“ ist denn auch so etwas wie ein nahezu unwidersprochener Stehsatz zeitgenössischer Kapitalismuskritik geworden. Das System ist also mittelfristig auf „Selbstzerlegung“ ausgerichtet. Negt nennt drei derzeit begangene, falsche Wege der Krisenbewältigung: 1. Polarisierung beim Setzen von Rahmenbedingungen: ausschließliches Fördern der Zentralräume in der Hoffnung, diese würden in Folge selbsttätig strukturbildend in die Peripherie wirken. Die Möglichkeit hat sich etwa anhand der Bandlieu-Unruhen in Frankreich als trügerisch herausgestellt. 2. Polarisierung der Bildung: Die derzeitige Bildungspolitik tendiert dazu, über Eliteschulen, Eliteuniversitäten die Privilegierten noch einmal zu privilegieren. Gleichzeitig wird das System in der Fläche geschwächt und ausgedünnt. Damit gehen Potenziale verloren, deren Ausschöpfung im System selbst immer wieder eingemahnt wird. 3. Flexibilität erhöhen: Der Mangel, den dieses Begriffspaar (mit zurzeit über 40.000 Einträgen bei Google) ausdrücken will, wird gerne als Hauptursache der Arbeitsmarktkrise herangezogen. Richard Sennetts auf Deutsch so harmlos anmutender Buchtitel „Der flexible Mensch“ lautet im amerikanischen Original „The corrosion of character“. Der seines Charakters beraubte, herumgeschobene, leistungsorientierte Mitläufer ist es ja gerade nicht, so Negt, den die gegenwärtige Form des Wirtschaftens benötigt. Auch in dieser Hinsicht können die Bildungssysteme neoliberalen Zuschnitts ihrem Auftrag nicht nachkommen, die geeigneten „Persönlichkeiten“ zur Stabilisierung des Systems hervorzubringen. Wie können also die selbst krisengeschüttelten Gewerkschaften in diese Krisen eingreifen, um damit gleichzeitig wieder Tritt im „political system“ zu fassen? Die in Vorschläge verpackte Kritik des ehemaligen Habermas-Mitarbeiters Negt fällt hart und deutlich aus. Erst einmal müssen die Interessenvertretungen aus ihrer Agonie der Phantasielosigkeit herauskommen. Die Gebrochenheit der Ich-Instanzen des unter neokapitalistischer Herrschaft lebenden Individuums muss Thema in den gewerkschaftlich organisierten Bildungsangeboten werden. Durch Verzicht auf die Wahrnehmung ihres kulturellen Mandats, durch (freiwillige) Einschränkung ihres möglichen Aktionsradius schmälert die Gewerkschaft ihr Gewicht auch in tarifpolitischen Auseinandersetzungen. Negt zitiert hier Max Weber, der wiederum Bismarck zitiert: „Nichts in der Politik ist realisiert worden, das nicht über die Politik hinausgegangen wäre.“ Jedenfalls läge es in den Händen der Gewerkschaft darzustellen, dass keine Instanz, keine gesellschaftliche Ebene allein die krisenhafte Entwicklung bremsen bzw. neutralisieren kann. Ebenso wie krankmachende Lebensbedingungen (zu denen krankmachende Arbeitsbedingungen gehören) individuell zu behandeln sind, will diese Behandlung zur Heilung führen. Dieter Kordik
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