Mit dem Weltbank-Ökonomen Branko Milanovic war Ende September einer der führenden Ungleichheitsforscher in der Neuen Galerie Graz zu Gast: Die Ermöglichung von Migrationsbewegungen ist seiner Ansicht nach einer der besten Wege, um den Graben zwischen Nord und Süd zu verkleinern.
Branko Milanovic ist aus verschiedenen Gründen interessant. Beispielsweise deshalb, weil er die Ungleichheit, die zwischen den Bewohnern dieses Planeten herrscht, berechenbar gemacht hat. Was keine Selbstverständlichkeit ist: In der Regel basieren Einkommensvergleiche auf Durchschnittseinkommen, die für einen Staat errechnet werden. Es wird also festgestellt, dass das durchschnittliche Einkommen im Land 1 den Betrag x, im Land 2 den Betrag y ausmacht. Womit freilich unzählige feine Unterschiede eingeebnet werden. Denn mag sich z. B. das Durchschnittseinkommen in Land 2 auch dem des Landes 1 angenähert haben, so kann das dennoch bedeuten, dass eine Masse von Haushalten auf der Einkommensskala abgestiegen ist: Möglicherweise ist der Anstieg des Durchschnittseinkommens ja durch gewaltige Gehaltszuwächse einer kleinen reichen Schicht zustande gekommen, weshalb das steigende Durchschnittseinkommen ein völlig verzerrtes Bild von Land 2 liefert.
Sollen folglich solche Verzerrungen verhindert werden, müssen die tatsächlichen Einkommen der Menschen respektive die Haushaltseinkommen verglichen werden – was aber ein Datenproblem aufwirft. Schließlich ist es alles andere als einfach, an singuläre Einkommenszahlen heranzukommen. Genau das ist aber Milanovic gelungen, so dass er die Haushaltszahlen von über 100 Ländern miteinander vergleichen konnte. Und nun ein ausdifferenziertes Bild über die Ungleichheit der Welt vorlegen kann.
Widersprüche durch traditionellen Vergleich. Demnach ist es gar nicht so leicht, klare Trends oder Entwicklungen auszumachen. So haben etwa buchstäblich Massen von Chinesen und Indern ihren Einkommensabstand zu den reichen Bewohnern der Industrienationen verringert. Gleichzeitig sind aber die Gräben innerhalb dieser Länder weit größer geworden; konkret jene zwischen Stadt- und Landbevölkerung. Was sich ebenso für die USA oder Russland sagen lässt, wo die Einkommensunterschiede deutlich am Zunehmen sind. Ergänzt man diesen Blick auf die Ungleichheit zwischen Bürgerinnen und Bürgern durch den traditionellen Vergleich der Durchschnittseinkommen, werden die Widersprüche noch größer: Hier gibt es nämlich einen klaren Trend, hat die Ungleichheit zwischen den Ländern in den vergangenen 20 Jahren doch deutlich zugenommen. Beispielsweise hatten 1961 noch 22 nicht-westliche Staaten die Chance, in den – westlichen – „Klub der Reichen“ aufzusteigen; darunter auch einige afrikanische Staaten wie Ghana oder der Senegal. Knapp 40 Jahre später war keiner der afrikanischen Aufstiegskandidaten mehr übrig geblieben, schlimmer noch: Sie waren zu Dritt- oder Viertwelt-Ländern abgestiegen.
Neue Aspekte in Graz. „Worlds Apart. Measuring Global Inequality“ heißt das Buch, in dem Milanovic all das darstellt. Es bildete auch die Basis des Vortrags, den Milanovic in der Neuen Galerie Graz hielt, und zwar im Zuge des „UN/FAIR TRADE“-Projekts (konkret: UN/FAIR TRADE. Die Kunst der Gerechtigkeit), das – bestehend aus Ausstellung, Katalogbuch und Netzapplikation – der diesjährige Beitrag der Neuen Galerie zum „steirischen herbst“ ist. Ein wenig anders als in „Worlds Apart“ präsentierte der Ökonom in Graz jedoch weniger Zahlenmaterial, sondern konzentrierte sich stattdessen auf die Frage, wie sich die aktuelle Ungleichheit auf der Welt reduzieren lässt. Wobei er zu Antworten fand, die ein weiterer Grund sind, Milanovic äußerst interessant zu finden. Denn normalerweise sind die Maßnahmen, die zur Reduktion von Ungleichheit vorgeschlagen werden, politischer oder ökonomischer Natur. Anders formuliert: Meist wird entweder vorgeschlagen, dass die wirtschaftliche Entwicklung von Drittweltländern vorangetrieben werden muss (z. B. durch mehr oder umgekehrt weniger Markt) oder dass der Staat eine stärkere Rolle spielen muss (als Meta-Investor oder zumindest als Garant eines institutionellen Rahmens, der wirtschaftliche Entwicklung garantiert). Nicht so bei Milanovic: Auch wenn er selbstverständlich eine veränderte Zollpolitik befürwortet (schwach entwickelte Wirtschaften sollen – aller WTO-Politik zum Trotz – etwa die Möglichkeit haben, ihre Betriebe mit Handelsbeschränkungen vor Weltkonzernen zu schützen) oder eine westliche Politik fordert, die z. B. die europäischen Agrarsubventionen senkt – das effektivste Mittel zur Senkung der Ungleichheit auf diesem Planeten wäre seiner Ansicht nach die Ermöglichung von starken Migrationsbewegungen. Was aber – bei allen politischen oder ökonomischen Maßnahmen, die mit Migration verbunden sind – letztlich eine Art „Raum-Strategie“ ist, mit der gegen Ungleichheit vorgegangen werden soll. Das erscheint neu, überraschend, aber auch berechtigt.
Die „Raum-Strategie“. Laut Milanovic ist es Faktum, dass die Höhe des Einkommens heute nicht mehr davon abhängt, welcher gesellschaftlichen Klasse man beispielsweise angehört. Was zählt und bestimmend wirkt, ist vielmehr der Ort, an dem man sich befindet: Wie viel man verdient, hängt zu 60 (!) Prozent von der „Location“ ab, an der man sich aufhält. Wie es auch der Ort ist, der entscheidend dazu beiträgt, ob das Einkommen steigt oder sinkt. Denn unabhängig davon, in welcher Klasse man sich befindet (oder ob man die Klassenzugehörigkeit gerade verändert hat), steigt man auf der weltweiten Einkommensleiter um zwei Prozent nach oben, wenn das Durchschnittseinkommen in dem Land, in dem man sich gerade befindet, um zehn Prozent ansteigt. Wer sich finanziell verändern möchte, sollte folglich vor allem bestrebt sein, seinen Ort zu verändern – was eben für Migration als Strategie der Ungleichheitsbekämpfung spricht. Natürlich weiß Milanovic um die Grenzen dieses Ansatzes, speziell in Zeiten, in denen etwa Europa bestrebt ist, zur Festung zu werden. Dennoch erscheint es notwendig, daran zu erinnern, dass es letztlich eine „Raum-Strategie“ ist, die am erfolgreichsten wäre, wenn es um das Thema Reduktion von Ungleichheit geht. Die zudem weit weniger absurd und undenkbar ist, als es auf den ersten Blick hin erscheinen mag. Schließlich war in der Globalisierungswelle um 1900 die Mobilität der Bürgerinnen und Bürger durchaus in hohem Maße gegeben, wie eine US-Immigrationsrate von 10,4 Prozent für die Jahre 1910 bis 1913 deutlich macht (um das Jahr 2000 betrug diese Rate lediglich noch 2,6 Prozent). Ungewohnt ist diese „BürgerInnen-Mobilität“ mittlerweile wohl deshalb, weil heute primär Waren und Geld zu mobilen Größen geworden sind, wie ebenfalls ein Vergleich mit den Jahren 1910 bis 1913 deutlich macht: Damals betrug der Anteil von Exporten im Rahmen der Generierung des Welteinkommens neun Prozent, Ende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts hatte er hingegen 22,3 Prozent erreicht.
Europäer müssen sich umgewöhnen. Zweifellos: Die Welt war vor 100 Jahren eine andere und die Gesellschaften wie auch die Bevölkerungsdichte haben sich seit damals drastisch verändert. Nichtsdestotrotz müssen Raum-Dynamiken und -Bewegungen in den Kampf gegen Ungleichheit miteinbezogen werden. Auch weil sie, wie Milanovic in einem Essay einmal feststellte, sonst von selbst erfolgen werden: Die Europäer, so Milanovic, werden sich daran gewöhnen müssen, dass mit zunehmender Dauer des 21. Jahrhunderts rund 50 Prozent ihrer Mitbewohner eine andere Hautfarbe als sie haben werden. Was mehr als deutlich macht, wie eng Ungleichheit und Migration ineinander verwoben sind.
Christian Eigner und Michaela Ritter, Büro für PerspektivenManagement
» 2 Kommentare
1"Es sollte nicht (allein) darum gehen, ge" am Donnerstag, 1. Januar 1970 00:33
anzudenken, um dem Streben nach mehr Gleichheit entgegen zu kommen. Dabei handelt es sich um eine RE-AKTION, die ich als sesshafter Mensch nicht unterstütze. Vielmehr müssten wir den Ursachen von wirtschaftlicher Ungleichheit durch die Erarbeitung von und in weiterer Folge durch die Teilnahme an einem konstruktiven, gerechtigkeitsfördernden, von Raum und Zeit unabhängigen Wirtschaftsmodell (Erhaltungs-)Energie entziehen. Nur damit übernehmen wir als Handelnde die actio, die ich als notwendig erachte, um mehr Handlungs-Freiheit für jede/n Einzelne/n zu erlangen/erarbeiten.
2"Text-Ergänzung zu nachfolgendem Beitrag" am Donnerstag, 1. Januar 1970 00:33
... gegen die "Festung Europa"
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