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Unter Eisbären und ForscherInnen: Arbeiten und studieren in der nördlichsten Stadt der Welt
Archiv - Eine Welt
Donnerstag, 9. Februar 2006
Image„Haaallo! Ja, genau Sie da vorne! Hier dürfen Sie nicht weitergehen!" Zum nahezu fünfzigsten Mal erkläre ich heute einem deutschen Kreuzfahrttouristen, wieso er nicht um die Moräne herum bis zum Gletscher spazieren darf: „Da wird das Gelände zu unübersichtlich und es könnte ein Eisbär von der anderen Seite auftauchen!"

Ungläubig schaut mich der ältere Herr an und meint lächelnd: „Ach, das glauben Sie doch nicht wirklich?" Offenbar nimmt er an, dass mein Kollege und ich hier mit den schweren Gewehren, Feldstechern und Signalpistolen nur zur Dekoration herumstehen? Ich kläre ihn auf, dass vor zwei Tagen genau da drüben beim großen Felsen in ca. 500 Metern Entfernung ein Eisbär gesehen worden ist. Soll ich ihm jetzt noch die Geschichte von dem 33-jährigen Österreicher erzählen, der 1977 hier im Magdalenafjord von einem Eisbären getötet und hinaus aufs Packeis verschleppt wurde? Zum Glück steuert der Mann wieder auf das Gebiet zu, das für ihn und seine 400 KreuzfahrtgefährtInnen für einen Nachmittag zur Erkundung des mit angeschwemmten Eisschollen übersäten Kiesstrandes und der Walfängergräber abgesichert wird.

ImageVon der „Terra Nullius" zum Naturpark-Paradies. Ungefähr 60 Kreuzfahrtschiffe schippern jeden Sommer nach Spitzbergen, legen am Hafen der Hauptstadt Longyearbyen an und fahren eventuell noch weiter nach Norden in den gletscherreichen Magdalenafjord. Seit den letzten zehn Jahren boomt der Arktis-Tourismus. Viele Besucher kommen im Winter, um Motorschlitten zu fahren oder, etwas sportlicher, Schiexpeditionen zu unternehmen; im Sommer wird die arktische Wildnis hingegen erwandert und per Schiff erkundet. Neben dem Naturerlebnis zählt, dass man hier im nördlichsten Hallenbad der Welt schwimmen, das nördlichste Museum besuchen, im nördlichsten Supermarkt einkaufen und abends seine nördlichste Pizza essen kann – die leider ebenso norwegisch schmeckt wie das Rentiergulasch.

Longyearbyen ist die nördlichste Stadt der Welt (78° nördliche Breite) und weist angesichts ihrer gerade 1800 EinwohnerInnen eine erstaunliche Infrastruktur auf: Flughafen, Kohlekraftwerk, Verwaltungsapparat, Schule, Kindergarten, Kirche, Supermarkt, Kaffeehäuser, Restaurants, Blumenladen(!), Universität usw. Eine „Urbevölkerung" hat es auf Spitzbergen nie gegeben. Anfang des 20. Jahrhunderts begann der Amerikaner John Munroe Longyear mit seiner Gesellschaft Steinkohle abzubauen, bis 1916 die Norweger den Bergbau übernahmen. Die vorwiegend skandinavischen Arbeiter waren auf engem Raum in Baracken untergebracht, litten unter schlechten Arbeitsbedingungen und „Frauenmangel" im Ort. Fotos, die miteinander tanzende Männer zeigen, belustigen heute die Besucher des kleinen Museums.

ImageSeit dem 16. Jahrhundert beteiligten sich auf Svalbard viele Nationen am Walfang, an der Pelztierjagd, an der Forschung, am Bergbau und am Tourismus. Jahrelang geschahen diese Aktivitäten, ohne dass diese Region zu einem bestimmten Staat gehört hätte – die Inselgruppe Svalbard war ein „Niemandsland" – Terra Nullius, d.h. es gab keine Gesetze oder Vorschriften und keine Gerichte um Dispute zu schlichten. Das funktionierte relativ gut, solange sich die Aktivitäten auf Walfang, Jagd und Forschung beschränkten. Das Land war groß und die Konflikte klein.

Im frühen 20. Jahrhundert war es hauptsächlich der Bergbau, der eine Veränderung herbeiführte. Gestritten wurde um den Besitz von Schürfrechten für bestimmte Gebiete und Gesetze wurden notwendig. Nach vielen Verhandlungen wurde schließlich 1920 der „Svalbard-Vertrag" – bis heute von 41 Staaten – unterschrieben. Norwegen bekam die Souveränität über die Inselgruppe zugesprochen und hat neben der Verwaltung auch die Aufgabe die natürlichen Ressourcen der Insel zu managen. Zum Glück ist auch Naturschutz ein immer stärkeres Thema und seit 1973 wächst die Zahl der Nationalparks und Naturreservate von Svalbard. Wer dem Tourismus eine „intakte Wildnis" vorführen will, muss eben einiges dafür tun.Traum(arbeits)ziel Svalbard. Erst in den 70er Jahren fand eine „Normalisierung" bzw. ein Wandel der sozialen Struktur im Ort statt: Einfamilienhäuser wurden gebaut und die Arbeiter motiviert ihre Familien mitzubringen. Langsam öffnete sich der Ort auch für Besucher und die ersten privaten Unternehmen wurden gegründet. Heute zeichnet sich das „moderne Longyearbyen" durch einen hohen Lebensstandard und eine starke Mobilität der Bevölkerung aus. Im Durchschnitt wohnt man auf Spitzbergen nur vier Jahre lang, spart bei den niedrigen Svalbard-Steuern gutes Geld und kehrt investitionsfreudig aufs Festland zurück.

ImageDa auch Österreich den „Svalbard-Vertrag" unterschrieb, hat man als ÖsterreicherIn das Recht auf Svalbard zu wohnen und zu arbeiten. Ein Traum(arbeits)ziel eröffnete sich somit für mich ausgebildete Umweltsystemwissenschafterin und den Geografen Philipp Schaudy. Spannende zwei Jahre konnten wir so ohne den geringsten bürokratischen Aufwand auf Spitzbergen verbringen, einerseits mit Fortbildungskursen an der Universität und andererseits mit Jobs als FremdenführerIn für Motorschlittentouren, Tageswanderungen und Spitzbergen-Rundfahrten per Schiff.

Modernisierung und Internationalisierung. Neben dem Wachstum des Tourismus und dem Rückgang der Bedeutung des Kohleabbaus spielt die Forschung eine immer wichtigere Rolle. Die norwegische Universität (UNIS) und internationale Forschungsinstitutionen setzen auf arktische Schwerpunkte und Feldforschung vor Ort. Im topmodernen 2000-Quadratmeter-Zubau der Universität entsteht ein neues Forschungszentrum, das erstmals Arktisexperten verschiedenster Institutionen unter ein Dach bringt; der Eröffnung am 26. April 2006 wird sogar das norwegische Königshaus beiwohnen. In Zukunft will man sich verstärkt auf die Atmosphärenforschung, Klimaerwärmung, Gletscherkunde, arktische (Meeres)biologie und Technologie konzentrieren. Da auf Internationalität Wert gelegt wird, eröffnen sich auch für österreichische Universitäten und Forschungsgesellschaften neue Perspektiven der Zusammenarbeit. Für StudentInnen gibt es z.B. die Möglichkeit einer dreijährigen Dissertation mit einem Arbeitsplatz in Longyearbyen – ein Angebot für ausgeglichene Charaktere, denn dreieinhalb Monate stockfinstere Polarnacht kann wohl auch die Mitternachtssonne nicht aufwiegen. Tageslichtlampen, Vitamintabletten und ein weihnachtlicher Urlaub in der Karibik sind sogar für manch eingefleischte(n) SvalbardianerIn Überlebensnotwendigkeiten ...

Valeska Seifert

Hinweis: Am 8. Februar findet im Heimatsaal in Graz, Paulustorgasse 13a, ein Diavortrag von Mag. Philipp Schaudy zum Thema „78° Nord – zwei Jahre Spitzbergen" statt.
(Nachmittagstermin: 17.00 und Abendtermin: 20.00)


Die Inselgruppe Svalbard ist 62.900 km2 groß. Hauptinsel ist Spitzbergen (39.400 km2).
 
Anreise: Flug mit SAS Braathens von Oslo oder Tromsø in die Hauptsiedlung Longyearbyen

Klima: ozeanisch-arktisch, Durchschnittstemperaturen in den kältesten Monaten Februar und März: -13/-14°C, im Juli: + 6°C

Lichtverhältnisse: Mitternachtssonne und permanente Helligkeit von 20. April bis 23. August, im Winter fast vier Monate Polarnacht.

Auskünfte über touristische Aktivitäten: Svalbard Tourism, http://www.svalbard.net

Universität in Longyearbyen: www.unis.no


 

 
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