Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Lamur
Mittwoch, 8. Dezember 2010
von Norbert Prettenthaler

Es war eben wieder nur ein aufmunternder Schlag auf die Schulter, der einen nachdenklich machen sollte – eigentlich seinen Kopf gerade stellte und den eigenen Blick schärfte.
Er lächelte dennoch. Eigentlich hätte er nichts zu lachen gehabt. Trotzdem lag im Maß seiner Abweisung irgendein Glück, für seine offensichtlich andere Sicht den Weg wieder zurück zu gehen.  An der Hauptbrücke war er stehen geblieben, dort wo Grabkerzen stumme Zeugen eines Kahlschlages sind, von eklatanten Fälschungsmustern und Bestechungswirbel unbeeindruckt, das unweit Gebrochene zu bezeugen. Er jedoch setzte nicht dieses wehmütige Gesicht in die Strömung, vielmehr lag er im anderen Fluss, der mit den Lebendigen strömt – so dunkel sein Muttermal aus Nigeria Mitte auch war. Wie ein Flaneur die Zeitung, hielt er in der Rechten sein Urteil, dass ihm auch diesmal nicht von der Post zugestellt wurde, sondern von jenen, die für seine Überwachung zeugen. Das Grün seiner Parka, ungleich ihren Uniformen, trug die Novembercamouflage gleich einem Schal über den Fluss hinaus weiter – Erinnerungsperlen an den letzten Frühling vielleicht. Auch er war am Fluss gesessen, wie andere Flüchtige ebenso, als die Strömung ihren innersten Charakter über das Menschenrecht hinaus für sich behalten hatte; um nicht  gebrochen, geschlagen, gefesselt oder gestaut werden zu müssen. Eine bereits bestehende Schutzrichtlinie rückwärts verfolgend, um gerade eben der bereits erfolgten Renaturierung, das Mäandrierend-Wesenhafte im Sinne seiner Bewegungsfreiheit überhaupt zu belassen.
„Jeder Mensch ist frei in Bewegung“, stand in unsichtbaren Lettern an die Brücke geschrieben. Während ich im Urteil las, lächelte er fast aus Freude, die Stadt Graz endlich zu verlassen, ihr entgegen der Flußrichtung nach all der Zeit den Rücken zu kehren. Und doch sind fünf Jahre für den Asylgerichtshof eine relativ kurze wie zu kurze Zeit. Die Teufelsroller haben ihre eigenste Schärfe und in seinen Augen spiegelte sich diesmal plötzlich alte Angst vor dem geistigen Gift, das er bereits abgekommen hatte und das in den ihn so treffend vorüberhuschenden Blicken dann auch steckte. Er fragte nicht nach dem Anfang und dem Ende, nicht wo der Fluss mündet. Der Fluss direkt unter ihm bäumte sich im Niedrigwasser zu einem stummen Schrei auf, das Integrierte ohne Worte unberücksichtigt  belassen zu haben. Sämtliche Versuche Fuß auf glitschigem Terrain zu fassen, waren ignoriert worden; so als wären die letzten fünf Jahre niemals geschehen. Warum auch diese Zeit unter Wasser gesetzt werden musste, fragte ich mich. Er hielt sein Urteil nun aufrecht, gleich einer Kündigung vor der Brust, als wäre es seine eigenste  Entscheidung gewesen, hierher an diese Brücke zu kommen, um die Unzumutbarkeit seiner Rückreise zu erkennen. Abschiebeflüge sind nach Frontexberichten „sicher“ geworden, habe ich unlängst in die ZEIT gelesen, und dass sich Österreich da besonders hervortut – eine Art Vorflieger, gerade an die afrikanische Westküste. Kalter Wind verspielte die Kondensstreifen und brachte die Kerzen in den Baumkronen zum Schaukeln, während der Nachhall seiner gebrochenen Worte in „unserer Sprache“ bruchstückartig mit einer Solarstraßenbahn weiter zog. Eine dieser Manchaster-Lichtstraßenbahnen nahm ihn mit sich, während das seitenweise Urteil hier an der Brücke liegen blieb, um seine Beschwerde durchzusetzen. Der ganze Widerspruch in seinem Lächeln blieb in Stein gemeißelt an  jener imaginären Staumauer, die gerade vorgab die Stadt zu schützen oder weiter über die Grenzen hinaus zu bringen. Eine Mauer, an die ein Fenster als Fluchtweg gezeichnet, aus dem eine Strickleiter hängt, die in einen südländischen Himmel mündet. Dahinter das Meer – und eine Turbine in der Meerenge von Gibraltar, als bereits realisierte Utopie. Und unbestechlich, wie der alte Baumeister selbst, der weiß die Gezeiten zu nutzen.
Die Menschen strömten so vorweihnachtlich kaufrauschend an mir und meinen Gedanken vorüber, als er  plötzlich hinter der Staßenbahn wieder hervor trat; so als hätte dahinter jemand eine Amnestie ausgesprochen. Er fand dabei keine Worte, schlug sich mit der Hand aufs Herz – so ganz einfach zum Abschied.

Norbert Prettenthaler,
geboren 1965 in Graz, lebt und arbeitet als freier Filmemacher in Graz und Wien. Carl-Mayer-Drehbuchpreis. Schreibt u.a. für „global player“ und KIG!
Filme: Bare droma, Weltforumtheater, Die Andere Universität, Bunter Sand
www.knu.st/air

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