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Hirnleistungstraining überwindet Schwächen und Behinderungen
Mittwoch, 8. Dezember 2010
Veranstaltet von der Fachzeitschrift „Behinderte Menschen“ fand Anfang November der internationale Wissensforum-Kongress zum Thema „das kooperative Gehirn“ in der Fachhochschule Joanneum Eggenberg statt. Ein hochkarätig zusammengestelltes Referententeam bot dem zahlreich erschienenen Publikum ein breites Angebot an Vorträgen und Workshops  für die Weiterentwicklung der Praxis bei unterschiedlichen Anforderungen, sei es ein Training zur Aufmerksamkeitssteigerung, Verhaltensmanagement bei ADHS, berufliche Rehabilitation nach Schädelhirntraumata, Feldenkraistherapie bei Kleinkindern mit Entwicklungsstörungen oder Früherkennung und Prävention von Leserechtschreibschwierigkeiten und Rechenschwächen.
Durch das Programm führte Dr. Peter Rudlof von der Zeitschrift „Behinderte Menschen“. Er formulierte als Zielvorgabe: „Mit unseren Wissensforum-Kongressen wollen wir die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, die mit dem Leben von Menschen mit Behinderung zu tun haben, einem interessierten Fachpublikum vorstellen. Heuer konnten wir namhafte Expertinnen und Experten zum Spannungsfeld Gehirn-Bildung-Beziehung-Behinderung nach Graz bringen.“

Wie homogen sind Durchschnittsmenschen?
Univ. Prof. Dr. André Zimpel, Diplompsychologe und -pädagoge am Institut für Hirnforschung an der Universität Hamburg, beleuchtete die Möglichkeiten, durch gezielte Bildungsmaßnahmen auf die Intelligenzentwicklung einwirken zu können. Denn aktuelle Forschungsergebnisse belegen, dass ein Training des Arbeitsgedächtnisses die Allgemeinintelligenz selbst bei Erwachsenen noch zu erhöhen vermag. Und gerade die Funktionen des vorderen Stirnhirns, das auch den Umfang des Arbeitsgedächtnisses beeinflusst, entwickeln sich beim Menschen am langsamsten, nämlich bis in das 25. Lebensjahr hinein. Die neuronalen Netzwerke des Stirnhirns wachsen vor allem durch Kommunikation und Kooperation mit verschiedenen Bezugspersonen, die das soziale Umfeld bestimmen. Durch die vielfältigen Wechselwirkungen kann die Gehirnentwicklung aber nicht vorhergesagt oder geplant, sehr wohl aber beeinflusst werden.  Zimpel behandelte auch das Problem der Zuschreibung geistiger Behinderung bei Vorliegen einer genetischen Abweichung, z. B. bei Trisomie 21, besser bekannt als „Downsyndrom“. Nicht zwangsläufig müsse ein Mensch mit Trisomie 21 geistig behindert sein, wie mehrere Beispiele beweisen. Gerade der jüngst in einem Kinofilm porträtierte Pablo Pineda, der einen Hochschulabschluss als Lehrer vorzuweisen hat, und  Dr. Francesco Aglio, beide Menschen mit Trisomie 21, sollten diese bisher festgefahrene Zuschreibung erschüttern und natürlich auch fixe Schlussfolgerungen aus Ergebnissen der Pränataldiagnoastik ins Wanken bringen.
Zimpel stellte auch die so genannte „Normalverteilung“ an den Pranger. „Oft sind Extreme dem Normalbereich näher als die Mitte untereinander ähnlich ist“, räumt er mit der Illusion auf, es könne eine homogene Gruppe von „normalen“ Durchschnittsmenschen geben. Denn die Gleichheit in einer Eigenschaft sage noch gar nichts über eine Ähnlichkeit in anderen Bereichen aus. Eine homogene Lerngruppe, die Wunschvorstellung noch immer etlicher Bildungspolitiker, muss aus wissenschaftlicher Sicht als völlig illusorisch eingestuft werden.

Möglichst frühe Förderung aller Kinder.
Dr. Henning Rosenkötter vom sozialpädiatrischen Zentrum Ludwigsburg stellte an den Beginn seiner Ausführungen folgende Erkenntnis: „Man kann wahrnehmen, ohne daraus zu lernen, aber man kann nicht lernen, ohne wahrzunehmen.“ Und auch Lernen aus isolierten Sinneswahrnehmungen komme  nur unter Laborbedingungen vor. Obwohl es sehr genaue Untersuchungsmethoden gäbe, um detailliert einzelne Schwachstellen im Wahrnehmungsspektrum festzustellen, die an beinahe jedem Menschen zu finden sind, sollte sich die Diagnose auf alltagsrelevante Beeinträchtigungen beschränken, die therapiebedürftig sind. Besonders gute Erfahrungen machte Rosenkötter mit vorbeugenden Programmen für eine Gesamtgruppe von Vorschulkindern, die dann in der Grundschulzeit einen weit höheren Lese- und Schreiblernerfolg hatten als Vergleichsgruppen ohne gezielte Vorschulförderung.

Lernförderung durch Hirnleistungstraining ist in jedem Alter sinnvoll.
Sehr eindringlich warnte Mag. Ralph Warnke von MediTECH Electronic nur an Schwächen herumzuüben statt die eventuell dahinter liegenden grundlegenden Wahrnehmungs- und Differenzierungsdefizite zu beachten. Eltern wie Lehrer würden z.B. bei Rechen- oder Leserechtschreibschwierigkeiten genau diese Fertigkeiten trainieren. Das bringe aber – wie man an den Schulerfolgen ablesen kann – wenig bis gar nichts, solange nicht die Ursachen – mangelnde Automatisierung der nötigen Grundfertigkeiten – behoben werde. „Automatisiert ist eine Fertigkeit,  wenn man sie ausführen kann, ohne darüber nachdenken zu müssen und gleichzeitig noch andere Tätigkeiten ausführen kann.“ 99% unserer Alltagshandlungen laufen normalerweise automatisiert ab, von Automatisierungsdefiziten spricht man, wenn die nötigen Grundfertigkeiten nicht gut genug beherrscht werden, sodass komplexere Leistungen nicht erbracht werden können. Wer z.B. die Laute „b“ und „d“ auditiv nicht differenzieren kann, dem hilft noch so intensives Rechtschreibtraining gar nichts. Zuerst müssen diese so genannten „Low-Level-Funktionen“ trainiert werden, dann erst können darauf basierende höhere Leistungen verbessert werden. „Um klassenraumüberlebensfähig zu sein, muss man multitaskingfähig sein, die Grundfunktionen müssen also automatisiert ablaufen“, warb Warnke für eine Therapie, die an den Wurzeln ansetzt und stellte beeindruckende Trainingserfolge durch ein Low-Level-Trainig vor, das vor allem mit Kindern, aber auch mit Erwachsenen durchführbar ist.
Die Zeitschrift „Behinderte Menschen“ ist die anerkannteste einschlägige Fachzeitschrift im deutschsprachigen Raum. Sie erscheint seit über 30 Jahren und widmet sich alle zwei Monate einem bestimmten Fachthema, z.B. „berufliche Rehabilitation“, „inklusive Räume“ etc. Sämtliche Themen der letzten Jahre können unter www.behindertemenschen.at abgefragt werden, wo auch ein Abo oder einzelne Heft bestellt werden können. Eine ausführliche Nachlese zum  diesjährigen Kongress wird im Heft 6/2010 gebracht.

| Gertrud Muckenhuber
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